Ein alter, doch oft unbekannter Ritus

In Teil II über den ambrosianischen Ritus (Teil I in SKZ 16/2019) geht es um die Unterschiede in der Feier des Kirchenjahres.

 

Die Fastenzeit beginnt nicht am Aschermittwoch, sondern erst am Sonntag danach. Dementsprechend wird die Fasnacht in den Gebieten des ambrosianischen Ritus vom Donnerstag bis zum ersten Fastensonntag an nur drei Tagen gefeiert. Der Ritus des Ascheauflegens erfolgt am ersten Fastensonntag und an den Freitagen der Fastenzeit darf keine Eucharistie gefeiert werden. Auch die Fastensonntage tragen Themennamen: «All’inizio» / «Della Samaritana» / «Di Abramo» / «Del cieco» / «Di Lazzaro»1.
Die Zeit nach Pfingsten, unsere «Wochen im Jahreskreis», ist viel deutlicher strukturiert und unterteilt:

• Es gibt die «settimane dopo Pentecoste» («Wochen nach Pfingsten») bis zum 29. August;

• dann die «settimane dopo il martirio di San Giovanni il precursore» («Wochen nach dem Martyrium des Vorläufers Johannes») bis zum 3. Oktobersonntag, dem Hochfest der ambrosianischen Gebiete, dem Patronatsfest des Mailänder Doms («chiesa madre di tutti i fedeli Ambrosiani»);

• und dann abschliessend die «settimane dopo la dedicazione del duomo di Milano» («Wochen nach dem Weihetag des Mailänder Doms»).

Die hohe Bedeutung dieser beiden Hochfeste, das des Martyriums des Täufers und das des Patroziniums in Mailand, ist in der römischen Liturgie Beheimateten, aber auch der Tessiner Bevölkerung natürlich weniger einsichtig als Menschen in der Erzdiözese. Weitere Mailänder Hochfeste wie das des heiligen Karl Borromäus spielen hingegen kaum eine Rolle.

Leseordnung nach thematischem Aufbau

Unter Erzbischof und Kardinal Carlo Maria Martini (1927–2012) wurde als zweiter grosser Unterschied zudem die Leseordnung für das ganze Kirchenjahr radikal umgestaltet. Wir «Römer» sind es ja gewohnt, dass unsere Leseordnung ausserhalb der fixen Fest- und Vorbereitungszeiten von einer fortlaufenden Lesung der drei synoptischen Evangelien, zu denen alttestamentliche (mehr oder weniger passende) Texte ausgewählt sind, und einer völlig zufällig dazu geordneten zweiten fortlaufenden Lesung der neutestamentlichen Briefe geprägt ist. So befinden wir Liturgen und Prediger uns je nachdem im «Matthäus, Markus- oder Lukas-Jahr». Die Thematik der Evangelien wechselt meist bunt, eine fortlaufende theologische Homilie ist schwierig. Das Johannes-Evangelium dominiert die Fasten- und Osterzeit.
Hier setzt die vom ausgewiesenen Bibliker Martini angestossene (und unter seinem Nachfolger Dionigi Tettamanzi 2008 approbierte) Neuordnung im ambrosianischen Ritus an. In der Einführung zum «Messale ambrosiano» wird als Ziel formuliert: «Il criterio di una certa unità tematica fra le tre letture al fine i favorire una comprensione untiaria del mistero celebrato».2 So sind den Zeitabschnitten Pfingsten bis Martyrium, Martyrium bis Errichtung des Domes und Errichtung bis Advent zunächst theologische Themenblöcke und dann ihnen entsprechende biblische Texte zugeordnet. So vertiefen die Sonntagslesungen zwischen Pfingsten und Johannes d. Täufer die christologischen und trinitarischen biblischen und dogmatischen Aussagen (als «il meraviglioso disegno d’amore», der «Liebesplan Gottes»). Diejenigen zwischen Johannes d. Täufer und dem Mailänderfest beschäftigen sich mit dem Zeugnis, zu dem die Christenmenschen gerufen sind. Hier ist der Platz vieler uns bekannter Texte aus der Bergpredigt und den Gleichnissen. Und zwischen dem Weihefest und Sankt Martin stehen wie im römischen Ritus die endzeitlich-apokalyptischen Themen.
Generell kann gesagt werden, dass das Johannes-Evangelium eine deutlich stärkere Stellung als die Synoptiker erhält und dass sowohl die alt- wie die neutestamentlichen Lesungen sorgfältiger und bibeltheologisch deutlich kongruenter ausgewählt worden sind. Das dürfte aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Erfahrungen mit der römischen Leseordnung (die uns ja manchmal fast verzweifeln lassen) seit Jahrzehnten vorlagen. Die Bevölkerung in den Valli empfindet die neue Leseordnung hingegen als deutlich schwieriger als zuvor, ja mir gegenüber wurden manche ausgewählten Texte gar als «brutte» («hässlich») bezeichnet! Der Prediger umgekehrt steht vor der speziellen Herausforderung, auch über eher sperrige Abschnitte der Evangelien zu sprechen, die er lieber überlesen würde!

Heinz Angehrn

 

1 «Zum Beginn» / «Sonntag der Samaritanerin» / «Sonntag Abrahams» / «Sonntag des Blindgeborenen» / «Sonntag des Lazarus».

2 Die thematische Einheit aller drei Lesungstexte mit dem Ziel, den Leitgedanken der Jahreszeit besser zu verstehen.

 


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.