Mystik im Gottesdienst

Gottesdienste sollen Orte der Kontemplation und Mystik sein und Raum bieten für persönliches Miterleben.

Die Seelenkenner unter den Mönchsvätern sannen über den Bibelworten nach und bezeichneten den verborgenen Sinn des biblischen Wortes als «mystikos»1. Damit war Jesus v. Nazareth gemeint. Als mystisch galt der im Sakrament verborgene Sinn, später der verborgen erfahrene Gott. Christliche Mystik bildete die Brücke zur «cognitio experimentalis de Deo»2. Erkenntnis Gottes durch Erfahrung nannten dies Thomas v. Aquin und Bonaventura. In dieser begegnet der Gott der Offenbarung, der dreifaltig zu den Menschen spricht.

Raum für subjektives Miterleben

Nun hält der Raum der Liturgie auch Raum für das subjektive Miterleben bereit, in dem die Mitfeiernden nicht einfach zuschauen, sondern kraft ihrer inneren Anschauung in die Rituale aufgenommen sind. Sie bringen ihr Lebensgefühl mit in die Feier: Ihre Sinnfragen, ihre Spontaneität ebenso wie den Schrei der Verzweiflung und als Gegenpol das Ausrufen fröhlicher Gelassenheit in entsprechenden Feiern und ihrer Ausgestaltung.

Die Feiern des Glaubens sind darum Türen zu den verschiedenen Ebenen religiöser Erfahrung. Nach Karl Rahner sind dies die Selbst-Mystik, die kosmische Mystik und die Gottes-Mystik. Wo die Mitfeiernden in einer Liturgie verbal und nonverbal Zeugnis ablegen, was für sie und ihre eigene Geschichte entscheidend ist, müssen dies liturgische Ordnungen genügend berücksichtigen. Nonverbale Formen wie liturgischer Tanz, Ton-Text-Collagen oder Szenen nach der Art von Mysterienspiele ermöglichen dabei die Verstärkung der Suche nach der allen gemeinsamen Erfahrung. Ebenso geht es um sorgfältigen Umgang in der Übung des Schweigens und der Stille. Atmosphärisch kann Letzteres jedem Gottesdienst nur guttun. Denn Stille schafft den Echo-Raum für den Mitvollzug jeder Feier.

Suchbewegung ernst nehmen

Aus gutem Grunde arbeitet die Liturgiewissenschaft überwiegend historisch und theologisch-systematisch. Weniger üblich ist es, vom unmittelbaren Geschehen in der liturgischen Versammlung von Menschen her zu denken und deren Suchbewegungen beim Feiern des Glaubens angemessen theologisch zu verorten. Denn nach der Ausbildung werden die ersten Jahre in der Praxis der Seelsorge zählen. Der Aufbau liturgischer Kompetenzen braucht viel Einübung und dort, wo sie fehlen, zeitintensive Förderung durch die Verantwortlichen in den Pfarreien. Äusserungen wie aus einem jüngeren Kirchencheck sind nicht untypisch: «Ich hätte mir gewünscht, dass der Kirchenmann zumindest eine persönliche Erfahrung offenbart, wenn er zur Berufung des Menschenfischers Petrus predigt. Dafür sagte er: ‹So wie ich bin, so bin ich gut›. Bravo! Mir ist das zu asketisch. Es ging ums Menschsein in diesem Gottesdienst, um den Mut, zu sich selbst zu stehen. Da will ich den Menschen spüren, der unter dem knöchellangen, weissen Gewand steckt.»3

 

1 Josef Sudbrack: Art. «Mystik», in: Wörterbuch der Mystik, hrsg. von P. Dinzelbacher, Stuttgart 1989, 367–370.

2 Vgl. Sudbrack aaO. und P. Lapide und R. Panikkar: Meinen wir denselben Gott? Ein Streitgespräch. München 1994, 57–60.

3 Redaktorin Gabriella Hofer: Tun, was mir guttut, Tages-Anzeiger 15. Februar 2016, 18, Serie «Glaubensfragen» (3).


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)