Das lang gezogene Strassendorf Waltensburg/Vuorz in der Surselva lag früher an der Transitroute von Chur nach Disentis, die dann über den Lukmanierpass ins Tessin weiterführte. In der Mitte des Dorfes liegt auf einer Anhöhe die kleine reformierte Kirche.
Die nach Nordosten gerichtete Anlage besteht aus einem kleinen Schiff und einem leicht eingezogenen, quadratischen Chor. Für Lichteinfall sorgen eine Scharte aus dem Hochmittelalter, zwei Fenster aus dem Jahr 1450/51 und zwei spitzbogige Fenster aus den Jahren 1480 und 1510. Links vor der Kirche steht ein Glockenturm mit einer achtkantigen barocken Kuppelhaube. Ein in Riegelbauweise gestalteter Vorbau verbindet Kirche und Turm.
Die Kirche steht auf den Überresten eines Vorgängerbaus aus dem Jahr 1000. Unterhalb der Kanzel ragt ein Felsspitz dieses ersten Gotteshauses aus dem Boden. Um 1300 entstand die heutige Kirche, die Desiderius und Leodegar geweiht war. Bekannt ist sie vor allem durch ihre Wandmalereien eines unbekannten Künstlers aus der 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Der Kunsthistoriker Erwin Poeschel erachtete den Passionszyklus der Kirche als dessen Meisterwerk und gab ihm deshalb den Namen Waltensburger Meister.
Ausdrucksstarke Bilder
Die Fresken des Passionszyklus, der auf zwei Ebenen aufgeteilt ist, befinden sich auf der Nordseite des Kirchenschiffs. Der Zyklus beginnt oben links mit dem Abendmahl. Dabei sitzt Judas als einziger der Jünger vor dem Tisch und ist im Profil abgebildet – im Mittelalter ein Zeichen für das Böse. Jesus reicht ihm den Bissen Brot. Am Ende des Tisches ist Jesus noch einmal abgebildet: Er wäscht dem sich sträubenden Petrus die Füsse. Es folgt die Gethsemaneszene und dann die Verhaftung Jesu. Hier wird Jesus von allen Seiten bedrängt. Ein Scherge reisst an seinem Ärmel, ein anderer packt ihn an der Kehle. Gleichzeitig versucht Jesus mit seinem anderen Arm, Petrus daran zu hindern, Malchus das Ohr abzuhauen, während er gleichzeitig von Judas den Kuss des Verrats empfängt. Die Szene vor Pilatus schliesst die obere Reihe ab. In der unteren Ebene wechselt die Erzählrichtung von rechts nach links. Die Szene der Dornenkrönung macht einen fast spielerischen Eindruck. Erst auf den zweiten Blick wird klar, dass die vermeintlichen Tanzschritte in Wahrheit daher rühren, dass die beiden Schergen je einen Fuss auf den Thron setzen, um die Stöcke mit mehr Kraft auf die Dornenkröne zu drücken. Neben dem Kreuz Jesu stehen Maria und Johannes. Er hält Maria tröstend fest, während sie vor Schmerz – symbolisiert durch ein Schwert, das in ihrer Brust steckt – zusammensinkt. Auch die Grablegung, die den Zyklus beschliesst, ist eine sehr emotionale Szene. Die eindrücklich gestalteten Gesten und die Mimik der Figuren zeigt das grosse Können des Waltenburger Meisters.
An den Passionszyklus schliessen sich auf der unteren Ebene je eine Szene des Martyriums des heiligen Sebastians und eine Szene aus der Nikolauslegende an. Auf der oberen Ebene beginnt ein Apostelfries, erweitert um die Bistumsheiligen Luzius und Florinus, der sich über die Ostseite zur Südseite erstreckt. Durch die Vergrösserung des Chorbogens wurden leider vier Apostel zerstört.
Auf der südlichen Aussenseite befinden sich noch drei weitere Malereien des Meisters. Das erste Fresko ist wiederum zweigeteilt: oben eine Dreikönigsdarstellung, unten ein Heiligenfries mit dem Erzengel Michael als Seelenwäger. Rechts folgen eine Beweinung Christi und eine Christophorus-Darstellung.
Die kleine Kirche von Waltensburg hat aber noch mehr Malereien zu bieten: An der Eingangsfassade begrüsst ein Margaretenzyklus die Eintretenden. Vom gleichen Künstler stammt die Versuchung des Antonius an der Südwand des Kirchenschiffs (2. Hälfte 14. Jh.). Der ausgemalte Chor stammt von einem weiteren unbekannten Künstler (1450). Ein monumentaler Christophorus (1470–1480) an der südlichen Aussenwand aus der Werkstatt von Cristoforo und Nicolao da Seregno rundet das reiche Bildprogramm der Kirche ab.
Rosmarie Schärer