Ehe für alle wirft kulturelle Fragen auf

In Deutschland wurde eine breite öffentliche Debatte über die Ehe für alle durch eine einfache Änderung im Bürgerlichen Gesetzbuch vermieden. Das Thema sollte aber auch nicht dem Meinungstrend überlassen werden.

Denn es geht nicht nur um die Anpassung einiger rechtlicher Paragrafen, sondern auch um Fragen der Kultur, an der alle Bürgerinnen und Bürger, der Staat und das Recht genauso partizipieren wie die Kirchen und die anderen Glaubensgemeinschaften.

Handelt es sich bei der Verschiedengeschlechtlichkeit als einer Voraussetzung für das Eingehen einer Ehe tatsächlich um einen diskriminierenden Ausschluss Gleichgeschlechtlicher und beim Institut der eingetragenen Partnerschaft um eine «Deklassierung aufgrund biologischer Unterschiede», wie in der Begründung der Gesetzesinitiative behauptet wird?1 Zumindest ist das eine ganz neue Lesart, basierend auf der Logik von Inklusion/Exklusion des menschenrechtlichen Gleichheitsbekenntnisses. In der bisherigen Rechts- und Verfassungsgeschichte galt das Recht auf Heirat einschliesslich des Rechts, mit einem Partner der Wahl Kinder zu zeugen, als Konsequenz der konstitutionellen Verschiedenheit von Mann und Frau, ihres Wunschs nach intimer Gemeinschaft und ihrer Fähigkeit, miteinander Kinder zu bekommen. Die Verschiedengeschlechtlichkeit manifestiert sich in Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und frühkindlicher Versorgung. Sie bleibt auch im Zuge der Herstellung bürgerlicher Gleichheit und angesichts des Wissens um den Konstruktcharakter der Geschlechtsrollen und um Übergänge und Fälle von Uneindeutigkeit bestehen. Sie ist für die Entstehung neuer Menschen und den Fortbestand von Gesellschaft und Menschheit unverzichtbar.

Es ist aber kaum bestreitbar, dass trotz aller bisherigen Bemühungen zur Entkriminalisierung der Homosexualität faktisch weiterhin Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung bestehen. Nach aktuellem wissenschaftlichem Erkenntnisstand liegt das durchaus innerhalb der Bandbreite und der Herausbildung von sexuellen Orientierungen. Vor dem Hintergrund der Erweiterung des diesbezüglichen Wissens ist der früheren Disqualifizierung der Homosexualität als «widernatürlich» bzw. «krankhaft», die in kirchlichen und religiösen Kreisen, aber auch in Medizin, Psychologie und Pädagogik vertreten wurde, die Grundlage entzogen. Die Diskriminierung von Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung ist moralisch illegitim. – Das gilt auch für die kirchliche Lehre, die sich in den letzten Jahren dazu durchgerungen hat, homosexuelle Orientierung als Veranlagung anzuerkennen und die Diskriminierung von Menschen mit solcher Veranlagung als ungerecht anzusehen. Diese Einsicht schliesst ein, dass Personen mit dieser Veranlagung in ihren sozialen Beziehungen und in ihrem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung und rechtlichem Schutz Respekt erfahren müssen.

Das Kindeswohl im Blick

Lebensgemeinschaften bilden, die auf gegenseitiger Zuneigung gründen, eine Zusage von Solidarität mit dem Anderen in guten wie in schlechten Tagen beinhalten und auf die gemeinsame Zukunft hin angelegt sind, können gleichgeschlechtliche mit verschiedengeschlechtlichen Liebes- und Lebensgemeinschaften gemeinsam haben.

Der herkömmliche Begriff von Ehe als Institution wollte diese drei Elemente stärken und sichern, durch die Feierlichkeit des Versprechens, durch den offiziellen Charakter der Zeremonie und durch den Schutz der eherechtlichen Bestimmungen. Hinzu kommt aber als weiteres Element, aus dem das Institut der Ehe staatlich wie kirchlich bislang seine stärkste Plausibilität bezog, dass es dem Paar einen geschützten Raum garantieren wollte, in dem Kinder entstehen, gefördert, versorgt und in ein selbstständiges Leben geleitet werden können. Der in vielen Verfassungen zugesagte «besondere Schutz der staatlichen Ordnung» auch für die Ehe (und nicht erst für die Familie) gilt nicht in erster Linie der Absicherung der Zuneigung, sondern dem prospektiven Kind und den Bedingungen seines Aufwachsens; hierzu gehört nämlich auch, dass es Eltern hat, die ihre Elternrolle von den äusseren Gegebenheiten her auch ausfüllen können.

Steht nun gleichgeschlechtlichen Paaren nicht dieselbe Option einer Ausweitung auf gemeinsame Kinder offen, zwar nicht auf demselben biologischen Weg, aber mittels des rechtlichen Instituts der Adoption oder mittels der Anwendung von medizinischen Assistenzverfahren? Wenn die parlamentarische Initiative in ihrer Begründung explizit sagt, dass die Öffnung der Ehe für alle den Gesetzgeber nicht dazu verpflichte, «homosexuellen Paaren die Adoption zu ermöglichen», nimmt sie Rücksicht auf damit zusammenhängende Bedenken, verspricht aber etwas, was nach aller Erfahrung unwahrscheinlich ist. Denn in vielen Ländern, die die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt haben, war die Forderung und gerichtliche Erzwingung der Möglichkeit zur Volladoption gerade der Schlüssel zur Öffnung der Ehe für alle. Gleichwohl sind Adoption und Reproduktionsmedizin substitutive Wege, die auf das Mitwirken von dritten Personen in Gestalt von Samenspende, Leihmutterschaft bzw. Freigabe eines geborenen Kindes angewiesen sind. Weil in allen diesen Fällen auch die Herkunft des betreffenden Kindes und nicht nur die Elternschaft tangiert ist, bedarf es hier zur Wahrung des Kindeswohls zusätzlicher rechtlicher Sicherungen.

Kirche unter Rechtfertigungsdruck

Die theologische Lehre von der Sakramentalität der Ehe würdigt einerseits die Unverbrüchlichkeit des Treueversprechens, andererseits die (prinzipiell mögliche) Mitwirkung bei der Schaffung neuen Lebens sowie die Erfahrung, bei der Realisierung des Gemeinschaftsprojekts im Ablauf der Zeit und angesichts der Unwägbarkeit von Belastungen im Alltag auf die Hilfe Gottes angewiesen zu sein.

Könnte eine Gesellschaft mit unterschiedlichen Auffassungen über die Ehe zurechtkommen? Eine Zeit lang sicher. Aber man sollte sich keine Illusionen machen. Auf Dauer, also wenn sich neue Generationen damit befassen, wird das immer weniger gelingen. Das kirchliche Leitbild der Ehe würde im Vergleich zum staatlichen Eheverständnis wohl unter permanenten Rechtfertigungsdruck geraten. Insofern liegt es an der spezifischen staatskirchenrechtlichen Konstellation der Schweiz und dem derzeit guten Einvernehmen, dass die Unterstützenden der parlamentarischen Initiative in der Begründung ausdrücklich versichern, dass nicht beabsichtigt werde, «den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften vorzuschreiben, wer bei ihnen ‹vor den Altar› treten darf». Und auch die Reaktion der Schweizer Bischofskonferenz ist zurückhaltend, keine Stellung zur Öffnung der Ehe im Zivilrecht nehmen zu wollen, aber doch eindringlich vor ihr zu warnen.

Ein Lösungsansatz

Vor diesem Hintergrund kann man erahnen, wie eine grundsätzliche Lösungsperspektive aussehen könnte zwischen dem Bestehen auf der Verschiedenheit von christlich verstandener und staatlicher definierter Ehe einerseits und einer Angleichung an das, was mit Rücksicht auf ein liberales Gesellschaftsbild und einen modernen Rechtsstaat unabweislich erscheint, andererseits: Es ist das Bemühen, beides zusammenzuhalten. Das könnte nicht zuletzt dadurch signalisiert und unterstützt werden, dass «Lebensgemeinschaften auf Dauer» als Oberbegriff anerkannt und nicht als Konkurrenzkategorie zur Ehe aufgebaut wird. Unter den Lebensgemeinschaften auf Dauer könnte die Ehe sich durch ihre Offenheit für Kinder auszeichnen. Unter sprachpolitischem Aspekt ist bemerkenswert, dass die Antwort der Bischöfe die parlamentarische Initiative nicht einfach ablehnt, sondern statt ihrer für eine Anpassung des Gesetzes über die eingetragene Partnerschaft plädiert. Dies wäre auch in der Weltkirche, früher vorgebracht oder wenigstens von Anfang an entschieden unterstützt, eine echte Alternative gewesen, den berechtigten Schutzinteressen gleichgeschlechtlicher Paare entgegenzukommen und dennoch am Begriff der Ehe für die Verbindung von Mann und Frau festzuhalten.

Was auf jeden Fall schon heute ginge, wäre die Einführung eines liturgisch eingebetteten Segens der Kirche für das Gelingen gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften neben der Feier des Ehesakraments in der überlieferten Weise. Inwieweit die Geste des Sich-segnen-Lassens auch als sakramental verstanden werden könnte, ist eine Frage, die theologisch gründlich diskutiert werden muss. Dringlicher ist zunächst, dass die Kirche sich nicht dort verweigert, wo das Versprechen abgegeben wird, in Zukunft für den Partner bzw. die Partnerin dasein zu wollen. Und warum sollte sie dabei nicht Gottes Geist herabrufen, damit die Gemeinschaft trotz der Begrenztheit ihrer Subjekte gelingt?

Konrad Hilpert

 

1 Der Wortlaut der parlamentarischen Initiative, ihre Begründung sowie Kommissionsberichte und Stellungnahmen finden sich unter www.parlament.ch/de/ratsbetrieb

 


Prof. em. Dr. Konrad Hilpert

Prof. em. Dr. Konrad Hilpert (Jg. 1947) studierte Philosophie, katholische Theologie und Germanistik in Freiburg i. Br. und München. Er war von 1990 bis 2001 Professor für praktische Theologie und Sozialethik an der Universität Saarbrücken, von 2001 bis 2013 Ordinarius für Moraltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und von Frühjahr 2016 bis Sommer 2017 lehrte er als Gastprofessor an der Universität Luzern. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich systematische Ethik, Ethik der Menschenrechte, Beziehungsethik, Bioethik und Wissenschaftsgeschichte der theologischen Ethik.