Ein unbekannter Verfechter der Toleranz

In Basel gibt es ein kleines Strässchen mit dem Namen «Castellio-Weglein». Seit 2016 erinnert dort eine Gedenktafel an den lange in Vergessenheit geratenen Wegbereiter der neuzeitlichen Toleranzidee.

Castellio-Gedenktafel bei der St. Alban-Kirche in Basel. (Bild: EinDao)

 

Sebastian Castellio (Sébastien Châtellion) wurde 1515 in St. Martin du Fresne (F) geboren. Er studierte in Lyon, einer Hochburg des Humanismus, Latein, Griechisch und Hebräisch. Nach seiner Hinwendung zur Reformation ging er nach Strassburg, wo er sich Johannes Calvin anschloss. 1541 bat der Genfer Rat Calvin, wieder die Leitung der Genfer Gemeinde zu übernehmen. Gleichzeitig wurde Castellio zum Rektor des 1537 von Calvin gegründeten Collège de Rive in Genf berufen. In dieser Zeit begann er mit der Übersetzung des Neuen Testaments ins Französische. Dabei kam es aufgrund inhaltlicher und interpretatorischer Differenzen zu Konflikten mit Calvin, die ihren Höhepunkt erreichten, als Castellio den Pfarrern bei einer Auslegung von 2 Kor 6 mangelnden Eifer und Vernachlässigung ihrer seelsorgerlichen Pflichten vorwarf, da diese während der Pestepidemie die Stadt verlassen hatten, statt sich um die Kranken zu kümmern. Castellio wurde all seiner Ämter enthoben. Auf der Suche nach einem neuen Wohnort richtete er seinen Blick nach Basel, das damals vielen Glaubensflüchtlingen Zuflucht bot.

Das Unkraut im Weizen

1544 kam Castellio nach Basel, wo er zunächst als Korrektor für den Drucker Johannes Oporinus arbeitete. Den geringen Lohn musste er durch Hilfsarbeiten aufbessern, um seine Familie ernähren zu können. Um 1553 erhielt er endlich eine Anstellung als Professor für Griechisch an der Universität Basel. Am 27. Oktober des gleichen Jahres wurde Michael Servetus1 in Genf als Ketzer verbrannt – nicht von der katholischen Kirche, sondern von Anhängern der Reformation!

Ende 1553 erschien anonym die «Historia de morte Serveti», die die Umstände der Hinrichtung wiedergab und im Schlusskapitel sieben Gründe nannte, warum diese Hinrichtung ein Skandal war. Dabei wurde auf das Gleichnis vom Unkraut im Weizen (Mt 13,24–30) Bezug genommen, das eine Tötung aufgrund eines abweichenden Glaubens ausschloss. Richter ist allein Christus. Auch wenn die Autorenschaft Castellios nicht sicher ist, so meint man doch, seine Stimme zu hören. Gegen die aufkommende Kritik wehrte sich Calvin mit «Defensio orthodoxae fidei»2, erschienen im Februar 1554. Darin bekräftigt er seine Meinung, dass es die Aufgabe des Staates sei, den Glauben und somit Christus zu schützen, damit die Schwachen nicht durch Irrlehren vom Glauben abfallen. Die Todesstrafe sei aber nur im äussersten Fall anzuwenden.

Bereits im März 1554 veröffentlichte Castellio unter dem Pseudonym Martinus Bellius «De haereticis, an sint persequendi»3. Die Schrift enthielt eine Sammlung von Werken und Zitaten, die belegten, dass Ketzer nicht getötet werden dürfen. Die Texte stammten von frühchristlichen, aber auch zeitgenössischen Autoren wie Erasmus, aber auch von Martin Luther und sogar von Johannes Calvin selbst. Wichtig war dabei der Gedanke, dass Gottes Barmherzigkeit unendlich ist. Wer jemanden als Ketzer verfolgt und tötet und sich dabei auf Christus beruft, begeht eine schreckliche Gotteslästerung, ist doch Jesus selbst als angeblicher Ketzer hingerichtet worden. Noch differenzierter äusserte sich Castellio in seinem Werk «Contra libellum Calvini in quo contendere conatur Haereticos jure gladij coercendos esse», das erst 1612 in den Niederlanden veröffentlicht werden konnte. Aus diesem Werk stammt auch sein wohl bekanntester Satz: «Einen Menschen töten heisst nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten». Castellio plädierte für eine friedliche Koexistenz religiöser Gemeinschaften, Gewissensfreiheit und Gewaltverzicht. Die von Castellio angestossene Toleranzdebatte wurde von verschiedenen Personen an verschiedenen Orten weitergeführt.4 Schliesslich wurde Castellio 1563 selbst der Häresie angeklagt. Am 24. November legte er seine Verteidigungsschrift vor, starb aber noch vor Prozessbeginn am 29. Dezember. Castellio geriet lange in Vergessenheit, doch seine Begründung der Toleranz setzte sich in der Aufklärung durch.

Rosmarie Schärer

 

1 Michael Servetus (ca. 1509–1553) war ein spanischer Arzt und Gelehrter.

2 Calvin, Johannes, Defensio orthodoxae fidei de sacra trinitate contra prodigiosos errores Michaeli Serveti Hispani.

3 De haereticis, an sint persequendi, et omnino quomodo sit cum eis agendum, Luteri et Brentii, aliorumque multorum tum veterum tum recentiorum sententiae. Castellio stand sicher hinter dem Pseudonym Basilius Montfort und mit grosser Wahrscheinlichkeit hinter Martinus Bellius und Georg Kleinberg.

4 Vgl. dazu Plath, Uwe, Calvin und Basel in den Jahren 1552–1556, in: Basler Studien zur historischen und systematischen Theologie, Bd. 22, Basel/Zürich 1974.

Weitere Informationen zu Sebastian Castellio unter www.castellio.ch und www.castellio.unibe.ch