Disput um rechtliches Denken

«Verweigert Euch jedem rechtlichen Denken, das die Gnade Gottes in irgendwelche Kanäle lenken will und das Euch zu Richtern über rechten Glauben oder rechte Moral macht.»1 Über diese Aufforderung disputieren Pfarrer Heinz Angehrn und Adrian Loretan als Dozent für Fragen des kirchlichen und staatlichen Rechts.

Adrian Loretan meint, dass mit diesem Satz eine fundamentalistische Büchse der Pandora geöffnet werde. Darum habe ich die Lesenden in meinem Blog2 zu Richtern/innen über den Text angerufen. Jedoch erlaubte ich mir eine Art «Selbst-Exegese» zu Beginn der Diskussion:

«verweigert Euch»: Dies bezieht sich nicht auf jedes Recht, schon gar nicht auf das staatliche, dem wir als Bürger/innen alle unterworfen sind – ob wir es nun sinnvoll finden, dass man auf Autobahnen nur 120 fahren darf etc. und vieles mehr. Auch nicht auf das staatskirchliche Recht. So finde ich es durchaus sinnvoll, dass eine Kirchgemeinde dekretiert, wie viel Weiterbildung ihre Mitarbeitenden einziehen dürfen. Die Aufforderung bezieht sich ausschliesslich auf «jedes rechtliche Denken, das die Gnade Gottes in irgendwelche Kanäle lenken will».

«in irgendwelche Kanäle lenken»: Das etwa betreibt der CIC, wenn er in messerscharfen Paragraphen exakt definiert, unter welchen Bedingungen Sakramente gültig oder ungültig sind, wenn er in ellenlangen Abschnitten definiert, wann eine Ehe gültig oder ungültig ist und wie sie eventualiter nachträglich noch «saniert» werden kann.

«Richter über rechten Glauben und Moral»: Solches Denken ist etwa im berüchtigten zweiten Abschnitt von Canon 750 zu finden, wenn dort alle möglichen, im Laufe der Jahrhunderte sich angesammelt habenden Lehrmeinungen zu Glaubensinhalten und Morallehre für quasi unfehlbar erklärt und dann allfälligen Häretikern/innen gedroht wird: «ideoque doctrinae Ecclesiae catholicae adversatur».

Abschliessend sei auch noch dazu eingeladen, die Absurdität solchen Denkens und Argumentierens im Blick auf Jesus von Nazareth als «Religionsgründer» und sein urprophetisches Verständnis von Tradition und Lehramt anhand von Canon 924 (der uns im 17. Jh. Asien gekostet hat!) zu überprüfen: «Sacrosanctum eucharisticum Sacrificium offerri debet ex pane et vino, cui modica aqua miscenda est. Panis debet esse mere triticeus et recenter confectus, ita ut nullum sit periculum corruptionis.Vinum debet esse naturale de genimine vitis et non corruptum.» Der Schreibende sieht darum nicht den geringsten Grund, sich für etwas zu entschuldigen, sondern hält seine Vorwürfe in vollem Umfang aufrecht!

Heinz Angehrn

 

Geltendes Recht in der Kirche ist kritisierbar und änderbar. Papst Franziskus ermutigt ausdrücklich: Haben wir keine Angst, Bräuche und kirchliche Normen zu ändern. Denn «der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ‹ganz wenige› sind»3. Wer aber rechtliches Denken im Namen der Gnade einschränken will, hebt willkürlich Teile der Rechtsordnung auf.

«Verweigert Euch jedem rechtlichen Denken, das die Gnade Gottes in irgendwelche Kanäle lenken will …» Gleichzeitig mit diesem Satz von H. Angehrn erschien der Bericht über einen Seelsorger, der aus falsch verstandener Menschlichkeit die Grenze zu seinen Klienten im Gefängnis überschritten hatte. Er war sich keiner durch das Recht gesetzten Grenzen bewusst. Solches Verhalten entsteht aus einem willkürlichen Umgang mit geltendem Recht. Es steht für jene Willkür, die u. a. zu den sexuellen Übergriffen von Priestern und anderen Seelsorgern geführt haben. Wer nun wieder im Namen der Gnade rechtliches Denken in der Kirche ausser Kraft setzen will, der gefährdet aktiv Menschen und deren Rechte in staatlichen und kirchlichen Institutionen.4

H. Angehrn grenzt das rechtliche Denken mit seiner Vorstellung der Gnade Gottes ein und fordert mit völlig ungeklärten Begriffen («irgendwelche Kanäle») zur Streichung ganzer Teile des Rechts auf. Rechtliches Denken kann jedoch nicht allein von der Gnadentheologie abhängig sein, wie der Rechtsphilosoph Thomas von Aquin schon früh klarstellte.5 Auch das Zweite Vatikanische Konzil lehrt: Jeder Theorie oder Praxis wird «das Fundament entzogen, die zwischen Mensch und Mensch (…) bezüglich der Menschenwürde und der daraus fliessenden Rechte einen Unterschied macht» (NA 5b). Das menschenrechtlich-theologische Denken des Konzils bleibt aber Makulatur, wenn es nicht in strukturelles und damit rechtliches Denken übersetzt wird, so Karl Rahner.

Die Unterscheidung zwischen staatlichem und kirchlichem rechtlichem Denken ist vorkonzilar: Das Konzil bedauert «gewisse Geisteshaltungen, die einst auch unter Christen (…) die legitime Autonomie der Wissenschaft» (GS 36) einschränkten und eine Mentalität entstehen liessen, die einen Widerspruch zwischen Glaube und Wissenschaft verursachte, d. h. auf das rechtliche Denken bezo gen einen Widerspruch zwischen Kirchenrechtswissenschaft und staatlicher Rechtswissenschaft. Wie dieses Gespräch zwischen staatlichem und kirchlichem Rechtsdenken fruchtbar geführt werden kann, hat ein amerikanischer Bürgerrechtler gezeigt. Für Martin Luther King Jr. ist ein «gerechtes Gesetz ein von Menschen gemachter Kodex, der mit dem moralischen Gesetz und dem Gesetz Gottes übereinstimmt. Ein ungerechtes Gesetz ist ein Kodex, der nicht mit dem moralischen Gesetz harmoniert. Um es in den Worten des heiligen Thomas von Aquin zu sagen, ein ungerechtes Gesetz ist ein Gesetz von Menschen, das nicht in der Ewigkeit und im natürlichen Recht verwurzelt ist. Jedes Gesetz, das die menschliche Person entwürdigt, ist ungerecht. Alle Rassentrennungsgesetze sind ungerecht, weil die Rassentrennung die menschliche Seele verzerrt und die Persönlichkeit beschädigt.»6

Die Menschenrechte gelten universell, daher können Religionsgemeinschaften nicht menschenrechtsfreie Zonen sein.7 Das ist aber nur dann möglich, wenn der Begriff der Person, der in den jeweiligen Religionsgemeinschaften verwendet wird, mit dem universellen Begriff der Person, der den Menschenrechten zugrunde liegt, kompatibel ist.8 Solche Rechtsgrundlagen müssen verlässlich sein und dürfen nicht willkürlich eingeschränkt werden – weder im Staat noch in der Kirche.

Adrian Loretan

1 Heinz Angehrn: Als Priester engagiert in der Kirche am Ort, in: SKZ 185 (2017) 469 f.

2 4. 10. 2017: https://www.kath.ch/blogsd/kritik-an-rechtlichem-denken-in-der-kirche_b_

3 Franziskus: Evangelii Gaudium 43. Deutsch zit. nach: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 194, hg. vom Sekretariat der DBK Bonn 2013.

4 Franz W. Wittmann: Die Rechte des Kindes in der Kirche, in: SKZ 184 (2016) 226 u. 231–232. Vgl. Klaus Mertes: Verlorenes Vertrauen. Katholisch in der Krise, Freiburg i. Br. 2013, und «Spotlight», ein Film über die Vertuschung sexuellen Missbrauchs in der Kirche [SKZ 184 (2016) 232)] sowie Sabine Hesse, http://www. feinschwarz.net/spotlight-kein-historischer-film-ueber-das-wissenwollen/ (eingesehen 8. 10. 2017).

5 «Gratia non destruit, sed complet et perficit naturam.» Vgl. Patrick Huser: Vernunft und Herrschaft. Die kanonischen Rechtsquellen als Grundlage natur- und völkerrechtlicher Argumentation im zweiten Prinzip des Traktates Principia quaedam des Bartolomé de Las Casas, Münster 2011 (ReligionsRecht im Dialog Bd. 11).

6 Martin Luther King, Letter from Birmingham Jail, deutsch zitiert nach: John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998, 357 Anm. 39.

7 Vgl. Peter Kirchschläger, Menschenrechte und Religionen. Nichtstaatliche Akteure und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten, Paderborn 2016 (Gesellschaft, Ethik, Religion 7).

8 Vgl. Burkhard Josef Berkmann, Nichtchristen im Recht der katholischen Kirche, Wien – Münster 2017 (ReligionsRecht im Dialog 23).

Heinz Angehrn und Adrian Loretan

Heinz Angehrn ist Pfarrer der Seelsorgeeinheit St. Gallen West-Gaiserwald.
Adrian Loretan ist Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern.