Ein neuer Anfang ...

Keine Geschichte hat so viele Nacherzählungen hervorgebracht wie jene von Weihnachten. Poesie kann sie vom dicken Mantel der Umdeutungen und Verklärung befreien und den Kern ihrer Botschaft freilegen.

«Sich die Geburt Jesu vor Augen halten», schreibt Bernd Mönkebüscher in seinen Versmedita- tionen, «kann sich nicht in Brauchtum und sentimentalem Gefühl erschöpfen, die sich wie immer dicker werdende Schalen um die Weihnachtsbotschaft legen, bis von ihr nichts mehr zu hören ist.» Neue Blicke auf Weihnachten vermitteln Literatur und Poesie: Kaum ein anderer Text der Bibel hat eine so grosse Resonanz in Kunst und Dichtung gefunden, so viel Nacherzählung und Umdeutung hervorgerufen. Gerade so erweist sich die Weihnachtsgeschichte als ein «alter» Text, der nicht in abweisender Ferne belassen, sondern immer wieder «verheutigt» werden will, dass er die Gegenwart trifft und mitbedeutet.

Gegen alle goldglänzende Verklärung und Vergemütlichung setzt Christine Busta (1915–1987) ihren «Krippensermon für unsere Zeit»:

Behängt nur die Ställe mit Flitter!
Die Wahrheit ist glanzlos:
fauliges Stroh, ein Brettertrog, tränendurch-
feuchtet,
Ochs und Esel würden ihr Futter
daraus verschmähn. […]

Am Anfang stand keine wohlige Stall- und Hirten-, auch keine heilige Familienidylle. In den frühesten erhaltenen Darstellungen des Weihnachtsgeschehens aus dem 4. Jahrhundert stehen nicht Maria und Josef um das neugeborene Kind in der Krippe, sondern nur Ochs und Esel. Sie gehen auf Jes 1,3 zurück: «Jeder Ochse kennt seinen Besitzer und jeder Esel die Futterkrippe seines Herrn. Israel aber …»

Wilhelm Willms (1930–2002) bietet eine inspirierende Neudeutung dieser Tiersymbolik. Sie zielt auf die grosse jesuanische Kehre zugunsten der Bedürftigen, Verachteten und Entwerteten, gerade ihnen gilt Gottes Ja! Dieses «Ja des Seindürfens» bildet den «zentralen Wärmestrom biblischer Theologie» (Georg Langenhorst):

ich
bin ein ochse
kein stier
dass ihr es wisst
stiere sind nicht an der krippe
ihres herrn
die rennen unwiderstehlich
ihrem trieb nach
ich bin ausrangiert
aus diesem vielgepriesenen trieb
auf ein nebengleis bin ich
geschoben von der
planung der menschen
komisch
ist das immer so auf nebengleisen
da ist mir doch hier
das schönste widerfahren

kaum zu glauben
das schönste was es gibt
meine so gesellschaftsfähigen brüder
die herren stiere
rennen hinter sich selbst her
und holen sich nie ein
ich bin bei mir angekommen
menschwerdung […]

In «Weihnachtsgetier» von Johannes Bobrowski (1917–1965) verweist nicht nur der Dachs mit dem torkelnden Gang eines Zweibeiners auf uns Menschen. Als Künstler und bekennender Christ in der DDR hatte Bobrowski ein schwieriges Leben. Mit der heilsgeschichtlichen Licht-Finsternis-Bildsprache der Bibel (Jes 9,1; 60,2) beschwört er ganz unaufdringlich die von der Weihnacht ausgehende Unterbrechung des gewohnten Laufs der Welt (Lk 2,13–14):

Ich habe eine Wut, sagt der Hahn,
ich will mein Idyll.
Lieber, sag ich, dann rett deinen Kamm,
jetzt federn die Hühner.
Ach, ich sing nur, sagt er,
und ich in der Dämmerung früh
geh um das Haus, um den Wald
der Dachs
zieht seine Torkelspur.
Und kein Schnee.
Nur die Eule
mit Katzenlauten. Die Fichten
feucht. Auf den Nebeln
zittert das Licht.

Stroh
werden wir streun. Die Stille
sammeln unter das Dach,
einmal die Fenster
öffnen für einen Kerzentanz,
Ochs und Esel beschenken,
wir kennen da eine Geschichte,
die ist wie wir – eine grosse
Finsternis unter den Himmeln,
darin die Winter fahren
mit Flügeln rot, umglänzt
von silbernen Stimmen.

Mit der messianischen Verheissung von Jes 11,1–8 markiert das Christusereignis gemäss Andreas Knapp «einen neuen Anfang: Die Tür zum verlorenen Paradies, in dem Mensch und Tier friedlich beieinander wohnen, ist wieder geöffnet. Gottes neue Welt, in der das Kind mit der Schlange spielt, hat begonnen.» Wird sie sich durchsetzen?, fragt Priesterpoet Knapp (*1958):

in dieser Nacht
sind die Wölfe weg
Wetterleuchten zerstreute sie
ins Dunkle
und ein Lamm
kam zur Welt
im Sternzeichen
der Unschuld

bald aber werden sich
die Wölfe wieder sammeln

Dorothee Sölle (1929–2003) rückt die grundstürzende Umwertung aller Verhältnisse ins Zentrum. Was klein ist, wird gross, was niedergedrückt, kommt nach oben (Lk 1,51–52):

In dieser Nacht
verliessen die Füchse die wärmenden Höhlen
und der Löwe wiegte den Kopf
«das ist das Ende
die Revolution»

«Du bist als Stern uns aufgegangen», so beginnt Jochen Kleppers (1903–1942) weit verbreitetes «Lied zum Kirchenjahr». Die sechste Strophe lautet: «Als eine Taube, lichtumflossen, hast du dich sanft herabgesenkt, uns mit dem Feuerglanz begossen […] weil der Himmel offensteht, gabst du uns das Gebet.» Diese hochtheologische Symbolik bemüht auch Silja Walter (1919–2011) in ihrem Gedichtband «Feuertaube» von 1985. In einem Radiogespräch mit ihrem Bruder, dem Schriftsteller Otto F. Walter, sagte sie 1982: «Ich kann das Absolute nicht beschreiben […] Trotzdem bemühe ich mich immer wieder, einen Ausdruck dafür zu finden […] Ich bemühe mich um das Finden von neuen Bildern, Symbolen […] Aber da bleibt trotzdem eine Unzulänglichkeit. Unter dieser Unzulänglichkeit, über Gott reden zu können, leide ich.» «Die Feuertaube» mit dem Untertitel «Für meinen Bruder» setzt dieses Gottesgespräch mit einem ihrer stärksten (Gebets-) Gedichte fort, das bewusst die Erwartung gemeindetauglicher Bekenntnishaftigkeit unterläuft:

Abwesenheit ist
dein Wesen
darin finde ich dich
Die Nägel
meiner Sehnsucht
bluten vom Kratzen
an den Eismeeren
der Welt
Verkohlt ist die Sucht
meiner Suche
in seiner Kälte
Aber da bist du
darin
seit das Kind schrie
bei den Schafen
und brennst
lichterloh
zu mir

Gott lässt sich nur in der Abwesenheit finden, die die Betende dennoch auf die Erfahrung einer Nähe zu überwinden sucht. Umsonst – das «Kratzen an den Eismeeren der Welt» führt nur zu «blutigen Nägeln», die Sehnsucht der menschlichen Gottsuche «verkohlt» an «seiner Kälte». «Aber da bist du», «darin», wird die Weihnachtsgeschichte aufgerufen: Gottes Abwesenheit wird in diesem Kind des Heiligen Geistes als Anwesenheit erfahrbar, seitdem brennt Gott «lichterloh zu mir». In dem im Gedichtzyklus immer wieder aufgerufenen Bild der «Feuertaube», Me- tapher für Gottes Geistkraft, vermischen sich die biblischen Symbole der Taube (Mk 1,10) und der Feuerzungen (Apg 2,3). Unübersehbar ist jedoch: Das «Finden von neuen Bildern, Symbolen» führt zu paradoxen Sprachbildern, die weniger Erfüllung und Frieden ausdrücken als vielmehr Versehrtheit, ja vollständiges Erfasstsein und Verändertwerden. Silja Walter ist bewusst: «Es gibt keinen Durchbruch zum Absoluten – es gibt nur ein Einbrechen des Absoluten von seiner Seite her.» Für diese gnadenhaft-«evangelische» Umkehrung steht die Weihnacht. Ja, kraft seines Gottesgeistes setzt sich dieser Einbruch des Absoluten in unsere Menschenwelt bis in die Gegenwart fort und entzieht sich dennoch der Fassbarkeit.

Christoph Gellner


Christoph Gellner

Dr. theol. Christoph Gellner (Jg. 1959) ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer TBI in Zürich und nimmt Lehraufträge an den Universitäten Freiburg i. Ü., Luzern und Zürich wahr.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente