Das Leben entrümpeln − auch die Kirche?

Wer sich als engagierter Christ mit dem Thema des einfachen Lebens befasst, wird früher oder später an diesen Seufzer geraten: «Simplify your church!»

Ich wünsche mir das immer wieder: dass es doch bitte einfacher werde. Wir leben in einer Welt, die als immer komplizierter empfunden wird. Das liegt wohl auch daran, dass wir immer mehr über sie wissen. Wir merken, dass alles mit allem zusammenhängt, und wünschen uns Vereinfachung. Da ist es kein Zufall, dass dieser Wunsch ausgerechnet auf Englisch so populär geworden ist. «Simplify your life!» rufen wir sicherheitshalber in der Weltsprache, damit ihn die ganze Welt versteht und beim Vereinfachen mitmacht.

Auch unsere Kirchen sind, schon rein organisatorisch, immer komplexer geworden. Wer in einer Kirchgemeinde mit Finanzen oder Baumassnahmen zu tun hat und mit kirchlicher Verwaltung in Berührung kommt, hat sicher oft «Simplify your church!» gestöhnt. Das könnte auch die Grundidee der Reformation gewesen sein. Re-Formation heisst: zurück zur alten Form. Dass es doch wieder so einfach werde wie am Anfang: Jesus mit zwölf Jüngern. Zusammensitzen beim Essen. Sich versammeln zum Gebet. Alles miteinander teilen. Kranke heilen. Den Nächsten lieben, ja sogar den Feind. Da sein für andere.

Aber wie sieht diese sichtbare Gemeinschaft der Christinnen und Christen heute aus? In den Kirchgebäuden versammeln sich immer weniger Menschen. Viele verlassen ihre Kirche für immer, sie kündigen die Mitgliedschaft. Doch trotz allem existieren die Kirchen. Sie sind nach wie vor eine grosse gesellschaftliche und religiöse Kraft. Offensichtlich lässt sich die Macht einer Gemeinschaft nicht einfach in Besucher- oder Mitgliederzahlen messen. Entscheidend ist für mich die Gemeinschaft mit Jesus Christus als innerem Meister geworden, und das geht einer grossen Zahl von Christinnen und Christen ebenso. Diese intensive innere Verbundenheit mit Jesus Christus nennt man Mystik. Das ist der tiefste Kern der Sehnsucht nach einer vereinfachten Kirche: eine Gemeinschaft von Menschen, die verbunden sind mit Jesus Christus, ob sie es laut bekennen oder nicht, ob es ihnen deutlich bewusst ist oder ob sie es tief in ihrem Herzen zart spüren. In so einer Herzenskirche spielen Konfessionen keine Rolle mehr. Hier geht es nicht mehr um Dogmen und Glaubensfragen, sondern um Liebe. Liebe träumt von der letztgültigen Vereinigung, der ganz grossen Einfachheit. Dieser Traum aber bleibt unerfüllt. Denn diese Welt ist nicht einfach, niemals.

Die Richtung ist entscheidend

Also Abschied nehmen von der Idee «Simplify your church»? Es gibt keine endgültige Einfachheit, kein vollkommenes Glück. Es kommt auf die Richtung an. Entscheidend ist die Bewegung, die zugeht auf Einfachheit und Glück: Es soll nicht noch komplizierter werden, sondern einfacher. Es soll nicht unglücklicher, schmerzhafter und leidvoller zugehen bei den Menschen, sondern glücklicher, leichter. Wir werden lernen müssen, Verschiedenheit auszuhalten, überall, auch in unseren Kirchen. Doch wir sind dabei unterwegs auf einem Weg, bei dem sich viele wunderbare Entdeckungen machen lassen.

Ich habe das in meinem Leben als Christ auch mit dem Glauben erlebt: Er ist immer einfacher geworden. Geblieben ist eine zu Herzen gehende, unverwechselbare Melodie. Das Lied von der Stärke der Liebe, von der Macht der Machtlosigkeit, von der Menschlichkeit Gottes. Der Menschensohn Jesus verbindet uns, bei aller Verschiedenheit. Aber nicht die Rede über ihn, sondern was er selbst gesagt hat. Am einfachsten zusammengefasst ist es in dem Gebet, das er uns gelehrt hat, dem Vaterunser. Dort ist nicht die Rede von Opfer oder Sünde, von Busse oder Zwang, sondern von Brot, Vergebung, Kraft. Ich habe es unzählige Male gesprochen. Wirklich verstanden habe ich es nie. Gerade dadurch hat es seine Kraft und seinen Zauber behalten.

Es erinnert mich an den Mond, diese dunkelgraue Kugel. Sie leuchtet nicht, sondern wird beleuchtet. Die dunkle Mondoberfläche genügt, um ein mildes, zutiefst berührendes Licht auf unsere Erde zu senden. Denn die Sonne, die ihn bestrahlt, hat enorm viel Energie. Auch unsere Kirchen sind meist nicht so hell, wie sie gern wären. Aber sie werden von einem riesigen, überhellen Licht beschienen, und das lässt sie strahlen. Das haben sie gemeinsam mit uns Menschen.

Werner Tiki Küstenmacher


Werner Tiki Küstenmacher

Werner Tiki Küstenmacher (Jg. 1953) ist evangelischer Theologe, Journalist und seit seiner Kindheit Karikaturist. Er veröffentlichte über 100 Bücher. Das Buch «simplify your life» (2001) wurde zum Weltbesteller. Inzwischen ist die Webseite www.simplify.de ein riesiger Fundus zum Thema Lebensvereinfachung.