Ein Midrasch über den Messias

Palmsonntag: Phil 2,6–11 (Jes 50,4-7; Lk 21,14–23,56)

Zur Lesung des Philipperhymnus gehört unbedingt auch Vers 5, den die Leseordnung weglässt! Denn hier schreibt Paulus, warum er der Gemeinde in Philippi dieses Lied «singt»: «Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht.» Oder verdichteter und näher am Urtext: Bedenkt: wie im Messias, so unter euch. Was über den Messias gesagt wird, soll Modell für das Zusammenleben in der Gemeinde sein. Dieser Hinweis zum Hören, Lesen und Deuten ist wichtig.

Paulus im jüdischen Kontext

Zum Bedenken, griech. «phronein», ruft Paulus im Brief nach Philippi immer dann auf, wenn er Menschen, die verschieden sind, zur Gemeinschaft ermutigen will. Wenn es ihm also um das Zusammenleben von jüdischen Menschen und Menschen aus den Völkern in einer solidarischen Gemeinschaft, im erneuerten Volk Gottes, geht. Dieser Gemeinschaft, die in Philippi entstanden ist, stellt Paulus das Modell des Messias/Christus vor Augen. Für diese Gemeinschaft legt er aus, was «Messias» bedeutet. In rabbinischer Tradition gestaltet er einen Midrasch über den Messias voller biblischer Bezüge. Er tut dies in einem Lied bzw. einem Gedicht, also auf poetische Weise. Ein Stilmittel biblischer Poesie ist der Parallelismus: Parallel gestaltete Textteile interpretieren sich gegenseitig. Diese Struktur finden wir auch in unserem Text, wobei ich mich auf die Verse 2,6–8 konzentriere. Sie bilden zwei Strophen mit jeweils vier Zeilen. Die beiden Strophen interpretieren sich gegenseitig, und auch die vier Zeilen jeder Strophe sind auf die entsprechende Zeile der anderen Strophe bezogen. Hier der Text übersetzt von Gerhard Jankowski:

(1) Der, in Gottesgestalt befindlich

(2) das Sein gleich Gott nicht für einen Raub hielt,

(3) sondern er entledigte sich selbst,

(4) Gestalt eines Sklaven annehmend,

(1) im Gleichnis von Menschen geworden

(2) und in Haltung wie Mensch gefunden

(3) erniedrigte er sich selbst,

(4) wurde hörig bis zum Tod, zum Kreuzestod.

Die beiden Zeilen (1) rufen mit «Gottesgestalt» und «Gleichnis von Menschen » ein anderes biblisches Lied wach: In Gen 1,26 ist die Rede davon, dass Gott die Menschen «in unserem Bild/nach unserem Gleichnis» schafft. In Verschiedenheit, männlich und weiblich, sind sie zugleich gemeinsam Bild Gottes. Der Midrasch über den Messias lehrt, dass der Messias das Menschenwesen ist, das Gott von Anfang an gemeint und gewollt hat, Mensch nach dem Bild Gottes.

Die Zeilen (2) führen das fort: Der Messias ist Mensch nach dem Bild Gottes, der nicht der Sünde des Menschen gefolgt ist, wie Gott sein zu wollen. Oder in den Worten des Paulus: das Sein wie Gott nicht geraubt, nicht an sich gerissen hat. Auch das ruft einen anderen Bibeltext auf, die Worte der Schlange in Gen 3,5: «Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott.» Der Messias ist «in Haltung wie Mensch gefunden». Er ist «Adam», Menschenwesen, verstösst aber nicht gegen die Schöpfungsordnung Gottes und nimmt die Aufgabe an, die den Menschenwesen aufgetragen ist: Mensch zu sein, Bild Gottes, aber nicht Gott.

Die Zeilen (3) und (4) verlassen die Welt der Schöpfungsordnung und springen in die Welt der Geschichte: Von «sich entledigen » und «sich erniedrigen» ist die Rede, von «Sklave», «Tod» und «Kreuz». Entledigen, griech. kenoun, hat die Septuaginta als Übersetzung der hebräischen Wurzel amal, veröden, verwelken. In Jes 14,2 beschreibt es den Zustand Judas und Jerusalems als Folge der Taten des Königs Manasse. Und in Jer 15,9 ist das Volk zum Verwelken und Verschwinden verdammt, weil Jerusalem den Ewigen verstossen hat. «Erniedrigen», griech. tapeinoun, steht unter anderem für hebr. anah und schafal, Unterdrückung und Erniedrigung. Paulus spricht die Lebenssituation des Volkes Israel in vielen Phasen seiner Geschichte und aktuell im Römischen Imperium an: verödet, erniedrigt, ausgebeutet, unterdrückt, allem beraubt, was es zum Leben braucht. Im Kontext der Gemeinde von Philippi, im «Rom im Kleinen», geprägt von Militär, Kaiserkult und Sklaverei, werden die Sklavinnen und Sklaven angesprochen, die zur Gemeinde gehören. Der Messias, den Paulus lehrt und von dem er singt, der Mensch nach Gottes Bild, ist solidarisch mit seinem erniedrigten Volk und den versklavten Menschen aus den Völkern. Diese Solidarität macht Menschen nach Gottes Herzen aus. Darin verwirklicht sich Menschsein. Darin zeigt sich Gottebenbildlichkeit. Sie ist das Gegenteil von Erniedrigung. Der Messias verkörpert das modellhaft. Bedenkt: wie im Messias, so unter euch: Das ist ein Gegenmodell zum herrschenden System des Römischen Imperiums und jeder Form von Herrschaft. Davon erzählt auch der Talmud: Rabbi Jehoschua ben Levi trifft den Propheten Elias und fragt ihn, wo der Messias sei. Elias verweist ihn vor die Tore Roms. Der Rabbi fragt, wie er ihn erkennen könne. Elias sagt: Er sitzt unter den Elenden, die mit Krankheit beladen sind (Traktat Sanhedrin 98a). In der Solidarität geht der Messias bis zum Letzten. Er ist solidarisch bis ans Kreuz. Die Kreuzigung ist die Strafe für aufsässige Sklavinnen und Sklaven. Sie ist Strafe für Widerstand gegen das Imperium. Paulus hoffte, dass die Solidarität des Messias mit seinem Volk und mit den Unterdrückten aus allen Völkern genügen würde, um ein erneuertes Volk Gottes, eine solidarische Gemeinschaft aus Israel und den Völkern zu bilden. Er hoffte, dass die Verkündigung dieses Messias und seines Kreuzestodes Israel und die Völker zusammenführen würde. Sein Midrasch über den Messias richtet sich an die Menschen aus den Völkern und sagt: Der Messias ist und bleibt solidarisch mit seinem Volk. Dies bedenkt. Der Midrasch über den Messias richtet sich an die Menschen aus dem Volk Israel, die im Messias einen Kriegshelden sehen, der sie zum militärischen Sieg über die Völker führen wird. Für sie entwirft er das Bild des Messias, wie es das Evangelium vom Palmsonntag in eine Erzählung umsetzt: der König auf dem Esel. Die Hoffnung des Paulus hat sich nicht erfüllt. Wenige Jahre später kam es zum Krieg der Völker gegen Israel. Ein ganzes Volk wurde gekreuzigt.

Heute mit Paulus im Gespräch

Wie müsste der Philipperhymnus, der Midrasch über den Messias, heute klingen? Da das heute herrschende Imperium v. a. ein Wirtschaftssystem ist, müsste er wohl ökonomischer klingen. Ein Versuch: «‹Bedenkt: wie im Messias, so unter euch: Er war master of the universe hielt das aber nicht für einen Freibrief zur Ausbeutung, sondern fühlte sich als Teil von allem und wurde ein Bedürftiger und allen Menschen gleich. Sein Leben war das eines Geschöpfes. Er ging liebevolle Beziehungen ein und blieb verbunden bis zum Tod und liess sich nicht kaufen. Darum hat Gott ihn mit allen Lebewesen erhöht und ihm einen Namen gegeben, der einzigartig ist wie alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde, sich demütig vor dem Leben verneigen und jeder Mund bekennt: ‹Jesus Messias ist Leben als Geschenk – zur Ehre Gottes, der Lebendigen›.»

 

Peter Zürn

Peter Zürn

Peter Zürn ist Präsident des Vereins Bibliodrama und Seelsorge.