Hermann Hesse gehört zu den grossen Zauberkünstlern der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Als ihm 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, wurde mit ihm ein Werk gewürdigt, das schliesslich in seinem längsten Werk, dem 1943 in Zürich erstmals erschienen Glasperlenspiel, kulminiert. Bereits 1919 war Hesse – auf der Suche nach innerer Erleuchtung wie auf der quälenden Flucht aus einer Ehe mit einer psychisch kranken Frau – ins Tessin umgezogen, wo er bis zu seinem Tod wohnen blieb. 1962 starb er in seinem Traumhaus in Montagnola, nachdem er nach dem Glasperlenspiel keinen Roman mehr geschrieben, dafür umso mehr Zeichnungen und Aquarelle geschaffen hatte. Während einiger Zeit stand er nach seinem Tod im ungerechtfertigten Ruf des Kitsches, bevor ihn dann die Flower-Power-Generation und die 68er-Bewegung – vor allem mit Verweis auf Steppenwolf und Siddhartha – begeistert neu entdeckte. Für viele Gymnasiasten ist Hesse der Türöffner zu Selbstwerdung und Emanzipation von der Familie geworden. Wer ihm wie ich – verschuldet durch die Abneigung meines Kanti-Deutschlehrers – erst später begegnen durfte, ist neidisch auf diese glückliche junge Generation.
Faszination für das Spiel
Das Glasperlenspiel, exakter «Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magisters Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften» ist ein Unikat in der deutschen Literatur. Hesse erfindet mit ihm eine Art Parallelwelt zur real existierenden und führt uns Lesende an ungeahnte Abgründe religiöser und philosophischer Fragestellungen. Der Orden des Glasperlenspiels, in dessen Schule ein junger Mann namens Josef Knecht erzogen wird, hat sich in einer Art geistigen Verweigerung der vulgären und barbarischen Aussenwelt (das Werk entstand zwischen 1931 und 1943, also in der Zeit des Nationalsozialismus!) entzogen und feiert als hohe Liturgie ein rein akademisch-geistiges Spiel, zu dessen Verständnis es Jahrzehnte braucht. Josef Knecht verfällt dieser Faszination, bleibt ledig und sexuell passiv und schafft es schliesslich zum Grossmeister von Orden und Spiel, zum Magister Ludi Josephus III. Die Parallelen zu religiösen Gemeinschaften und Geheimorganisationen sind natürlich unübersehbar. Josef Knecht aber wird mit seinem Leben und seiner Karriere nicht glücklich, entdeckt zunächst, dass es seine eigentliche Berufung ist, jungen Männern neu den Weg zum Geheimnis zu weisen, und kommt dann auf dem Höhepunkt seiner Karriere und seines Wirkens zum Zweifeln an seiner Gemeinschaft, zur Frage, ob ihre Tätigkeit und ihr Leben nicht etwas vom realen Leben völlig Losgelöstes sind. Es erwacht in ihm die Sehnsucht, in dieses reale Leben zurückzukehren. Er bricht im Frieden mit der Gemeinschaft, gibt sein Amt ab und kehrt als Privatlehrer eines hochbegabten jungen Adeligen in die Welt zurück. Doch diese Welt verweigert sich ihm, er ist ihr nicht mehr gewachsen. Und so erleidet der grosse Magister in der Schlussszene des Romans einen akuten Herztod, wie er sich seinem Schüler folgend in einen von Gletscherwasser gespeisten eiskalten See zum Schwimmen wirft.
Am Ende des Romans steht das Gedicht «Stufen» (Auszug):
«Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegensenden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden … Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!»1
Die Ähnlichkeiten mit der Welt, Innenwelt wie Aussenansicht, der katholischen Kirche sind in diesem Roman mit Händen zu greifen. Hesse, obwohl evangelisch-pietistisch sozialisiert, gibt uns Katholikinnen und Katholiken ein Werk in die Hände, uns selbst, unser Verständnis von Liturgie und auch unsere Beurteilung von Körperlichkeit und Sexualität kritisch zu bedenken. Gerade darum immer wieder zum erneuten Lesen empfohlen!
Heinz Angehrn