«Ein Organist ist kein Lokführer»

In der Liturgie kommt der Musik eine wichtige Rolle zu. Pfarrer Mario Pinggera und Organistin Rita Rohrer-Theus sprechen über die manchmal schwierige Zusammenarbeit von Priestern* und Kirchenmusikern.

Mario Pinggera und Rita Rohrer-Theus im Austausch. (Bild: rs)

 

Das heutige Gespräch hätte beinahe nicht geklappt, da ein Pfarrer die Beerdigung ohne Rücksprache mit Rita Rohrer-Theus verschoben hatte und sie nun früher gehen muss.

SKZ: Haben Sie solche Abspracheprobleme schon öfters erlebt?
Rita Rohrer-Theus (RR)1: Ja, aber dass ein Trauergottesdienst um eine Stunde vorschoben wurde, das nicht. Das ist eine Ausnahme. Es geschieht aber häufig, dass ich kein Programm erhalte und somit auch nichts über den Verstorbenen weiss und erst vor der Bestattung schnell mündlich den Ablauf und die Auswahl der Lieder erhalte.

Was sagen Sie als Priester zu dieser Situation?
Mario Pinggera (MP)2: Ich bin seit 35 Jahren im kirchenmusikalischen Dienst und habe viel gesehen und erlebt, in mehreren Ländern und Bistümern. Was in Pfarreien immer eine Unart ist, ist die fehlende Koordination. Bei uns in Richterswil gibt es keine Entscheidung, keinen Termin, der nicht über das Sekretariat läuft. Dieses ist unsere Koordinationsstelle. Wir funktionieren so fast fehlerfrei und darüber bin ich sehr glücklich.
RR: Das ist natürlich der Idealfall. Normalerweise fühlt sich der Pfarrer für alles zuständig. Er übernimmt die Sekretariatsaufgaben, die Mesmerarbeiten und die musikalische Organisation und ist damit überfordert.
MP: Ja, nur dass dies gar nicht seine Aufgabe wäre. Dafür gibt es Fachleute. Ich bin froh, dass ich nicht alles machen muss, sondern nur das, was mich auch wirklich etwas angeht.

Im besten Fall ist die Kirchenmusik ein Zusammenspiel eines liturgisch bewanderten Theologen und eines Kirchenmusikers.
RR: Ich spiele schon seit über 40 Jahren in Pfarreien und in dieser Zeit hat sich vieles verändert. Früher konnte man davon ausgehen, dass der Priester eine Grundausbildung in Musik hatte. Viele haben Klavier oder Orgel gespielt oder sind in eine Klosterschule gegangen. Heute haben wir viele Menschen, die keine Ahnung von Musik haben. Oder auch Priester, die aus einem anderen Kulturraum kommen und bis zu ihrer Anstellung in der Schweiz keinen Kontakt zu einer Orgel hatten. Sie sind aber oft der Meinung, dass die Kirchenmusik jetzt auch ihre Aufgabe sei. Das ist für uns Musiker schwierig, da wir dann ab und zu ein Programm erhalten, das nicht korrekt ist. Oder es werden Musiker beigezogen, die den minimsten Qualitätsansprüchen nicht genügen.
MP: Ich rate zu einer offenen Kommunikation. In unserer Pfarrei machen wir von allen wichtigen Gottesdiensten eine Evaluation. Hier kann das Seelsorgeteam Auffälligkeiten notieren und dieses Blatt lassen wir dann kursieren. Wenn es um die Sache geht, muss man es auf den Tisch bringen.

Als Priester sind Sie in einer höheren Position. Doch was macht ein Organist, wenn der Priester wenig Ahnung von Kirchenmusik hat?
MP: Er kann dem Priester aufzeigen, welche Konsequenzen das jeweilige Programm hat. Aber auch aufzeigen, in welche Richtung es gehen könnte. Das ist jedoch nur möglich, wenn die Person einsichtig ist. Doch gegen mangelnde Einsicht konnte selbst Jesus nichts ausrichten. Diese Situation gibt es leider auch.
RR: Sie sind der Idealfall, da sie beide Seiten kennen: jene des Kirchenmusikers und jene des Priesters.
MP: Ich habe im Verlauf meiner kirchenmusikalischen Tätigkeit viele Dinge erlebt, von denen ich sage: Genau so will ich es nicht haben. Im Pastoralkurs bereite ich deshalb mit den Studierenden exemplarisch einen Gottesdienst vor. Dies wird von ihnen richtiggehend aufgesogen. Nur sind die Pastoralkursteilnehmer bereits in der Pastoral tätig und hatten schon den ersten Kontakt zum Organisten, der logischerweise oft negativ ausgefallen ist. Dieses Thema muss schon sehr früh in der Ausbildung behandelt werden. Wenn die Leute im Dienst sind, kann man noch Pannen beheben, aber grundsätzlich nichts mehr an der Situation ändern. Dies gilt unabhängig davon, ob es Pastoralassistenten, Diakone oder Priester betrifft.
RR: Es freut mich sehr zu hören, dass Sie die jungen Theologen auf diese Problematik aufmerksam machen. Manche Priester sind infolge ihrer musikalischen Unkenntnis verunsichert und empfinden harmlose Anfragen von Organisten als Affront. Vermutlich sind solche Situationen mit ein Grund, warum so viele Organisten nur noch kleine Pensen haben.

Was sind die Konsequenzen davon?
RR: Die vielen kleinen Pensen bedeuten den Ruin für den Gesang, da ja jeder Organist eine andere Art hat. In einer meiner aktuellen Anstellungen kennen wir Organisten uns nicht untereinander. In einer solchen Konstellation ist der Priester der Chef und die Organisten kommen, machen ihre Sache und gehen wieder.
MP: Ein Organist ist kein Lokführer. Dieser fährt seine Strecke und stellt den Zug wieder ab. Der nächste übernimmt ihn. Es ist egal, wie viele Leute ein- und aussteigen, doch in der Liturgie ist es anders.

Das bedeutet sehr viele Absprachen.
MP: Ja, natürlich. Das ist zu Beginn ein wenig aufwendig. Aber wenn sich das einmal eingespielt hat, genügt eine E-Mail.
RR: Ich finde, es hat auch mit Achtsamkeit zu tun. Ein Beispiel: Ich habe das Liedprogramm erhalten und bin wie gewohnt vor dem Gottesdienst noch in die Sakristei gegangen. Und dort habe ich ein ganz anderes Programm erhalten und zugleich erfahren, dass auch noch eine Band da ist. Ich habe den Priester darauf hingewiesen, dass ich mich jeweils gerne auf das Programm vorbereiten möchte und dass eine Programmänderung auch den Charakter der Liturgie ändere. Doch der Priester meinte nur: «Entweder Sie können Orgel spielen oder nicht». Ich merke je länger je mehr: Wenn der Priester etwas von Kirchenmusik versteht, wenn er den Lead übernimmt, dann ist es einfach toll, Orgel zu spielen. Wenn dem nicht so ist, wenn es dem Priester nur darum geht zu zeigen, wer der Chef ist, wird es je länger je schwieriger. Das können Sie sich sicher vorstellen.
MP: Natürlich! Es sollte ein Zusammenspiel sein. Wir haben zurzeit wieder einen gewissen Hang zur alten Messe hin. Und ich habe mich gefragt, wieso das so ist. Ich bin überzeugt, die neue Liturgie ist hervorragend, sie ist grossartig – wenn man sie mit Würde und Sorgfalt pflegt. Wenn natürlich jeder einfach macht, was er will, löscht es der Gemeinde ab.
RR: Wenn der Priester etwas bestimmt, ist es für mich in Ordnung. Aber ich muss auch meinen Platz finden und mich entsprechend vorbereiten können.
MP: Eigentlich darf er gar nicht einfach bestimmen. Das ist eine falsche Wahrnehmung seiner Aufgabe und eine Form von Machtmissbrauch.
RR: Wir kommen wieder zum gleichen Thema zurück: Wie kann man so jemanden erreichen?
MP: Am besten in einem persönlichen Gespräch. Dabei ganz offen die Dinge auf den Tisch legen und zeigen, welche Wirkung sie haben. Auch mal sagen: «Mit diesem Umgang fühle ich mich nicht wohl.» Auf keinen Fall länger mitmachen. Wenn man das zwei-, dreimal mitgemacht hat, hat man fast keine Chancen mehr. Dann gibt es nur noch die Möglichkeit zu gehen.

Die Menschen freuen sich doch einfach, wenn schöne Lieder gesungen werden. Es ist eigentlich egal, was da gesungen wird …
MP: Das Repertoire darf so gross sein, dass das eine das andere nicht verdrängt. Es darf ruhig einmal zum Schluss die «Schanfigger-Buurehochzit» in einer guten Bearbeitung sein. Vor Kurzem feierten wir ein Choralamt. Es waren 50 bis 60 Kinder in der Kirche. Zu Beginn waren sie noch ein wenig unruhig, doch nach dem Introitus herrschte Stille. Da wurden Ebenen angesprochen, die muss man gar nicht gross erklären. In der Dramaturgie, im Spiel der Liturgie, da sind so viele Dinge, die wir ansprechen. Gottesdienst ist grosses Theater.
RR: Aber man muss wissen, wo die wesentlichen Dinge passieren. Und wenn das jemand nicht weiss und nicht lernen will, wird es schwierig.
MP: Man darf sich ruhig einmal anschauen, welche Gottesdienste gut frequentiert sind und welche nicht und warum nicht. Formlose zusammenhangslose Gottesdienste lassen sich viele Gläubige nicht gefallen.
RR: Das ist Balsam für meine Seele (sie lacht).

Gespräch: Rosmarie Schärer

 

 

* Der Einfachheit halber wird von Priestern gesprochen. Selbstverständlich sind damit alle Vorsteher von Liturgie gemeint.

1 Rita Rohrer-Theus (Jg. 1958) studierte Kunstgeschichte, Geschichte und Kirchengeschichte in Basel und München und absolvierte später an der Akademie für Schul- und Kirchenmusik in Luzern eine Ausbildung als Kirchenmusikerin mit Schwerpunkt Orgel.

2 Mario Pinggera (Jg. 1969) studierte zunächst Kirchenmusik in Rottenburg und Frankfurt, danach Theologie in Freiburg i.Ue. Er ist seit 2006 Pfarrer in Richterswil ZH und seit 2009 Dozent für Kirchenmusik an der Theologischen Hochschule Chur. Im April 2019 hat er seine Dissertation zum Thema «Musik und Kirche unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Diktatur in Südtirol» an der Universität Zürich erfolgreich verteidigt.

* Über die Zusammenarbeit zwischen Liturgievorsteher und Kirchenmusiker sagt die Grundordnung des Römischen Messbuches 111: «Die tatsächliche Vorbereitung jedweder liturgischen Feier hat einvernehmlich und mit Hingabe unter der Mitwirkung aller Beteiligten gemäss dem Messbuch und den anderen liturgischen Büchern zu geschehen, sowohl hinsichtlich des Ritus als auch im Hinblick auf Pastoral und Musik. Dabei steht dem Kirchenrektor die Leitung zu, wobei die Gläubigen in den Dingen, die sie unmittelbar betreffen, gehört werden sollen. Der Priester aber, welcher der Feier vorsteht, behält immer das Recht, über die Dinge zu entscheiden, die ihm zukommen.»