Ein Jesuit, der den Papst prägte: Michel de Certeau (1925–1986)

Im Interview, das Papst Franziskus am 19., 23. und 29. August dem Redaktor der Jesuitenzeitschrift «Civiltà cattolica», P. Antonio Spadaro SJ, gewährte (auf deutsch von den «Stimmen der Zeit» im Internet verbreitet), erwähnte er gleich zu Beginn, dass er von den zeitgenössischen französischen Denkern besonders Henri de Lubac (1896–1991) und Michel de Certeau (1925–1986) schätze. Wenn man weiss, was diese gedacht, gesagt und geschrieben haben, dann wirft das auch ein Licht auf die ganze Haltung des Papstes. Der erste Theologe ist im deutschen Sprachraum dank Hans Urs von Balthasar, der viele seiner Schriften in seinem Johannes-Verlag zugänglich gemacht hat, bestens bekannt. Der zweite wird jetzt langsam auch bei uns zur Kenntnis genommen (in Frankreich gehört er zu den wichtigsten Autoren), ist aber wegen seiner schwierigen Schreibweise nicht leicht zugänglich. Umso wichtiger scheint mir, dass seine wesentlichen Gedanken möglichst vielen dargelegt werden.1 Hier soll anhand eines Radiointerviews näher auf ihn eingegangen werden, das Jacques Chancel mit Michel de Certeau am 22. Oktober 1975 in der Sendung «Radioscopie» während 55 Minuten geführt hat (nicht gedruckt). Dahinter stecken aber viele weitere Lektüren, von denen zur ersten Einführung drei genannt seien.2

Eigenwillig, neugierig und gemeinschaftsverbunden

Faszinierend ist, wie dieser vielseitige Autor als Priester und Jesuit der kirchlichen Gemeinschaft verbunden bleibt trotz seiner eigenwilligen Ideen.

Seine wissenschaftliche Neugier ist unersättlich; nach seinen ersten ordensgeschichtlichen Studien zu Pierre Favre und Jean-Joseph Surin beginnt er, sich ein Wissensgebiet um das andere anzueignen. Er wird zum Mitbegründer der französischen psychoanalytischen Schule von Lacan (obwohl er selbst sich nie einer Analyse unterzieht und auch keine durchführt); 3 er unternimmt dialektologisch-linguistische Studien im Zusammenhang mit der Untersuchung, die zur Zeit der Französischen Revolution von Abbé Grégoire über den Zustand der französischen Dialekte durchgeführt wird;4 er arbeitet an Urbanisations- Projekten mit, wo es darum geht, den (städtischen) Raum zu erforschen und zu gestalten. Er lässt sich in die 1968er-Bewegung ein und charakterisiert sie in Paris mit dem Satz: «Ils ont pris la parole comme ils ont pris la Bastille.»5 Immer geht er unvoreingenommen auf alle Ereignisse zu, er will sie begreifen, wichtig ist für ihn immer wieder die Masse, der grosse Haufen, gerade auch derjenigen, die nie zu Feder greifen, die sich nur durch Handeln (Demonstrieren z. B.) und Reden äussern.6 Er denkt auch grundsätzlich über die Geschichtsforschung nach und kommt zu scharf formulierten Einsichten: «Die Geschichte wird in der Gegenwart gemacht.» «Die Geschichte beruht auf Geschriebenem und wird selbst zu Geschriebenem. » «Die Geschichte ist nie sicher.» «Die Geschichte ist eine Erzählung für die Gegenwart.»7

Treue zum Glauben

Er unterrichtete an mehreren französischen Hochschulen (Universitäten, Institut catholique), betreute Dissertationen, arbeitete in vielen Gremien, Kommissionen, Studienzirkeln, unterrichtete dann in Nord- und schliesslich auch Südamerika und kam 1985 wieder nach Paris mit einer Berufung zum Ordinarius. Doch da wurde er an Krebs krank und erlag der Krankheit innert weniger Monate. Schon Mitte August 1967 hatte ihn ein Autounfall für mehrere Monate lahmgelegt: Sein Vater lenkte das Auto, aufgebracht, dass Michel sich für das vorgesehene Mittagessen in einem Restaurant in Chambéry verspätet hatte; er überholte ein Auto und fuhr, um einem entgegenkommenden Lastwagen auszuweichen, in einen Baumstamm; Michels Mutter starb, Michel selber verlor ein Auge; seine Kiefer wurden arg zugerichtet. Als ihn ein Mitbruder ein paar Tage darauf im Spital besuchte, formulierte er nur mühselig das Wort «croire». Und diese Treue zum Glauben hat er im eingangs erwähnten Interview mehrfach bekräftigt: ja, er sei und bleibe Priester, er sei und bleibe Jesuit (aus eigener Wahl, aber nicht als Aushängeschild des Ordens: Er sei ihm treu «en distance et différence»), er sei gläubiger Christ, ob er bete oder arbeite, es falle ihm nicht ein, auf seine Gelübde zu verzichten usw. Er hat seine Universitätskollegin Luce Giard als Nachlassverwalterin eingesetzt, die seither seine Werke (verbessert, ergänzt) herausgibt oder frühere Publikationen neu publiziert.

Aus seiner Kindheit und Jugendzeit ist überliefert, dass er unheimlich viele Bücher verschlang, nächtelang las, sich von den Kameraden eher absonderte, dabei aber durchaus freundlich und auch hilfsbereit war, aber kaum an ihren Spielen oder sportlichen Betätigungen teilnahm. Er war höchst diskret über sich selbst; kurz vor dem Tod, als er gebeten wurde, für einen Sammelband einen autobiografischen Beitrag zu verfassen, verzichtete er darauf: Es sei ihm nicht möglich, das sei nicht seine Art, sich zu äussern. Viele vermuten, der Autounfall von 1967, der in ihm ein Schuldgefühl hinterliess, habe sein ganzes Leben bestimmt: Eine strenge Entschieden heit habe sich vertieft, er habe sich mehr und mehr von allen Institutionen (Familie, Hochschule, Kirche) distanziert und auf eigene Faust gearbeitet und geforscht, aber sei stets für Freunde und Mitarbeiter aufgeschlossen gewesen. War seine höchst eigentümliche Sprache auch so eine Art Selbstbehauptung und Abgrenzung gegenüber der Umwelt?

Der abwesende Gott

Nach jahrelanger Beschäftigung mit ihm merke ich, wie er mir immer vertrauter wird, aber noch nicht genügend nah. Er scheint zeitlebens ein Geheimnis in sich zu tragen, das auch mystischer Art sein könnte, eine Art Betroffenheit durch den abwesenden Gott. Denn er unterstreicht, dass das Christentum die Religion des leeren Grabes ist. Gott ist Mensch geworden, damit er nicht mehr (nur) transzendental – wie eine Sonne oder ein Ganz Anderer – wirkt, sondern eben als einer von uns. Seither kann man Gott im Menschen, im anderen Menschen, begegnen. Er ist als Menschgewordener aus seiner Absolutheit herausgekommen und Einer unter vielen geworden. Das Christentum ist heute nur eine unter vielen Religionen und wird von aussen nur so noch wahrgenommen. Mystik zeugt oft vom abwesenden Gott und von der Suche nach ihm. Der eine Christus ist hingegangen, seither können ihn nur viele Interpretationen irgendwie einfangen.

Die Mystik war ein wesentlicher Faktor im Leben und Werk de Certeaus, und Papst Franziskus unterstreicht, dass er selber mehr der mystischen als der asketischen Strömung im Jesuitenorden nahesteht. Man kann die Mystik nicht nur als geschlossenes Ideengebäude der einzelnen Mystiker weiter überliefern, sondern muss sie an die Person und an deren Zeit knüpfen. Hier wird deutlich, wie wichtig die Biografie für das Verständnis eines Werkes ist. Das gälte auch für Michel de Certeau selbst. Es gibt nur wenige Zeugnisse über ihn, die über allgemeine Aussagen hinauskämen: diskret, hilfsbereit, auf den andern zugehend, ihm das Wort erteilend, selber zurückhaltend, verschwiegen, hyperaktiv, stets unterwegs. Das ist aber auch das Kennzeichen des Mystikers: stets unterwegs, von einem Ort zum andern, nie an einer Stelle festbleibend, die Institution ist nur sichernder Rahmen, gegen den er stets stösst. Das spiegelt auch de Certeau, der stets gegen die Institutionen, v. a. die Kirche, angerannt ist. Der Untertitel der grossen Biografie von François Dosse ist mit Bedacht gewählt: «Le marcheur blessé». Er muss von der Herkunft her und von den traurigen Familienereignissen (früher Tod zweier Geschwister, eines durch Suizid) her geprägt gewesen sein. Er war von Natur aus melancholisch (nicht depressiv, davor bewahrte ihn sein Tätigkeitsdrang), bei aller Fröhlichkeit irgendwie traurig gestimmt. Man sieht nicht, dass er von den kirchlichen Ereignissen (Zweites Vatikanische Konzil …) besonders enthusiastisch geprägt gewesen wäre. Die Tatsache, dass er von bedeutenden Ordensbrüdern misstrauisch und abweisend eingeschätzt wurde (v. a. von seinem geistlichen Vater Henri de Lubac)8, wird ihm auch Schwierigkeiten bereitet haben.

Veränderung, nicht Statik

Wesentlich bleibt die geschichtliche Komponente, die Zeitdimension in allem. Nicht das Statische, Ontologische hat es ihm angetan, sondern das sich Ändernde, das Ausschreitende. An seinem Beerdigungsgottesdienst wurde auf seinen Wunsch das Lied der Chansonnière Edith Piaf «Je ne regrette rien» abgespielt (seltsam, dass dies auch das Lieblingslied von Bruder Luc aus dem Trappistenkloster Tibhirine in Algerien war)9 und ein Gedicht des oben erwähnten Mystikers Jean-Joseph Surin vorgetragen: «Ich will die ganze Welt durcheilen.»10 Man wird gut daran tun, im Gefolge de Certeaus auch Favre und Surin (und gewiss auch de Lubac) wieder hervorzunehmen, um Papst Franziskus in seinen innersten Intentionen zu verstehen.

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«Wer bin ich, dass ich über sie urteile?»

Papst Franziskus äusserte sich am 29. Juli 2013 auf dem Rückflug von den Weltjugendtagen in Rio de Janeiro auf die Frage von Journalisten nach einer Schwulenlobby im Vatikan folgendermassen: «Es wird so viel von einer ‹Schwulenlobby› geschrieben. Ich habe noch niemanden gefunden, der mir im Vatikan einen Ausweis mit dem Vermerk ‹schwul› gezeigt hätte. Man sagt, es gebe solche Leute. Ich glaube, wenn man so einem Menschen begegnet, muss man unterscheiden zwischen der Tatsache des Homosexuell- Seins und dem Betreiben einer Lobby. Denn keine Lobby ist gut. Das ist das Schlechte. Wenn eine Person homosexuell ist und den Herrn sucht und guten Willens ist – wer bin ich, dass ich über sie urteile? Der Katechismus der katholischen Kirche erklärt das sehr schön: Man darf diese Personen dafür nicht ausgrenzen, sondern muss sie in die Gesellschaft integrieren. Das Problem ist nicht, diese Tendenz zu haben, nein; wir müssen Brüder sein. Das ist das eine. Etwas anderes ist das Problem, wenn man mit dieser Tendenz eine Lobby macht» (Übersetzung: KNA ).

Diese Aussage hat rasch Verbreitung in der ganzen Weltpresse und durch alle Medien gefunden. Es wird gut sein, sie nüchtern zu betrachten. Erstens ist das eine spontane (aber nicht unüberlegte) Aussage des Papstes, die eine persönliche, keine lehramtliche Meinung ausdrückt. Zweitens erinnert sie an eine Aussage aus dem Römerbrief, wo es sich darum handelt, wie man mit Menschen umgeht, die abweichende Meinungen haben und dementsprechend handeln. Dort handelt es sich um Speisegebote (Röm 4,4.10.12.).

Papst Franziskus hat als Seelsorger gesprochen – «pastoral». Er kann sich nicht nur auf den «Katechismus der Katholischen Kirche» beziehen, den er erwähnt, sondern auch auf die Bibel. Natürlich hat Homosexualität als Veranlagung und Lebensweise keinen engen Bezug zu jüdischen Speisegeboten, der Vergleichspunkt ist die Haltung der Nächstenliebe gegenüber dem Bruder und der Schwester mit anderen Überzeugungen und Verhaltenweisen.

Vermutlich ist dies das Neue bei Papst Franziskus, dass er die Seelsorge vor die Durchsetzung der «einzig gültigen Glaubenslehre » setzt, was nun auch in den aufsehenerregenden Papstinterviews aufscheint. In der Theologie heisst diese Haltung mit dem Fachausdruck «Epikie», die in LT hK2 III, 934 f. «als Gesinnung der sachgerechten Anständigkeit» bezeichnet wird und gerade nicht als «Instrument schlauer Gesetzesumgehung».

 

 

1 Das ist im Frontartikel der vorliegenden SKZ-Ausgabe ein erstes Mal geschehen.

2 François Dosse: Michel de Certeau. Le marcheur blessé. Paris 2002, 658 Seiten. Hervorragend: Joseph Moingt: Figures de théologiens. Paris 2013, darin: Michel de Certeau, pp. 65–185 (dieser heute 98-jährige Jesuit hat 1986 beim Trauergottesdienst für de Certeau das Evangelium von der Verklärung Jesu vorgelesen: Mk 9,2–10). Marian Füssel (Hrsg.): Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion. Konstanz 2007, v. a. das biografische Porträt von Luce Giard, S. 21–32.

3 Histoire et psychanalyse entre science et fiction. Nouvelle édition revue et augmentée. Paris 1987 (Neuausgabe von Luce Giard 2002).

4 Une politique de la langue. La Révolution française et les patois: l’enquête de Grégoire. Paris 1975 (und mit einem Nachwort von Dominique Julia und Jacques Revel in der Neuausgabe 2002).

5 La prise de parole et autres écrits politiques. Edition établie et présentée par Luce Giard. Paris 1994.

6 L ’invention du quotidien. 1. arts de faire. Nouvelle édition, établie et présentée par Luce Giard. Paris 1990; 2 . habiter, cuisiner. Paris 1996.

7 L ’écriture de l’histoire. Paris 1975.

8 Dazu sorgfältig Daniel Bogner in seinem Nachwort zu Michel de Certeau: Die mystische Fabel. Berlin 2010, 512, Anm. 11.

9 Iso Baumer: Die Mönche von Tibhirine. Die algerischen Glaubenszeugen – Hintergründe und Hoffnungen. München-Zürich-Wien (2010)/42013, 46.

10 Dosse, Michel de Certeau (wie Anm. 1), 9 f. – Wichtig auch: La faiblesse de croire. Paris 1987. – Die deutschen Übersetzungen einiger seiner Werke sind hier nicht einzeln verzeichnet.

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).