Der Kapitalismus – Feindbild für die Kirchen?

Mit dem Christkönigssonntag ist das Jahr der Barmherzigkeit zu Ende gegangen. Dieses Heilige Jahr appellierte im Besonderen an die Nächstenliebe, Güte und Versöhnungsbereitschaft der Menschen. Stehen solche Eigenschaften in einer auf Konkurrenz ausgerichteten politischen (Demokratie) und wirtschaftlichen Ordnung (Marktwirtschaft bzw. Kapitalismus1) nicht auf verlorenem Posten?

Lässt sich die auf Gemeineigentum und dem Prinzip des Teilens basierende urchristliche Ideal-Gemeinschaft, wie sie uns Apg 2, 43–47 beschreibt, mit einer liberalen Wirtschaftsordnung versöhnen, die vom Privateigentum und von der Nutzen- und Gewinnmaximierung der Konsumenten und Produzenten ausgeht? Und muten Appelle zu einem neuen, einfachen, nachhaltigen Lebensstil – wie wir sie in der Enzyklika Laudato Si und gerade während des Advents immer wieder lesen und hören können – nicht lebensfremd, ja sogar ökonomisch kontraproduktiv an, wenn man weiss, dass viele Unternehmen gerade mit dem Weihnachtsgeschäft einen wesentlichen Teil ihres Jahresumsatzes generieren? Müsste man von daher die Forderung nach einem einfachen Lebensstil nicht aus Solidaritätsgründen umformen in eine Maxime, mehr und teurer zu konsumieren? Solche Fragen sollen aufzeigen, wie spannungsvoll das Verhältnis zwischen christlichen Grundsätzen zur Lebensführung und marktwirtschaftlichen Maximen sein kann. Nicht wenige marktwirtschaftskritische Christinnen und Christen finden sich seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus in ihrem Engagement für eine "gerechtere und solidarische Gesellschaft" stark unterstützt. Hat nicht der Papst in seinem apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" geschrieben, "diese Wirtschaft tötet"?2 Er hat sich dort gegen eine "Wirtschaft der Ausschliessung" und der "sozialen Ungleichheit", gegen eine "neue Vergötterung des Geldes" und gegen "Geld, das regiert, statt zu dienen" gewandt.

Was ist das Soziale an der Marktwirtschaft?

Stoff genug für die Abendveranstaltung an der Universität Luzern, die die neue Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät zusammen mit der Paulus Akademie und Avenir Suisse organisierte. Gerhard Schwarz, Publizist und ehemaliger Direktor von Avenir Suisse, leugnete in seinem Referat nicht, dass es in einer Marktwirtschaft zu "Verfehlungen und Exzessen" kommen kann. Er ortete das Spannungsverhältnis zwischen Kirchen und Kapitalismus zu einem Gutteil in einer unpräzisen Begrifflichkeit. So wird der Markt personifiziert, obwohl es Menschen sind, die sich auf dem Markt verantwortlich oder unverantwortlich verhalten. Zudem wird oft nicht zwischen dem Idealtyp und dem Realtyp der Marktwirtschaft unterschieden. Wirken sich staatliche Interven tionen in real existierenden Marktwirtschaften negativ aus, so wird das dennoch der Marktwirtschaft als solcher zugeschrieben. Schliesslich gebe es auch einen Begriffswirrwarr um die soziale Marktwirtschaft. Er unterstütze die ordoliberale Definition, wonach der Markt aus sich heraus sozial sei, indem er Anreize setze, dass die vorhandene Nachfrage ausreichend und preisgünstig gedeckt werde.

In kirchlichen Kreisen verstehe man darunter jedoch häufig die Kombination Markt und Sozialstaat. Schwarz hebt hervor, dass die stärkste Verbindung zwischen der christlichen Ethik und der Marktwirtschaft in der Anthropologie liege. "Das christliche Verständnis des Menschen als Einzelperson, ausgestattet mit gleicher Würde, verträgt sich hervorragend mit dem liberalen Menschenbild." Zum Menschsein und zum Recht auf eigene Lebensgestaltung gehöre das Privateigentum. Sozialpflichtigkeit heisse, das Geld für produktive Verwendungen zu investieren, nicht aber, die Begehrlichkeiten des Staates zu befriedigen.

Trotz prophetischer Kritik: Kirchen nicht gegen die Marktwirtschaft

Wenn Stefan Grotefeld von der Reformierten Landeskirche des Kantons Zürich und Titularprofessor für Theologische Ethik an der Universität Zürich, und Joachim Wiemeyer, Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Bochum, in ihren Referaten das Fazit ziehen, die Kirchen würden die Soziale Marktwirtschaft akzeptieren, dann steht diese zweite Variante des Verständnisses von Sozialer Marktwirtschaft dafür Pate. Das wirtschaftsethische Konzept von Papst Franziskus wird Wiemeyer zufolge stark von dessen lateinamerikanischer Biografie geprägt. In der Theologie der Befreiung spiele die prophetische Anklage sozialen Unrechts eine grosse Rolle. Wiemeyer hob fünf Kritikpunkte des Papstes hervor: Dominanz der Wirtschaft und Technologie über die Politik, Dominanz der Finanzwirtschaft über die Realwirtschaft, wachsende soziale Ungleichheiten, Konsumismus und Raubbau an der Natur. Dennoch anerkenne dieser Papst die Soziale Marktwirtschaft, wie auch seine Karlspreis- Rede gezeigt habe.

Stefan Grotefeld veranschaulichte anhand der theologischen Werke von Leonhard Ragaz, Georg Wünsch und Emil Brunner drei wichtige Elemente der protestantischen Kapitalismuskritik: die Zerstörung der Gemeinschaft, die Verwechslung von Mittel und Zweck (modern gesprochen der Primat der Ökonomie gegenüber der Ethik) und den Mangel an Gerechtigkeit. Obwohl in der protestantischen Kirche diskutiert werde, ob wir uns heute noch in einer Sozialen Marktwirtschaft oder schon in einem harten Kapitalismus befänden, geht Grotefeld von einer breiten Zustimmung der Reformierten zur Sozialen Marktwirtschaft aus.

Vorwurf der Weltfremdheit und des Unsachgemässen

In der vom Schreibenden moderierten Podiumsdiskussion mit Bischof Felix Gmür, CVP-Präsident Gerhard Pfister, Clariant-Verwaltungsratspräsident Rudolf Wehrli und HEKS-Direktor Andreas Kressler wurde leidenschaftlich darüber diskutiert, welchen Beitrag die Kirchen für die Wirtschaft und Gesellschaft leisten können. Gerhard Pfister und Rudolf Wehrli machten deutlich, dass theologische oder kirchliche Stellungnahmen heutzutage nur noch von ganz wenigen politischen oder wirtschaftlichen Führungspersonen gelesen werden.

Bischof Felix Gmür setzte sich entschieden gegen den Vorwurf zur Wehr, die kirchlichen Äusserungen seien in der Regel zu weltfremd und sachlich nicht auf der Höhe der Zeit. An die Schilderungen Rudolf Wehrlis über die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen chinesischer (Wander-)Arbeiter anknüpfend, führte Gmür aus, dass gerade in der Deutlichmachung solcher Missstände die "prophetische Aufgabe" der Kirche liege und nicht in der Einmischung in ökonomisch-technische Sachfragen.

Adventliches Nachdenken über Marktwirtschaft und christliche Ethik

Der Dynamik des Kapitalismus begegnen und gleichzeitig der wirtschaftlichen Entwicklung ein menschliches Gesicht geben. Dazu gibt es auch aus kirchlicher Perspektive keine Alternative. In der vom Konsum geprägten Vorweihnachtszeit lädt diese SKZ-Ausgabe zum Nachdenken darüber ein. So stand am 3. November 2016 an einer Podiumsveranstaltung der Universität Luzern die aktuelle Diskussion um die Ausrichtung der Wirtschaft im Zentrum. Sie widmete sich der Frage: Der Kapitalismus – ein Feindbild für die Kirchen? Debattiert wurde darüber, wie die Gesellschaft Wirtschaft organisiert und diese der menschlichen Person gerecht wird und wie zudem eine marktwirtschaftliche Ordnung mit christlicher Ethik vereinbar ist.

1 "Capitalism" ist im angelsächsischen Sprachraum ein Synonym für "Marktwirtschaft ". Im Deutschen ist "Kapitalismus" meistens im Sinne einer "härteren Version" von Marktwirtschaft negativ konnotiert. Gerhard Schwarz wies in seinem Referat darauf hin, dass "Marktwirtschaft" und "Kapitalismus" unterschiedliche Eigenschaften einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung hervorheben: den Markt als Koordinator der wirtschaftlichen Aktivitäten bzw. das (private) Kapital als Produktivfaktor.

2 Evangelii gaudium, Nr. 53.

Stephan Wirz

Stephan Wirz

Stephan Wirz, Prof. Dr. theol., leitet den Bereich «Wirtschaft und Arbeit» der Paulus-Akademie Zürich und ist Titularprofessor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.