Ein heiteres, schwatzhaftes Gezwitscher

Mit indischen Rhythmen, Neumen, Triller, Tremoli, Glissandi und anderem mehr bringt der französische Komponist und Musiker Olivier Messiaen (1908–1992)
den Gesang der Vögel in seinen Werken zum Ausdruck.

«Der Stall, Maria, Josef, das Kind in der Krippe …» Die lukanische Weihnachtserzählung ist allen präsent. Vielleicht ist sie sogar zu präsent, als dass sie uns noch etwas sagen könnte. Die Kommerzialisierung der Erzählung, das Abgleiten in eine kitschige und gefühlsschwangere Betrachtung erschweren uns heute den Blick auf das Eigentliche dieser Erzählung. Verdecken Übersättigung und Kommerzialisierung des Motivs nicht den theologischen und geistlichen Gehalt dieser Erzählung? Wie können wir einen neuen, frischen Blick darauf gewinnen?

Sind wir gewohnt, uns anhand einer biblischen Betrachtung dem Weihnachtsgeschehen zu nähern, schlägt der französische Komponist Olivier Messiaen (1908–1992) eine musikalische Annäherung an das Weihnachtsfest vor. Messiaen ist einer der grossen Komponisten des letzten Jahrhunderts. Sein Œuvre kennt keine Trennung zwischen profaner und sakraler Musik. Messiaens Musik ist weder eine liturgische noch eine religiöse Art des Musikschaffens, noch ist sie eine mystische oder esoterische Musik. Die Musik ist für ihn ein Ausdruck des Glaubens, eine Musik, die alle Gegenstände berühren will, ohne je die Berührung mit Gott zu verlieren: «Als Gläubiger versuche ich meinem christlich-katholischen Glauben mit passenden Melodien, Harmonien und Rhythmen Ausdruck zu verleihen. Darum geht es.»

20 Blicke auf das Kind

Die Klavierkomposition «Vingt regards sur l’Enfant-Jésus» fasst die Weihnachtsbotschaft in Musik.1 Für diese Komposition, die im Jahr 1944 komponiert wird, nimmt Messiaen einen Gedanken auf, den er in seiner geistlichen Lektüre bei Dom Columba Marmion (1858–1923) und bei dem Schriftsteller Maurice Toesca (1904–1998) fand. Marmion, Abt einer Benediktinerabtei, wie Toesca sprechen von jenen Blicken, die auf das Jesuskind gerichtet sind: Marias Blick, Josefs Blick, die Blicke der Hirten, der Magier, der Engel und letztlich sogar der Blick Gottes: «Das ist der Blick und die Liebe des Vaters.» Marmion nimmt den mystischen Gedanken der ewigen Geburt von Jan van Ruysbroek (1293–1381) und Meister Eckhart (1260–1328) auf. Der Gedanke, den Blick, der auf das Kind in der Krippe gerichtet ist, zu reflektieren, erlaubt einen existenziellen Zugang zur Botschaft. So kann der Benediktinerabt fragen: «Was würden wir über Maria sagen, wenn sie ihr Kind betrachtet? In welcher Tiefe des Mysteriums dringt der Blick, der so rein, so bescheiden, so zärtlich in seinem Mitgefühl ist?»

Messiaen setzt diese Perspektive musikalisch um und nennt 20 Blicke, die auf das Kind in der Krippe gerichtet werden. Die von ihm angefügten Betrachtungen des Gotteskindes in der Wiege und jene Blicke, die sich dem Neugeborenen zuwenden, umfassen folgende Motive: vom unbeschreiblichen Blick des göttlichen Vaters bis zum Blick der Kirche als einer Liebesgemeinschaft, über den unerhörten Blick des Geistes der Freude, den sanften Blick der Jungfrau, der Engel, der Heiligen Drei Könige und der immateriellen oder symbolischen Wesen (das Wetter, die Höhen, die Stille, der Stern, das Kreuz). Der Stern und das Kreuz haben dasselbe Thema, weil das Leben Jesu auf Erden mit dem einen Ort beginnt und am anderen endet. Weihnachten und Ostern werden in einer heilsgeschichtlichen Schau zusammen gesehen.

Lerche und Grasmücke an der Krippe

Es soll hier nur der achte Satz «Blick aus der Höhe» («Regard des hauteurs») kurz vorgestellt werden. Diese Perspektive nimmt das weihnachtliche «Gloria in excelsis» auf, das Messiaen allerdings auf seine Art umsetzt. Die Höhen, aus denen das göttliche Wort herabsteigt, werden durch die Vogelstimmen angedeutet. In der Botschaft der Menschwerdung verbinden sich Himmel und Erde. Die Kreatur jubiliert ob dieser Verbindung. Der Jubel des Himmels steigt langsam hernieder, und zwar durch den Gesang der Vögel, die immer näher an die Krippe heranfliegen. In diesem Teil des Werkes hören wir die Lerche, die Nachtigall, die Schwarzdrossel, die Grasmücke, den Buchfink, den Distelfink und andere Vogelstimmen ein Loblied anstimmen. Berechtigterweise wird man sich fragen, weshalb Messiaen diesen Weg wählte. Messiaen verstand sich als Musiker, als Glaubender und als Ornithologe. Seinen Glauben artikulierte er musikalisch. Musik ist für ihn Botschaft und Mitteilung – als Stille und künstlerische Freude – und dem Gesang der Vögel entsprungen. Der Gesang der Vögel ist für Messiaen eine Kunst. Er dient nicht nur zur Verteidigung des Reviers, denn die Vögel werden durch Wetter, Landschaft und Lichtverhältnisse zum Singen animiert. Für den Gesang der Vögel benutzt der Komponist den Wirbel, den Triller, das Tremolo, das Glissando, die Legato- und Staccato-Töne, die Neumen des gregorianischen Gesangs, kleine Intervalle, rückläufige Bewegungen, griechische und indische Rhythmen. Die Vögel singen solo und sie kennen sogar die gemeinschaftliche Improvisation.

Messiaen beobachtet die Vögel und setzt deren Gesang musikalisch um. Über die Amsel schreibt er beispielsweise: «Sobald Ende Winter die Kälte nachlässt, ist die Amsel aktiv. Sie versucht ihre Motive zu finden und zu perfektionieren. So wie sie nie loslässt, was sie einmal gefunden hat, nimmt sie jeden Frühling das Thema der vorhergehenden Frühlingsjahre auf und ergänzt es mit neuen Lauten.» Bei der Singdrossel stellt er fest, dass sie ihren Gesang durch schnelle Rhythmen, die sich mehrmals wiederholen, erklingen lässt. Der Gesang mutet wie eine magische Beschwörung an. Die Klangfarbe des Vogels ist flötenartig, ziemlich hoch, sehr klar und weitreichend. In der Komposition «Vingt regards» soll für die Noten der Drossel das Fortepedal eingesetzt werden. Der Gesang der Lerche stellt für den Musiker ein Meisterwerk der Freude, der Vehemenz und der Spontaneität dar. «Es ist eine jubilierende Linie», so Messiaen, «mit verschiedenen Themen nebeneinander und vermischt, die sich fortwährend um eine dominierende hohe Stimme dreht, als ob der Vogel in seiner unbändigen Freude erfolglos versuchen würde, hoch oben im Himmel eine Decke zu durchbrechen.» Für den Gesang der Lerche gibt Messiaen in den «Vingt regards» für die Noten Staccato an, das «un peu vif» gespielt werden soll.

Auf dem Weg zur Freiheit der Herrlichkeit

Die Vögel besitzen für den Komponisten eine vielfältige Symbolkraft. Sind Vögel zum einen als geschaffene Kreaturen Spuren des Göttlichen in der Schöpfung, so manifestieren sie durch ihren Gesang zum anderen das Moment der Kreativität und der Freiheit. Die Vögel mit ihrem Gesang übersteigen Grenzen, die wir Menschen errichten und mit denen wir unser Leben erschweren. Der Gesang der Vögel manifestiert eine geografische Katholizität und intendiert eine ökumenische Vielfalt («Vingt regards» wird unter dem Erleben des Zweiten Weltkriegs komponiert!).

Das Vogelgezwitscher in der Klavierkomposition ist heiter und schwatzhaft, wie eine angenehme Unterhaltung in einem Pariser Park zur Sommerzeit. Messiaen deutet diese Grundzüge der Vogelstimmen existenziell, wenn er schreibt, dass er dank der Vogelstimmen seine künstlerische Freiheit und menschliche Würde behalten hat. Die Freiheit der Vögel symbolisiert für ihn eine konstruktive Freiheit, die nichts mit Aufruhr, Unordnung oder Gleichgültigkeit zu tun hat. Diese Freiheit gewinnt man, so Messiaen, durch Selbstbeherrschung, die Achtung vor anderen Menschen, die höchste Bewunderung der Schöpfung, das Nachdenken über die Geheimnisse und durch die Suche nach Wahrheit. Letztlich ist es jene Freiheit, die der johanneische Christus seinen Jüngern und Jüngerinnen als österliche Gabe verhiess. «Wenn ihr bleiben werdet», so zitiert er das Johannesevangelium, «an meiner Rede, so seid ihr in Wahrheit meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen» (vgl. Joh 8,31).

In der Oper zum Leben des hl. Franziskus schuf Messiaen im sechsten Bild («Die Vogelpredigt») ein kleines Kunstwerk seiner Vogelmusik. Hier lässt er den Heiligen aus Assisi zum Konzert der Vögel singen: «Alles Schöne muss zur Freiheit der Herrlichkeit gelangen. Unsere Brüder, die Vögel, erwarten den Tag, an dem Christus alle Kreaturen wieder vereinen wird: die der Erde und die des Himmels.»

Einen neuen Blick gewinnen

Die vorgestellte achte Etüde der Komposition «Vingt regards sur l’Enfant-Jésus» lädt weder zu einem entzauberten Verständnis der Welt ein, noch versteht sie sich als eine ideologische Instrumentalisierung der evangelischen Botschaft. Das Vogelgezwitscher bei der Krippe im Stall lädt uns ein, einen neuen Blick auf die Botschaft von Weihnachten zu werfen und von der Hoffnung und Verheissung der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe im Hier und Heute zu leben.

Wolfgang W. Müller

 

1 Messiaen, Olivier, Vingt regards sur l’Enfant-Jésus. Pour Piano. Editions Durand, Paris 2013. Empfohlene Einspielung auf CD: Yvonne Loriod: Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus, apex 2007 (EAN 0825646998854).


Wolfgang W. Müller

Prof. Dr. Wolfgang W. Müller OP (Jg. 1956) studierte Philosophie und Theologie in Freiburg i.Br., Paris, Montpellier und München. Seit 2001 ist er Ordinarius für Dogmatik und Leiter des Ökumenischen Instituts an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.