Ein Leben nach der Bergpredigt

Im 17. Jahrhundert wanderten die Amischen aus der Schweiz und Süddeutschland in die USA aus. Ihre Nachfahren leben wie damals ohne Strom, Auto oder Handy.

Amische Bäuerin in Pennsylvania. (Bild: Peter Dettwiler)

 

Meine erste persönliche Begegnung mit den Amischen in Pennsylvania vor etlichen Jahren war jene mit meinem Namensvetter Jesse Detweiler und seiner Familie: 13 Kinder und (damals) 43 Enkel. Das einfache Mittagessen mit vielen Produkten aus dem eigenen Garten begann und endete traditionsgemäss mit einem stillen Gebet. Amische Einfachheit: «Wenn ihr betet, dann macht nicht viele Worte» (Mt 6,7). Nach dem Essen zeigte mir Jesse seinen Stammbaum, der bis zu einem Melchior Dätwyler aus dem Aargau um 1650 zurückführt. Die Wurzeln der Amischen liegen sowohl familiär als auch religiös in der Schweiz. Die ersten Mitglieder der Täuferbewegung – ihre Nachfahren nennen sich heute Mennoniten, Amische und Hutterer – kamen Anfang des 18. Jahrhunderts nach Pennsylvania und zogen von dort teilweise weiter in andere Staaten der USA. Die Amischen gehen zurück auf den Berner Täufer Jakob Ammann (die «Ammanschen»), der 1693 im Elsass bei den nach seiner Meinung verweichlichten Auswandernden die Rückkehr zum einfachen Leben predigte und damit eine Spaltung auslöste.

Zwischen Tradition und Moderne

Nicht weniger eindrücklich war die Begegnung mit Jesse und Anna Lapp und ihren sieben Kindern. Sie wohnen in Paradise (!) in Lancaster County, Pennsylvania. Sieben Mal habe ich sie über die letzten Jahre besucht und dabei nicht nur das Wachstum ihrer Familie miterlebt, sondern auch den Wandel, dem die Amischen ausgesetzt sind: Ihr bescheidener Bauernhof bietet nicht mehr das nötige Einkommen. Mit Erstaunen stellte ich bei meinem letzten Besuch 2018 fest, dass die Kühe alle verkauft waren. «Der Milchpreis ist zu tief», meinte Jesse. «Die Milchwirtschaft lohnt sich nicht mehr.» Er bewirtschaftet mit seinen Maultieren noch das Land für den Anbau von diversen Getreiden zum Verkauf an andere Bauern. Die Familie setzt nun zusätzlich auf den florierenden Tourismus. Denn die Amischen – gerade in dieser Gegend – sind eine Touristenattraktion. Lapps bieten Touren auf ihrem Bauernhof an und erzählen von ihrem Leben. Das gehört zu den vielen Kompromissen, mit denen die Amischen leben: Sie möchten «in der Welt, aber nicht von der Welt» durch eine traditionelle und einfache Lebensweise Zeugnis für das Evangelium ablegen. Und sehen sich gleichzeitig gezwungen, ihren Lebensunterhalt teilweise mit der Tourismusindustrie zu verdienen. Das amische Ideal ist zwar nach wie vor das Leben nahe an der Scholle, doch nur noch ein kleiner Teil kann von der Landwirtschaft leben. Als ausgezeichnete Handwerker haben sich viele Amische auf die Holzbearbeitung spezialisiert. Ein solcher Betrieb lässt sich heute jedoch nicht mehr ohne Webseite und moderne Maschinen gewinnbringend betreiben. So leben viele Amische zuhause ohne Radio, Fernsehen, Internet und Handy, während sie am Arbeitsplatz computergesteuerte Maschinen bedienen. Die traditionelle Kleidung ist dann der einzige sichtbare Unterschied zur Lebensweise der «Englischen», wie die amerikanischen Nachbarinnen und Nachbarn genannt werden. Zudem lehnen die Amischen Geschäfte am Sonntag strikte ab.

Lapps Kinder tragen biblische Namen: Moses, Ruth, Eli, Naomi, Lizbeth, Sara und Stephan. Die schulpflichtigen Kinder besuchen eine amische Gesamtschule, unterrichtet von einer jungen, unverheirateten Lehrerin. Höhere Schulen über die obligatorische Grundschule hinaus lehnen die Amischen ab. Sie sind auch in dieser Hinsicht dem einfachen Leben verpflichtet: «Plain people» nennen sie sich. Menschen, die den bodenständigen, gradlinigen Lebensstil pflegen. «Euer Ja sei ein Ja und euer Nein sei ein Nein. Jedes weitere Wort ist von Übel» (Mt 5,37). Sie lassen sich auch nicht gerne fotografieren. Alles, was den Anschein der Eitelkeit erwecken könnte, ist ihnen suspekt. Christliche Demut ist ein wesentlicher Aspekt ihres Menschen- und Kirchenbildes. Armut hingegen ist kein amisches Ideal. «Euer Vater im Himmel weiss, was ihr braucht» (Mt 6,32). Wenn er Wohlstand schenkt, wird dieser dankbar angenommen. Die Amischen leben – im Gegensatz zu den Hutterern – nicht die Gütergemeinschaft. Aber das Teilen ist selbstverständlich. So verzichten sie auf Versicherungen. Wenn jemand in Not gerät– durch eine teure Operation, einen Brand usw. – dann kann er auf die Solidarität der Gemeinschaft zählen.

Einzigartig ist ihr Kirchenmodell: Es ist eine Art Hauskirche. Die Gottesdienste am Sonntag werden «von Haus zu Haus» (vgl. Apg 2,46) gefeiert. Eine Kirche ohne Gebäude! «Church, that’s people, not buildings»1, fasste es mir gegenüber ein Amischer zusammen. Die einzige Infrastruktur ist ein von zwei Pferden gezogener Kastenwagen mit den Bänken und Gesangbüchern für den Gottesdienst am jeweiligen Ort. Es ist eine Laiengemeinschaft von Brüdern und Schwestern ohne bezahlte und professionell ausgebildete Mitarbeiter. Prediger und Bischöfe werden aus ihrer Mitte gewählt – allerdings nur aus dem männlichen Geschlecht. Eine Kirche ohne Institution, aufbauend auf den Familieneinheiten. Aber, so könnte man vielleicht sagen, die Amischen machen die Stabilität, die eine Institution über Generationen hinweg bietet, durch ihre strengen äusserlichen (Kleidung, Lebensweise) und innerlichen (Kirchenzucht, «shunning»2) Formen wett.

Glaube als radikale Entscheidung

Die Lebensform der Amischen ist nur aus ihrer Geschichte zu verstehen. Das wichtigste Buch nach der Bibel und dem Gesangbuch ist der «Märtyrerspiegel», eine Sammlung von Geschichten der brutalen Verfolgung der «Wiedertäufer» aus dem 17. Jahrhundert. Die rigorose Lebensweise der Amischen ist letztlich der Versuch, die Zeit der Märtyrer durch ein Leben radikaler Einfachheit und Distanz zur Masslosigkeit dieser Welt wach zu halten. Ähnlich den christlichen Eremitinnen und Eremiten sowie Klostergemeinschaften, die nach dem Abklingen der Verfolgung im Römischen Reich das Märtyrertum durch ein Leben in radikaler Nachfolge aufrecht erhalten wollten. Allerdings führt bei den Amischen ihre Tradition des «shunning» – der «Meidung» fehlbarer Mitglieder nach Matthäus 18 – immer wieder zu Spaltungen. Und beim Bemühen um die Reinheit der christlichen Gemeinde bleibt die Barmherzigkeit leicht auf der Strecke.

Ist es überhaupt möglich, als Gemeinschaft konsequent nach der Bergpredigt zu leben? In den protestantischen Gebieten wurden die Mitglieder der Täuferbewegung als Staatsfeinde verfolgt, weil sie den Militärdienst, die Todesstrafe, die Säuglingstaufe und den Eid ablehnten. In den katholischen Gebieten wurden sie als Ketzer verfolgt. Im Sommer 2004 setzte die reformierte Landeskirche des Kantons Zürich ein deutliches Zeichen der Versöhnung: Ein einfacher Gedenkstein an der Limmat erinnert an die in der Reformationszeit ertränkten Täufer und ein Schuldbekenntnis hält u. a. fest: «Wir achten den radikalen Ansatz der Täuferbewegung, als eine freie Gemeinschaft von entschiedenen Gläubigen Salz der Erde und Licht der Welt zu sein und die Botschaft der Bergpredigt konkret umzusetzen. Es ist an der Zeit, die Geschichte der Täuferbewegung als Teil unserer eigenen Geschichte zu akzeptieren, von der täuferischen Tradition zu lernen und im Dialog mit den täuferischen Gemeinden das gemeinsame Zeugnis des Evangeliums zu verstärken.»

Die Amischen sind mehr als eine Touristenattraktion. Sie sind ein Seitenzweig der Reformation. Ihre Lebensweise und ihre Form des Kircheseins sind nicht imitierbar. Und dennoch haben sie eine Botschaft an ihre christlichen Geschwister: Die Bergpredigt Jesu – Magna Charta des Christentums – bleibt für jede kirchliche Gemeinschaft eine Herausforderung.

Peter Dettwiler

 

1 Kirche, das sind die Menschen, keine Gebäude.

2 «Meidung». Wer gegen die Regeln der Gemeinschaft verstösst, wird ausgeschlossen und gemieden, bis er sich bekehrt.


2015 lebten etwa 300'000 Amische in den USA (vorwiegend in Pennsylvania und Ohio) und in der kanadischen Provinz Ontario.

 


Peter Dettwiler

Peter Dettwiler (Jg. 1950) ist reformierter Theologe. Er arbeitete während 17 Jahren im Gemeindepfarramt und während 22 Jahren als Ökumene-Beauftragter der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich.