Wenn der Ochs die Windel frisst

Abb 2: Windelfressender Ochse, Ausschnitt aus dem Schmiedefenster, um 1325/30, Münster Unserer Lieben Frau, Freiburg im Breisgau (Bild: Ch. Hoppe)

 

Insofern die auf uns gekommenen Zeugnisse frühchristlicher Kunst Aussagen über die Glaubenswelt der Menschen erlauben, standen in den ersten drei Jahrhunderten offenbar vor allem Symbole des ewigen Lebens im Mittelpunkt. Das wird auch mit der Tatsache zusammenhängen, dass sich die meisten Bildwerke im Kontext der Sepulkralkultur (Trauer- und Begräbniskultur), in Form von Katakombenmalerei und Sarkophagplastik, erhalten haben. Themen wie Jonas und der Walfisch, der Gute Hirte, der Pfau und die Orante sollten an den Begräbnisstätten die Hoffnung auf die Auferstehung zum Ausdruck bringen. Erst als der neue Glaube zur Staatsreligion wurde und 336 ein Weihnachtsfest zu belegen ist, tauchten auch Darstellungen der Geburt des Herrn auf, wie man sie beispielsweise auf dem Sarkophag aus dem späten 4. Jahrhundert sieht (Abb. 1)*. Ochs und Esel scheinen zu lächeln und sich zusammen mit Maria und dem Hirten über das Neugeborene in der Krippe zu freuen. Doch so anrührend die Szene auch erscheinen mag, die Darstellung folgt in erster Linie einer zugrunde gelegten Symbolik, und die beiden Tiere, auf die wir uns im Folgenden konzentrieren möchten, spielen in dieser Symbolik eine tragende Rolle.

Zunächst einmal ist zu fragen, warum Ochs und Esel überhaupt abgebildet sind. Die beiden Tiere werden im Evangelienbericht bekanntlich nicht erwähnt (vgl. Mt 1,18–25; Lk 2,1–21). Wenn dort von einer Krippe, also einem Futtertrog, die Rede ist, liegt zwar die Vorstellung nahe, dass sich dort auch Tiere befunden haben. Dass auf Bildern aber durchgängig Ochs und Esel auftauchen – und nicht etwa Schafe oder Ziegen, wie es vielleicht die Hirtenerzählung nahelegen würde –, ist kein Zufall. Für die Wahl dieser beiden Tiere dürfte die Schriftauslegung der Kirchenväter ausschlaggebend gewesen sein. Origenes († um 254) ist der früheste uns bekannte Textzeuge, der die Weihnachtsgeschichte mit Jesaja 1,3 assoziiert, wo es heisst: «Der Ochse (Rind) kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht.»

Jesaja wendet sich mit seinem Sprachbild den treulosen Israeliten zu und stellt ihnen in mahnender Absicht die Treue der ihnen vertrauten Haustiere Ochs und Esel vor Augen. Origenes interpretiert die Stelle etwas um und bezieht sie auf die Reaktion der Menschen bei der Ankunft Christi. Bei ihm steht der Ochse, weil er nach dem Gesetz als reines Tier gilt, für die Juden, die das Kind in der Krippe nicht als Messias anerkannten, während der Esel als unreines Tier die Heiden symbolisiere, die den Sohn Gottes hingegen aufnahmen (vgl. In Lucam, Homilia XIII). Als negatives und positives Lehrbeispiel einander gegenübergestellt erscheinen die Tiere auf den frühen Werken aber nicht. Während die Stelle bei Jesaja zwar das Vorhandensein von Ochs und Esel erklärt, folgt die Bildkunst ganz offensichtlich einer anderen Auslegung.

Ochs und Esel – vielseitige Deutungen

Eusebius († 339/340) bezog Jes 1,3 auf die Menschwerdung Christi, deutete aber die Tiere nicht weiter aus (vgl. Commentarius in Isaiam). Einen neuen Gedanken brachte Gregor von Nazianz († 390), indem er schrieb: «Verehre die Krippe, durch welche du mit dem Logos genährt wirst, der du ohne Logos bist. Erkenne wie der Ochs den Besitzer und wie der Esel die Krippe des Herrn, wie dir Jesaja befiehlt», denn es gebe keinen Unterschied zwischen «Reinen» und «Unreinen»; alle sollen sich vom Logos, der in der Krippe liegt, nähren (Oratio 38,17). Noch ausführlicher geht Gregor von Nyssa († nach 394) auf die Tiere ein. In der Krippe liege zwischen Ochs und Esel der Herr, damit er alles Trennende beseitige und uns zu neuen Menschen mache, indem er die Juden (Ochse) vom schweren Joch des Gesetzes und die Heiden (Esel) von der Last des Götzendienstes befreie (vgl. Oratio in diem natalem Christi). Ist dies also der Grund, warum die beiden Tiere auf dem Sarkophagrelief zu lächeln scheinen? Dürfen wir in ihnen Identifikations figuren einer neuen Menschheit sehen, die durch Christus befreit und geeint ist? Vor dem Hintergrund der kirchenväterlichen Auslegung kann man jedenfalls erahnen, welch weitreichende Aussagen sich mit dem tierischen Duo für die damaligen Betrachter verbinden konnten.

In späteren Jahrhunderten wurde diese tiefe Symbolik mitunter allzu wörtlich genommen. Zahlreiche Details und Ausschmückungen zu Ochs und Esel fanden so Eingang ins Narrativ. Im apokryphen Matthäusevangelium, das wahrscheinlich im ersten Viertel des 7. Jahrhunderts entstanden ist, wird erzählt, dass Ochs und Esel dem Kind huldigten (vgl. Ps-Mt 14). Nach der Legenda Aurea (um 1260) haben die Tiere, gewissermassen aus Ehrfurcht, von dem Heu in der Krippe nichts gefressen. Ganz im Gegensatz dazu ist auf einem der mittelalterlichen Fenster im Münster zu Freiburg im Breisgau dargestellt, wie der Ochse beim Heufressen die Windel des Neugeborenen erwischt (Abb. 2). Josef schreitet beherzt ein und schlägt dem Tier mit seinem Gehstock auf die Nase, während Maria sich bereithält, das Kind aufzufangen. Was ist der Sinn dieser Darstellung? Geht es auch hier um eucharistische Kontexte? Haben wir es gar mit einem versteckten Antijudaismus zu tun, mit einer Darstellung von Gewalt gegen Juden (Ochse)? Die plausibelste Erklärung ist wohl, dass hier versucht wurde, die menschliche Natur Jesu und zugleich das Weihnachtsgeschehen in seiner Menschlichkeit dem Betrachter humorvoll näherzubringen. Knapp 700 Jahre später werden im Freiburger Münster Kinderführungen unter dem Titel «Wo der Ochs die Windel frisst» angeboten. Das Konzept des mittelalterlichen Künstlers scheint auch heute noch aufzugehen.

Sie knien vor dem Kind

Ungezügelte Erzählfreude kann allerdings den Blick auf den Gehalt der Heiligen Nacht verstellen, weshalb unter Theologen auch Stimmen laut wurden, die vor einer Banalisierung und Lächerlichmachung der Heilsgeschichte warnten. In der Zeit der Mystik führte das Bemühen, Sakralität und Wirklichkeitsnähe miteinander zu versöhnen, zu neuen Zusätzen. In den Meditationes Vitae Christi, einem um 1300 im franziskanischen Kontext verfassten Andachtstext, heisst es etwa, die Tiere hätten – so als seien sie mit Vernunft begabt – Christus erkannt, knieten nieder und hielten ihre Mäuler über die Krippe, um den Knaben mit ihrem Atem zu wärmen.1 Man kann darüber spekulieren, ob solche Motive nicht auch von Bildern beeinflusst worden sind. Der Text inspirierte im Spätmittelalter wiederum Künstler bzw. Auftraggeber, das Niederknien von Ochs und Esel genau so zu zeigen, was aus heutiger Sicht zu vielleicht etwas kurios wirkenden Darstellungen führte. Als Beispiele sind zu nennen das Pietro Miniato zugeschriebene Fresko an der Eingangswand von Santa Maria Novella in Florenz (um 1399–1406) oder Fra Angelicos Armadio degli argenti (1451–53, Florenz). Auf anderen Bildern werden Ochs und Esel hingegen ganz tierisch gezeigt. Bei einem Bologneser Meister reckt der Esel seinen Kopf in die Höhe und stösst einen Schrei aus (Abb. 3). Nach dem Physiologus, einer frühchristlichen Naturlehre, brüllen die Wildesel in der Nacht der Wintersonnenwende zweimal, was als Gleichnis für den Teufel aufgefasst wurde, der sich in der Heiligen Nacht empörte, weil mit dem Christkind ein neues Zeitalter anbrach.

Die Frohe Botschaft gilt allen

Für Bilder, auf denen Tiere aktiv am Geschehen teilhaben, lassen sich nicht allzu viele Beispiele finden. Gerade in den folgenden Jahrhunderten wurden Ochs und Esel meist als stumme Zeugen der Geburt gezeigt, waren für Maler mitunter nur noch Gelegenheit, ihr Können im Bereich der Tiermalerei unter Beweis zu stellen. Der symbolisch-gleichnishafte Charakter dieser Tierdarstellungen rückte dabei mehr und mehr in den Hintergrund, doch blieben sie stets Teil der Ikono- grafie. Nicht zuletzt deshalb gehören sie heute für die meisten wie selbstverständlich dazu, während die wenigsten wissen, was Ochs und Esel im Weihnachtsbild ursprünglich bekundeten. Die Tiere zeigten an, dass sich die Frohe Bot- schaft an alle Menschen richtet; ihr Stehen am Futtertrog eröffnete den Gedanken an die Eucharistie, an das wahre Brot des Lebens (vgl. Joh 6). Und sie standen für die Frage, wie man in rechter Weise Freiheit und Vernunft einsetzt, um Christus als den Herrn anzunehmen und sich durch ihn befreien zu lassen.

Fabian Wolf

 

1 Vgl. Ragusa, Isa; Green, Rosalie B., Meditations on the Life of Christ. An illustrated Manuscript of the Fourteenth Century, Paris, Bibliothèque Nationale, MS. Ital. 115, Princeton 1961, 31–42; Stallings-Taney, Mary (Hg.), Iohannis de Cavlibvs. Meditaciones vite Christi. Olim S. Bonauenturo attributae (Corpus Christianorum, Continuatio mediaevalis, 153), Turnhout 1997, 30–36.


Fabian Wolf

Dr. Fabian Wolf (Jg. 1981) studierte Kunstgeschichte, katholische Theologie und Kognitionswissenschaft in Freiburg i. Br. und Rom und promovierte an der Goethe-Universität Frankfurt. Nach seiner Ausbildung zum Kurator am Frankfurter Städel Museum ist er seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Staatl. Schlösser und Gärten Hessen.

 

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