Nicholas Thomas Wright zur Beziehung Juden-Christen

 

Ohne Zweifel hat N. T. Wright mit seinem Monumentalwerk Grosses beigetragen, um die biblische Botschaft gegen liberale Aufweichungen bei vielen Theologinnen und Theologen wieder zum Leuchten zu bringen. Sympathisch ist seine selbstkritische Einsicht, dass sein Werk sicher auch Fehler enthält. Auf einen solchen gravierenden, vielen bekannten Fehler möchte ich hier hinweisen. Es geht um die «Erfüllungstheologie», welche die Geister, auch innerhalb der Konfessionen, trennt. Nach dieser Theologie, welche u. a. von den Vertretern des «Kairos-Palästina-Dokumentes» und den «Christus-am- Checkpoint-Konferenzen» vertreten wird, ist das ethnische Volk Israel theologisch erledigt. Es ist bedeutungslos für die Zukunft. Diese Theologie bewirkt also in verkappter Form das Gleiche wie die seit vielen Jahrhunderten unheilvoll sich auswirkende Ersatz- oder Enterbungstheologie: Sie beraubt Israel seiner biblischen Verheissungen und öffnet die Tore zur Judendiskriminierung.

Wright argumentiert so: Das Kreuzesgeschehen und die Auferstehung sind der grosse Höhe- und Wendepunkt der biblischen Heilsgeschichte. Jesus hat sich mit Israel identifiziert. Der Tod Jesu wird also «zu einem prophetischen Akt einer vorher nie angedachten Art der Stellvertretung: Jesus stirbt als Messias, als Repräsentant des Gottesvolkes, er stirbt stellvertretend den Tod des Gottesvolkes » (R. Behrens). Das meint, dass der Begriff «Volk Gottes» «seit Jesus nicht mehr ethnisch definiert wird, sondern über das Vertrauen zu Israels Messias und die Nachfolge auf Jesu Weg der Gottesherrschaft». «Das Israel, das überlebt, ist also das Israel, das aus ethnischen Juden besteht, die Jesus, ihrem Messias folgen, und andererseits aus Heiden aller Völker, die ebenfalls Jesus folgen» (Behrens). Diese Neudefinition des Gottesvolkes nimmt bei Wright eine Schlüsselrolle ein. Das alte Israel ist also (mit Jesus) gestorben; ein neues Gottesvolk ist da. Die Verheissungen Gottes für Israel (z. B. die Rückkehr aus dem Exil) sind in Jesu Tod und Auferstehung alle erfüllt. Dazu wird auf 2 Kor 1,20 verwiesen: «(Jesus Christus, Gottes Sohn) ist das Ja zu allem, was Gott verheissen.»

Freilich stimmt: Jesus hat die Grenzen des Volkes Gottes auf alle Völker ausgeweitet. Bei Paulus umfasst das «Israel Gottes» die an Jesus glaubenden Israeliten, verbunden mit «allen, die sich nach diesem Massstab richten» (Gal 16). In Christus ist die Trennung zwischen Beschnittenen und Unbeschnittenen aufgehoben (1 Kor 7,19; Gal 3,28; 5,6). Dennoch bleibt bei Paulus die Zweigliederung des in Christus erneuerten und auf alle Völker erweiterten Gottesvolkes bestehen: in der Mitte sind die «Erstgeborenen», die ursprünglichen Zweige des «edlen Ölbaumes»; im Unterschied davon sind die Völkerchristen als die Zugewanderten, nachträglich Eingebürgerten, Eingepfropften (Röm 11,17–24; Eph 2,11–21). Noch im neuen Jerusalem bleibt die Zweigliederung der Besiegelten aus den zwölf Stämmen Israels und der unzählbaren Schar aus allen Nationen (Offb 7,4 ff./9 ff).

Die Kirche Jesu ist erst vollständig in der Einheit von Juden und Völkerchristen, aber so, dass der jüdische Kern als Zeichen der Treue Gottes als solcher erhalten bleibt. Diese Vervollständigung der Kirche bahnt sich an in der «messianischen Bewegung», in der Juden auf der Basis des Neuen Testamentes zum Glauben an Jesus kommen und sich mit uns «Völkerchristen» im einen Leib Christi verbunden wissen, doch sich berufen wissen, nicht einfach in einer unserer Kirchen aufzugehen, sondern als Vertreter des ersterwählten Volkes sichtbar zu bleiben. Dies konkretisiert sich in der Bewegung TJC-II («Dem zweiten Jerusalem entgegen»), dessen katholischer Protektor beim Vatikan Kardinal Schönborn ist.1

Eine Vertretung dieser Bewegung mit ihrem Initianten, dem messianischen Leiter Marty Waldman aus USA, besuchte Kardinal Bergoglio noch vor dem Konklave in Buenos Aires. Der katholische Theologe Peter Hocken,2 der dabei war, berichtet: «Der Kardinal war tief beeindruckt von Marty Waldmans Zeugnis, die seine Bekehrung und den Beginn von TJC-II enthielten. Er sagte darauf: ‹Das ist von Gott. Das ist neu. Ihr könnt auf mich zählen.› Am Ende haben wir für ihn gebetet und legten die Hände auf seine Schultern, und Marty betete, dass die Kardinäle einen Papst wählen würden mit einem tiefen Verständnis für Israel und die Kirche. Darauf gab Kardinal Bergoglio seinen Segen für das TJC-II-Team in Argentinien …»

Es ist paradox: Wright ist hochgradiger Paulusspezialist. Doch Paulus vertritt in Bezug auf die unwiderrufliche Berufung der Juden, «meiner Brüder dem Fleische nach» (Röm 9,3), eine diametral entgegengesetzte Sicht (siehe Röm 9–11!). In Röm 15,8 ff. sagt er: «Christus ist um der Wahrhaftigkeit Gottes willen Diener der Beschnittenen geworden, damit die Verheissungen an die Väter bekräftigt (bekräftigt, nicht erfüllt!) werden.» Hier wird deutlich gesagt: Es geht um die Wahrhaftigkeit Gottes, um seine Glaubwürdigkeit. Gott ist absolut treu und sein Wort an Israel, sein Volk, zuverlässig. Wer wissen will, was Paulus wirklich sagt, greife zum Buch des evangelischen Neutestamentlers Klaus Wengst: «Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk [Röm 15,10]. Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief».3 Israel ist und bleibt trotz seiner Untreue Gottes erste, grosse Liebe.

Der Kern der Verheissungen ist die «Wiederherstellung Israels» zum Segen der Völker. Sie begann mit der äusseren Zusammenführung im Land der Väter. Dazu sagt Heinrich Spaemann: «Das wichtigste Datum des 20. Jahrhunderts ist für den, der mit der Bibel denkt, die Wiedervolkwerdung Israels nach einem fast zweitausend Jahre währenden Passionsweg und nach Auschwitz als einem zweiten Golgotha – Johannes Paul II. nannte es mehrfach so. Diese ‹Auferstehung› Israels ist Einlösung der Ezechielprophetie: aus einem unabsehbaren Totenfeld wird eine lebendige Heerschar (Ez 37,1–14). Dem Römerbrief nach ist sie das letzte Heilszeichen in der Menschheitsgeschichte vor dem Jüngsten Tag.»4 – Nach Ezechiel will Gott durch die wunderbare Zusammenführung der unter die Völker zerstreuten Juden «sich an euch als heilig erweisen vor den Augen der Nationen» (Ez 20,41). Wie in dieser Schriftstelle ist in der ganzen Schrift das Volk aus den Völkern herausgehoben mit einer besonderen Mission. Jesus ist «das Licht zur Erleuchtung der Völker (ethnon) und zur Verherrlichung deines Volkes (laou) Israel» (Lk 2,32).

Gemäss der erwähnten Ezechielvision geschieht die «Wiederherstellung Israels» in zwei Phasen: Zuerst kommt die äussere Zusammenführung der «Totengebeine» im Land der Väter, welche noch nicht Frieden bringt (wie es der Nahostkonflikt zeigt). Die zweite Phase mit der geistlichen Erweckung durch Ausgiessung des Heiligen Geistes (vgl. Ez 11,19; 36,27; Jes 44,3) kündet sich an mit der erwähnten «messianischen Bewegung» und in den wachsenden christlichen Israelwerken, welche aus biblischer Sicht sich mit dem bedrohten Israel solidarisieren, ohne seine säkulare Militärpolitik zu unterstützen, und den Juden helfen, ihre Sendung, Licht für die Völker zu sein, zu erfüllen. Konkret wird dies in den Werken, in denen jesusgläubige Juden und arabische Christen sich im Namen und Geist Jesu für die Verständigung unter den beiden Völkern einsetzen.

Die beiden auseinanderklaffenden Sichtweisen zeigen, wie tief verwurzelte Grundentscheidungen trotz aller exegetischen Akribie zu diametral verschiedenen Bibelauslegungen führen können. Es kann sich für eine Gruppe ein «Kanon im Kanon» bilden, nach dem klare Aussagen, die nicht der eigenen Grundentscheidung entsprechen, nicht wahrgenommen werden können. Das kennen wir genügend aus dem interkonfessionellen Dialog. Da braucht es für die Christenheit einen «konziliaren Prozess», um in der brisanten Frage der Rolle Israels bzw. der Juden im Weltgeschehen zu einer einmütigen Sicht zu kommen. Da wird der Gegensatz zwischen der rein humanen, rational einleuchtenden und der heilsgeschichtlichen Sicht deutlich.

Die katholische Kirche hat zwar gegen den Widerstand arabischer Konzilsväter erklärt, dass die Juden «immer noch von Gott geliebt sind um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich» (Nostra aetate 4). Doch noch ist vielen nicht klar, was dies konkret für die heutige Geschichte Gottes mit den Juden bedeutet. Zwar gibt es manche katholische Kirchenvertreter, die bezeugen, dass die heutige «Heimkehr» der Juden im Licht der biblischen Verheissungen zu verstehen ist, wie Papst Johannes Paul II. und Kardinal Schönborn.

Viele Belege dafür liefert das imposante Quellenwerk zur jüdisch-christlichen Begegnung von Jean Dujardin, dem ehemaligen Sekretär des Rates für christlichjüdischen Dialog der französischen Bischofskonferenz: «L’Eglise Catholique et le Peuple Juif. Un autre regard».5 Wie der Titel dieses Buches zeigt, braucht es «einen neuen Blick», ein neues Denken, um von festgefahrenen Denkmustern zur heilsgeschichtlichen Sicht des heutigen Wirkens Gottes mit dem jüdischen Volk vorzudringen.

Besonders führt Dujardin für diese neue Sicht nebst vielen Aussagen von Papst Johannes Paul II. das mutige Schreiben der französischen Bischofskonferenz von 1973 an: «Pastorale Handreichungen zur Haltung der Christen gegenüber dem Judentum». Darin wird umsichtig erklärt, «dass die Sammlung eines Teiles des jüdischen Volkes im Land der Bibel» im Licht der biblischen Verheissungen zu sehen ist und uns «vor eine wesentlichen Frage stellt: Wird die Sammlung der Zerstreuten des jüdischen Volkes, die sich unter dem Druck der Verfolgungen und des politischen Kräftespiels vollzogen hat, letzten Endes trotz aller Dramen einer der Wege von Gottes Gerechtigkeit für das jüdische Volk und, zu gleicher Zeit, für alle Völker der Erde sein? Wie könnten die Christen gleichgültig bleiben angesichts dessen, was sich augenblicklich in diesem Land entscheidet?» Als Zeichen für den Widerstand eingefleischter antijüdischer Einstellungen erntete dieses ausgewogene Schreiben einen flammenden Protest von vierzig libanesischen Jesuiten. Das Schreiben der französischen Bischöfe sei «ein Manifest von politischem Zionismus», das auch vom religiösen Standpunkt aus «höchst anstössig» und schlichtweg «Irrlehre» sei. Und die katholischen Bischöfe Ägyptens widersprachen in einem Brief an ihre französischen Amtsbrüder scharf der These, dass dem heutigen jüdischen Volk ein Platz im Heilsplan Gottes zukäme.6 Die arabischen Patriarchen und Theologen (wie auch N. T. Wright!) sind noch weitgehend der «Erfüllungstheologie» verhaftet, welche der Konzilserklärung mit ihren Konsequenzen widerspricht. Die Rücksichtsnahme auf die arabischen Amtsbrüder scheint ein Grund dafür zu sein, dass der «Vatikan» sich scheut, diese Frage konziliär zu klären, was dringend notwendig wäre.

Papst Franziskus ist bei seiner Heiliglandpilgerfahrt vom 24. bis zum 26. Mai 2014 diesen notwendig zu bereinigenden Fragen (v. a. über die tieferen Hintergründe des Nahostkonflikts, die spezifische heilsgeschichtliche Rolle der Juden und unsere christliche Mitverantwortung) klug ausgewichen, doch hat er mit seinem Charisma, mit dem er in der Liebe Jesu auf die Vertreter der verschiedenen Geistesrichtungen zuging, ein Vertrauensklima geschaffen, in dem es leichter wird, weitere Schritte zum Frieden zu tun, oder wie Radio Vatikan formuliert: «Franziskus hat im Heiligen Land ein neues Kapitel des Dialogs aufgeschlagen. »


Die vorliegende Wortmeldung bezieht sich auf den Artikel von Rainer Behrens: Jesus, Paulus und das Neue Testament. Zur Theologie von Nicholas Thomas Wright, in: SKZ 182 (2014), Nr. 20, 297–300.

 

 

1 www.tjcii.org ; Schweizer Sekretariat:

2 Siehe auch: Peter Hocken: Die Strategie des Heiligen Geistes? Ravensburg 1996.

3 Stuttgart 2008.

4 Aus seiner flammenden Schrift «Die Christen und das Volk der Juden». Neu aufgenommen im Büchlein «Der erneuerte Bund. Gottes Weg mit Israel», herausgegeben von Christoph Joest (Gnadenthal [2002]).

5 Paris, Calmann-Lévy, 2003

6 Walter Kickel: Das Gelobte Land. Die religiöse Bedeutung des Staates Israel in jüdischer und christlicher Sicht. München 1984, 131.

Tilbert Moser (Bild: tilbert.info.ch)

Tilbert Moser

Der Kapuzinerpriester Tilbert Moser (1932) beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den Themen Ökumene, christlichjüdischen Beziehung, geistige Hintergründe des Nahostkonflikts und hat vieles darüber publiziert. Er wirkt in verschiedenen Gesprächskreisen mit (siehe www.tilbert.info )