Ein scharfzüngiger Beobachter

Am 19. Juli jährt sich Gottfried Kellers Geburtstag zum 200. Mal. Grund genug, des grossen Dichters zu gedenken, der schon zu Lebzeiten als einer der bedeutendsten Vertreter des bürgerlichen Realismus galt.

Gottfried Keller* um 1875, nach einem Holzstich von C. Kolb. (Bild: Roland zh)

 

Ein Meister bin ich worden
Zu weben Gram und Leid:
Ich webe Tag‘ und Nächte
Am schweren Trauerkleid.

Ich schlepp es auf der Strasse
Mühselig und bestaubt;
Ich trag von spitzen Dornen
Ein Kränzlein auf dem Haupt.

Die Sonne steht am Himmel,
Sie sieht es und sie lacht:
Was geht da für ein Zwerglein
In einer Königstracht?

Ich lege Kron und Mantel
Beschämt am Wege hin
Und muss nun ohne Trauer
und ohne Freuden ziehn!1

Was für eine Selbsteinschätzung des Zürcher Staatsschreibers (von 1861 bis 1876) und hochgeachteten Nationaldichters! Was für eine Gefühlslast musste den alternden Dichter bedrücken, der, niemals verheiratet, mehrfach unglücklich verliebt, und nur mit zwei Frauen, Mutter und Schwester, zusammenlebend, dies rekapitulierend schreibt. Adolf Muschg beschrieb2 sein Leben und Werk psychologisierend als ein einziges Abtragen von in der Kindheit ungewollt angehäufter Schuld. Uns in ganz anderen Zeiten und Welten Lebenden beeindruckt seine Stilsicherheit im Beschreiben von Milieus und sein hintergründiger Humor, der so gar nichts vom «Zwerglein» spüren lässt. Was ist heute von Gottfried Keller geblieben?

Blick hinter die Fassade

Er war und blieb ein gesellschaftlicher Aussenseiter, der gerade darum zum scharfsinnigen und scharfzüngigen Beobachter der Schweiz und ihrer Bewohner des 19. Jahrhunderts wurde. Es ersteht vor unseren Augen eine patriarchal und militaristisch geprägte Welt, in der Männer und Frauen ihre klar definierten Rollen haben. Frauen macht er darin – parallel zu seiner Biografie verlaufend – gerne zu Idealbildern oder Urmüttern. Immer wieder fällt ihm auf («Kleider machen Leute», 1856), wie gross die Diskrepanz zwischen Schein und Sein ist, sein «Seldwyla» ist eine Karikatur einer ethische Werte verkennenden Gesellschaft, die schon das Industriezeitalter und seine Verwerfungen ankündigt. (Evangelische) Kirche und Religion waren ihm persönlich wohl verdächtig, sein Kapitel zur Konfirmation im «Grünen Heinrich» (1. Fassung 1853, 2. Fassung 1879) spricht Bände:

«Während ich die Person Christi liebte, wenn sie auch, wie ich glaubte, in der Vollendung, wie sie dasteht, eine Sage sein sollte, war ich doch gegen alles, was sich christlich nannte, feindlich gesinnt geworden, ohne recht zu wissen warum, und ich war sogar froh, diese Abneigung zu empfinden; denn wo sich das Christentum geltend machte, war für mich reizlose und graue Nüchternheit.»3

Doch Freidenker war Keller nicht, Gott war ihm ein Grundpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung, die er zu seiner Stabilität brauchte (nie veröffentlichtes Gedicht von 1844):

Gott ist ein grosses stilles Haus,
Das offen steht zu jeder Stunde!
Kein Ton geht weder ein noch aus,
Und dunkel scheints in seinem Grunde.
Und willst du einen Namen rufen
In seine unermessnen Hallen,
Dann wanken unter dir die Stufen
Und seine Tore niederfallen!

Und wer hineingeht, sieht das Licht,
Er sieht die Wahrheit und das Leben!
Doch wer hinausgeht, sagt es nicht
Dem Wandrer, der ihn frägt, daneben.
Hinein muss selbst ein jeder dringen,
Und jeder wird es anders sehen
Und, in der Seele engsten Schlingen
Verwahrend es, von dannen gehen!

Gott ist ein grosses, stilles Haus,
Das offen steht zu jeder Stunde;
Und mancher zieh mit Saus und Braus
Vorüber und nimmt keine Kunde!
Er muss die Anker fröhlich lichten
Aufs hohe Meer, das er erkoren!
Ist glücklich! – Und weiss doch mit nichten,
Dass er in diesem Haus geboren!4

Klare Worte

Eine intensive Auseinandersetzung Kellers mit Religion und Theologie findet sich sodann in seinem Alterswerk «Das verlorene Lachen», einer ausgedehnten Novelle, mit welcher er 1874 den zweiten Teil seiner Seldwyler Erzählungen abschloss. Das Zerbrechen und Wiederfinden des Glücks (hier mit der Metapher des eingefrorenen Lachens gedeutet) in der Ehe eines naiv gutmütigen Mannes aus einfachen Verhältnissen mit einer stolzen Unternehmertochter wird genau am Krisenpunkt eingebettet in die damalige kirchlich-theologische Grosswetterlage der evangelischen Zürcher Kantonalkirche. Die Ehefrau Justine gerät in den Dunstkreis eines klassisch liberalen Prediger-Pfarrers, der wohl dem realen Heinrich Lang, Pfarrer zu St. Peter und Redaktor der «Zeitstimmen», nachgebildet ist.

Keller mokiert sich mit seinem imaginären Bruder im Geiste, dem Ehemann Jukundus, über die ellenlangen inhaltslosen Predigten, mit denen die liberale Theologie den durch die radikale religiöse Aufklärung entstandenen Leerraum zu füllen versuchte. Nicht nur werden die nach dem Bildersturm leeren Kirchenräume kitschig-lieblos neu bemalt, auch die Worte des Predigers vermögen den Verlust an Glaubenssubstanz nicht mehr zu kompensieren, sondern werden als hohl und konstruiert wahrgenommen. Jukundus, dessen Fernbleiben vom Predigtgottesdienst getadelt wird, und der vom Pfarrer als gleichgültig und indifferent bezeichnet wird, verwehrt sich gegen die selbst ernannten neuen Wächter über Glaube und Moral. So spricht der Staatsschreiber zu den ihm im politischen Gespräch bekannt gewordenen Vertretern der Staatskirche:

«Es handelt sich einfach darum, dass wir nicht immer von neuem anfangen dürfen, Lehrämter über das zu errichten, was keiner den andern lehren kann, wenn er ehrlich und wahr sein will, und diese Ämter denen zu übertragen, welche die Hände danach ausstrecken. Ich als einzelner halte es vorläufig so und wünsche Euch indessen alles Wohlergehen; nur bitte ich, mich vollkommen in Ruhe zu lassen; denn hierin verstehe ich keinen Scherz!»

Politischer Zeitzeuge

Dann ist Keller in seiner Funktion auch ein politischer Zeitzeuge für die spannende Periode in der Geschichte unseres Landes zwischen der von ihm ersehnten Gründung des Bundesstaates 1848 und der grossen Revision der Verfassung 1874. Natürlich vor allem mit seiner Polit-Fabulier-Erzählung «Das Fähnlein der sieben Aufrechten» von 1861. Aber auch ganz konkret. Im vom Regierungsrat nicht genehmigten Entwurf zum Bettagsmandat 1862 schreibt er etwa:

«Wie stehen wir heute da als Volk vor den Völkern und wie haben wir das Gut verwaltet, das uns gegeben wurde? so dürfen wir nicht mit eitlem Selbstruhm vor den Herrn aller Völker treten, der alles unzureichende durchschaut und das Glück von ehrlicher Müheverwaltung, das Wesen vom Schein zu unterscheiden versteht.»5

Diese Sätze sind allerdings nicht mehr zeitgebundenes Dokument, sondern könnten heute jedem Staat, der sich auf das Christentum und biblische Werte berufen will, zur Mahnung dienen!

Heinz Angehrn**

 

1 Keller, Gottfried, Werke. Band I, Zürich 1965, 394.

2 Muschg, Adolf, Gottfried Keller, München 1977.

3 Keller, Gottfried, Der Grüne Heinrich, Zürich 1965, 290.

4 Keller, Gottfried, Werke. Band I, Zürich 1965, 189.

5 Keller, Gottfried, Die Leute von Seldwyla, Zürich 1965, 567.

6 Keller, Gottfried, Werke. Band I, Zürich 1965, 670.

 

* Gottfried Keller (19.07.1819–15.07.1890), wegen eines Jugendstreichs von der höheren Schulbildung ausgeschlossen, trat eine Lehre an, um Landschaftsmaler zu werden. Er verbrachte zwei Studienjahre in München, von wo er 1842 mittellos in seine Vaterstadt zurückkehrte. Unter dem Eindruck der politischen Lyrik des Vormärz entdeckte er sein dichterisches Talent. Zur gleichen Zeit beteiligte er sich an der militanten Bewegung, die 1848 zur staatlichen Neuordnung der Schweiz führte. Als die Zürcher Regierung ihm ein Reisestipendium gewährte, wandte er sich nach Heidelberg, um Geschichte und Staatswissenschaften zu studieren, und von dort aus weiter nach Berlin, um sich zum Theaterschriftsteller auszubilden. Anstelle von Dramen entstanden jedoch Romane und Novellen. 1855 kehrte er nach Zürich zurück, zwar anerkannter Schriftsteller, aber immer noch mittellos. Letzteres änderte sich 1861 mit seiner Berufung zum Ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich. Erst im letzten Drittel seiner Amtszeit erschien von ihm Neues. 1876 legte er das Amt nieder, um wieder als freier Schriftsteller tätig zu sein.


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.