Zwischen Individualität und Institution

Cover (Bild: faz.net)

Genau zwischen diese beiden Pole hat der französische Denker Michel de Certeau (1925–1986) ausgerechnet die Mystik gestellt. Wie kommt er dazu, sich mit ihr zu befassen – und hat diese heute überhaupt noch Aktualitätswert? Bevor wir uns aber dieser Frage zuwenden, werfen wir gleich eine neue auf: Steckt nicht der gläubige Christ, v. a. der katholische, genau in diesem Spannungsbogen? Gibt es nur ein Entweder-oder? Oder nicht doch ein Sowohl-als-auch? Es ist ja erstaunlich, dass Papst Franziskus gerade diesen Jesuiten als für sein Leben prägend hingestellt hat. Wir werden diesem Tatbestand in einem zweiten Beitrag in dieser SKZ-Ausgabe nachgehen. Hier soll ein Grundlagenwerk von Michel de Certeau kurz vorgestellt werden.1

Ein Denker des «Bruchs»

Michel Jean Emmanuel de la Barge de Certeau entstammt dem mittleren Landadel Savoyens, ältestes von vier Kindern, und entscheidet sich nach einem Studium der alten Sprachen und der Philosophie zum Priestertum im Jesuitenorden. Seine blendende Intelligenz veranlasst seine Obern, ihm Persönlichkeiten aus der Ursprungszeit des Ordens zum Studium anzuvertrauen. So ediert er mit philologischer Genauigkeit und innerem Spürsinn das Tagebuch (Mémorial) von Peter Faber, dem Gefährten des Ignatius von Loyola.2 Dann macht er sich an den Exorzisten und Mystiker Jean- Jacques Surin (1600–1665), von dem er zuerst ein geistliches Werk und dann die gewaltige Korrespondenz (über 1800 Seiten!) ediert.3 Hier stösst er auf eine im ausgehenden Mittelalter und bis heute ausufernde Form religiös geprägten Wahnsinns: die angebliche Teufelsbesessenheit. Im Zentrum steht eine ganze Epidemie, die das Städtchen Loudun von 1632 bis 1637 heimsucht, und zwar in einem Kloster der Ursulinen (und dann darüber hinausschwappend). 4 Als Verursacher wird der Pfarrer des Städtchens hingestellt und nach peinlichsten Verhören von kirchlicher, medizinischer und staatlicher Seite zum Tod durch lebendiges Verbrennen verurteilt und am gleichen Tag hingerichtet. Ganz präzise Forschungen stellen ganz klar heraus, dass erstens soziale Umstände mitwirkten (kurz vorher die Pest, die grosse Teile der Bevölkerung fortgerissen hatte, noch vorher die Religionskriege zwischen Katholiken und Protestanten), Lokalneid (der Pfarrer war ein Frauenheld und bei den Ehemännern verhasst), Machtanspruch (Kardinal Richelieu mischte sich ganz persönlich ein), Medienrummel (die Geschichte wurde durch ganz Europa getragen und führte ein Riesenpublikum an die öffentlichen Exorzismen durch einen Haufen von Klerikern), die Persönlichkeitsstrukturen der betroffenen Klosterfrauen, v. a. der jungen adligen Priorin – nur waren ganz gewiss keine Teufel daran beteiligt; diese wurden von den daran interessierten Autoritäten herbeigeredet.5 In der Folge befasste sich de Certeau immer mehr mit randständigen Figuren und Ereignissen, bis zu einer insgesamt verständnisvollen Beurteilung der Studentenbewegung von 1968. Auch in seinem akademischen wie privaten Lebenslauf musste er manche«Brüche» aushalten und Neubeginne wagen, bis er viel zu früh innert weniger Monate an einem Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Nie aber hatte er seinen Orden aufgegeben, trotz grosser Spannungen.

Und die Mystik?

Michel de Certeau befasst sich in seinen weitläufigen, Jahrzehnte dauernden Studien v. a. mit der Mystik des 16. und 17. Jahrhunderts, und darin mit Vorliebe eben mit eher zweitrangigen Figuren. Natürlich kennt er genau Teresa von Avila oder Juan de la Cruz6, er kennt (und schätzt) auch Thérèse von Lisieux, aber Jean-Joseph Surin hat ihn angesteckt: Dieser fromme, kluge Seelenführer verfällt vor lauter Exorzismus selber dem Wahnsinn (er glaubt, von der schliesslich geheilten Ursulinenpriorin die Besessenheit stellvertretend übernommen zu haben), aber nach 20 Jahren völlig wirren Lebens ist er grundgesund und schreibt ein kluges B uch des geistlichen Lebens («Guide spirituel »). Certeau stellt fest, dass die Mystiker von der Kirchenleitung meist gar nicht gern gesehen wurden, sie wirkten durch ihr Verhalten und ihr Reden irgendwie subversiv. Was steckt hinter dieser Diskrepanz zwischen einer vehement bezeugten Erfahrung und der jahrhundertelang überlieferten offiziellen Kirchenlehre? Dieser Frage geht er in dem hier anzuzeigenden Buch ausführlich nach.

Das Buch widerspiegelt meiner Ansicht nach ein verborgenes persönliches Drama: Anhand der jahrzehntelangen Forschungen des Jesuiten legt er sich Rechenschaft darüber ab, wie sehr Religiöses verquickt ist mit sonst Historischem, Sozialem, Wirtschaftlichem, Psychologischem – und ganz entscheidend mit dem Sprachlichen, den Möglichkeiten, sich auszudrücken und sich in Beziehung zu setzen. Die «Welle» des Mystischen in diesen Jahrhunderten, angebahnt natürlich schon vorher (man denke an die flämischen, deutschen, italienischen usw. Mystiker des Mittelalters), geht einher mit sozialen Umbrüchen, dem Zerfall der kirchlichen Einheit, der staatlichen Macht, der wirtschaftlichen Sicherheit, des sozialen Gefüges, und so bricht sich die Suche nach neuen Sicherheiten Bahn in einem «Gelände», das Sicherheit verspricht. Certeau hantiert sehr häufig mit dem Begriff des Topischen (topos: Ort), sei es geographisch, sei es kirchlich-hierarchisch (die «Stände» und Orden usw. bilden auch Orte der Gemeinschaft). Aber was Certeau hier bei den «andern» entdeckt, geht ihn wahrscheinlich höchstpersönlich an. Seine scharfe Intellektualität, seine Neugier, seine Gewandtheit in den verschiedensten Wissenschaften (ausser der Theologie und Philosophie sind dies: Linguistik, Psychoanalyse – v. a. Freud und Lacan, sodann Literatur, Geschichte, Philologie) führt ihn an die Ränder allen Wissens und bringt ihn in die Gefahr, darüber hinauszukippen. Davon legt die Sprache Rechenschaft ab, die nun wirklich bisweilen kaum mehr verständlich ist, so verschlungen, frappant, allusorisch, metaphorisch ist sie, dass man verzweifeln könnte. Leider hat er die Kritik an dieser seiner schwierigen Sprache erbost zurückgewiesen: über Schwieriges könne man nicht «leicht» reden (worin er m. E . nicht Recht hat: Man muss es versuchen!).

Zugänge zum Schwierigen

Wer den Mut und die Geduld hat, sich auf das Abenteuer der Lektüre de Certeaus einzulassen, wird reich belohnt. Der Übersetzer des vorliegenden Buches hat ein Meisterwerk vollbracht – häufig wirkt eine Übersetzung eher verkrampfter, gestelzter als das Original, und das ist hier gerade nicht der Fall. Jedenfalls wird man am besten mit einem Kapitel beginnen, das leichteren Zugang verspricht, und die Einleitung erst am Schluss lesen. Darin entschuldigt sich der Verfasser dafür, dass einer, der über Mystik schreibt, selber daran ja gar keinen Anteil hat, also eigentlich «inkompetent» ist, er wandert vor einer verschlossenen Türe auf und ab und hofft, hie und da durch einen Spalt ins Geheimnis hineinschauen zu können. Zum Glück haben viele Mystiker das «Unsagbare» dennoch in Sprache gefasst, am geeignetsten dazu ist die beschwingt-poetische Sprache und nicht die pedantisch-lehrhafte. Sehr empfehlenswert ist der Sammelband «Glaubens- Schwachheit»,7 worin Certeau für einen Glauben plädiert, der zu seiner Schwäche steht und somit die Linie der Kenose des Gottessohnes ins Menschsein fortsetzt, ganz im Gegensatz zu den Restaurationsversuchen neuerer Zeit, wieder ein fixiertes Credo einzuhämmern, das kaum jemand mehr nachvollziehen kann. Wir müssen diese «faiblesse de croire» aushalten und somit in Solidarität mit jenen treten, die gar nicht(s) mehr glauben zu können vermeinen. So wird heutige Mystik wohl wieder andere Formen annehmen als früher – und doch weiterhin persönliche Gotteserfahrung weitergeben.

1 Michel de Certeau: Mystische Fabel. Aus dem Französischen von Michael Lauble. Mit einem Nachwort von Daniel Bogner. (Suhrkamp) Berlin 2010 (Franz. Ausgabe: La fable mystique, 1: X VIe-XVIIe siècle, Gallimard Paris 1982. – Soeben ist posthum der 2 . Band mit dem gleichen Titel herausgekommen: Edition établie et présentée par Luce Giard, Gallimard Paris 2013).

2 Bienheureux Pierre Favre: Mémorial. Traduit et commenté par Michel de Certeau, s.j. Paris 1960 (= Collection «Christus » 4); auf Deutsch: Peter Faber: Memoriale. Das geistliche Tagebuch des ersten Jesuiten in Deutschland. Nach den Manuskripten übersetzt und eingeleitet von Peter Henrici. Einsiedeln-Trier 21989 (Peter Henrici erwähnt die Ausgabe von Michel de Certeau im Vorwort und fügt bei: «Diesem verdienten Faber-Forscher verdankt unsere Übersetzung das Beste, was sie hat; auch meine Anmerkungen sind weitgehend nur Auszüge aus den seinen.»).

3 Jean-Joseph Surin: Guide Spirituel pour la perfection. Texte établi et présenté par Michel de Certeau, s.j., Paris 1963 (= Collection «Christus» 12); Jean-Joseph Surin: Correspondance. Texte établi, présenté et annoté par Michel de Certeau. Préface de Julien Green. Paris 1966 (= Coll. «Bibliothèque européenne»).

4 Michel de Certeau: La possession de Loudun. Paris 1970 (Neuausgabe: Gallimard/Julliard 1990 und wieder 2005). – I n der Folge wird der Name des Autors nicht mehr angegeben.

5 Mit massenhysterischen Phänomenen hatte sich de Certeau schon anhand des Buches «La terra del rimorso» (Milano 1961) des italienischen Ethnologen Ernesto de Martino befasst: Rezension in: Etudes t . 325 oct. 1966, 429– 430; vgl. auch Iso Baumer: Rezension des gleichen Buches in: Anthropos 61 (1967), 917–918 (bezogen auf die franz. Übersetzung des Buches) und umfassender in: Iso Baumer: Mythos und Geschichte in Süditalien, in: Ders.: Tradition im Wandel. Beiträge zur italienischen Volkskunde, Basel-Bern 1967, 42–54.

6 Er hat wenige Monate vor seinem Tod z u den «Aphorismen» des Johannes vom Kreuz eine feinsinnige Einführung geschrieben: Jean de la Croix: les dits de lumière et d’amour. Edition bilingue. Traduction de Bernard Sesé. Ed. José Corti Paris 1990 (Préface de Michel de Certeau: pp. 13–21).

7 Aus dem Französischen von Géraldine Bertrand, Dominik Betrand-Pfaff, Michael Lauble und Bernhard Teuber. Stuttgart 2007 (franz. Original: La faiblesse de croire. Texte établi et présenté par Luce Giard. Paris 1987).

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).