Erbe als Auftrag

Zum Konzilssymposion 2012 im Kloster Helfta

In dem halben Jahrhundert seit der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils durch Papst Johannes XXIII. sind den Menschen an der kirchlichen Basis viele Früchte des Konzils zur Selbstverständlichkeit geworden wie etwa die Landessprache im Gottesdienst. Anderes dagegen ist verblasst. Neben innerkirchlichen Gegenströmungen läuft da ein ganz natürlicher Prozess des Vergessens. Wir müssen die Texte neu lesen, um sie heute in Herz und Verstand aufzunehmen. «Für Studenten», so ein Hochschullehrer, «ist das Konzil schon Geschichte. Werden dann aber die Texte gelesen, so kommt es zu regelrechten Aha-Erlebnissen, und das Konzil wird von den jungen Leuten als hochaktuell für unsere jetzige Situation empfunden.» Schliesslich war das Konzil eine «Sternstunde der Kirche»! Äbtissin M. Agnes Fabianek sagte zur Begrüssung der rund 80 Teilnehmer, darunter Bischof Dr. Gerhard Feige von Magdeburg: So, wie es in der Liturgie bestimmter Feiertage heisst «das ist heute», so ist das Konzil auch jetzt mitten unter uns, wenn wir dafür offen sind. Sie erinnerte an den Journalisten Mario von Galli, der vor 50 Jahren sagte: «Kirche, du alte Schachtel, wirst wieder schön und jung wie ein ansehnliches Mädchen!» Äbtissin Agnes fügte allerdings hinzu: «Wir lieben die Kirche, aber wir leiden auch an ihr.» Prof. em. Dr. Karl Schlemmer (Nürnberg), der Initiator und Leiter der Symposien, nannte das Kloster Helfta ein geistliches Biotop, in dem man die Begeisterung des Konzils spürt. Leider – so Schlemmer – wurden in den vergangenen 50 Jahren viele Begabungen verschleudert, weil in der Kirche häufig Angst statt Vertrauen herrschte. Eine Kurskorrektur ist nötig. Altbischof Prof. Dr. Paul-Werner Scheele (Würzburg), der beim Konzil als Journalist gearbeitet hatte, nannte als Zeitzeuge Hintergründe: Das Konzil war ein Fest des Glaubens unter dem Wort: «Christus – unser Ausgang, unser Weg und unser Ziel», denn Christus ist unser einziger Lehrer; ihm sind wir treu. Bischof Scheele erlebte das Konzil als dynamischen Prozess mit vielen Überraschungen, vor allem aber mit intensiven Lehrstunden für die Bischöfe aus aller Welt. Papst Johannes XXIII. äusserte damals: «Die christliche Familie hat noch nicht zur Einheit gefunden.» Darum sei alles zu tun, was der Einheit dient. Dazu gehören die Hochachtung vor den nichtkatholischen Christen und die Freude über jede Annäherung. Aber es geht um eine noch grössere Ökumene: Wir sitzen alle im gleichen Boot und ringen gemeinsam um die Würde der Person, um Frieden, um den sozialen Impuls der Evangelien, um Wissenschaft und Kunst, und kämpfen gegen sämtliche Nöte. Das Konzil will also Brücke zur Welt sein. Aber bis auf den heutigen Tag wird die Kirche von der Frage durchzogen: Zu viel Welt oder zu wenig Welt? Werden die Zeichen der Zeit gesehen, und werden daraus Konsequenzen gezogen?

Die Verbindlichkeit des Konzils

Prof. Dr. Ralf Miggelbrink (Universität Essen) sprach über den dogmatischen Rang des Konzils; er betonte, dass das Konzil verbindlich ist und nicht «nur so eine Art Predigt». Kirche hat allen Menschen zu dienen, aber nicht als Vereinnahmung, sondern im Dialog. Ziel sind die gute Gestaltung der Gesellschaft und ein gutes Leben. Dabei muss die Personwürde gegenüber Gefährdungen immer wieder neu errungen werden. Darum muss das Konzil weitergehen als Menschheitsprozess, gegen die Verrohung der Sitten, für die Einheit von Erkennen und Handeln, also gegen jede Doppelmoral. Besonders würdigt Ralf Miggelbrink das Schuldbekenntnis und die Bitte um Vergebung durch Papst Johannes Paul II. aus dem Jahre 2000. Gespräche mit allen Gliedern der Kirche sind in geschwisterlicher Weise zu führen, denn Kirche ist auf die Kompetenz aller angewiesen. Es wurde übrigens bemerkt, dass Laien stärker als Priester an Konzilsthemen interessiert sind. Weiter: Die Gegenwart Jesu ist nicht auf die Wandlung beschränkt. Jesus ist auch zugegen in seinem Wort und in jeder noch so kleinen Gemeinschaft, die «in seinem Namen versammelt ist». Jede Diözese ist «ganz Kirche» und nicht «Filiale von Rom». Dies wird allerdings in der Diskussion angefragt, weil derzeit doch starke zentralistische Trends spürbar sind. Antwort: Geduld ist nötig und lässt hoffen, dass künftig mit dem Verschwinden der Macht auch die machtbewusste Kaste verschwindet. Äbtissin M. Agnes Fabianek und Schwester Klara Maria Hellmuth hielten am Abend eine Besinnungsstunde, wo auch die Situation im Osten Deutschlands zur Sprache kam. In diesem religiösen Niemandsland hat christlicher Glaube durchaus eine Chance. So liess die Neugründung des Klosters in dieser religionslosen Umgebung durch so viele «scheinbar zufällige» Begegnungen und Hilfen erkennen, dass hier «ein anderer am Werk ist». Schwester Klara Maria wies darauf hin, dass viele Menschen im Osten durch die Wende verletzt und gedemütigt sind und sich in seelischer Not befinden. Hilfe ist deshalb nötig und läuft am besten über menschliche Nähe mit viel Kontakt und praktischer Zusammenarbeit. Übrigens erweist sich die Ordenskleidung der Schwestern als positiv für die Vertrauensbildung.

Die Kirche

Prof. Dr. Hans-Joachim Sander (Salzburg) sprach über «Vom Urbi et Orbi der katholischen Kirche zur Pastoralgemeinschaft mit den Menschen von heute. Die Ortung Gottes in den Zeichen der Zeit». Das unvollendete Erste Vatikanische Konzil wurde nicht fortgesetzt, sondern ein neues II. Vatikanum einberufen in veränderter Sicht von Kirche, Glaube und Gott. Weil das I. Vatikanum Kirche als eine «societas perfecta» auffasste, also wie ein Staat, der alle Mittel in sich und daher von aussen nichts nötig hat, ergab sich daraus folgerichtig die Unfehlbarkeit. Kirche definierte sich damals in Kontroversen gegenüber den Schwächen der Gegner mit dem völlig freien Papst an oberster Stelle. Kritisch lässt sich dazu sagen, dass die eigene Stärke also von der Schwäche der anderen abhing. Eine Selbstrelativierung ist in einem solchem System nicht vorgesehen. Beim Start des Zweiten Vatikanischen Konzils werden die zunächst vorgeschlagenen Texte von den versammelten Bischöfen abgelehnt. Kardinal Suenens gibt den entscheidenden Impuls und fragt: Was sagt die Kirche über sich selbst? In der Folge entstehen die zwei Konstitutionen über die Kirche, «Lumen gentium » und «Gaudium et spes». Ausgedrückt ist darin jeweils der Blick nach innen und der nach aussen. Aus der Darstellung von Macht wird ein Dialog mit allen Menschen. Kirche wird multi-ethnisch und ex-zentrisch. Von da ab reisen Päpste. Glaube hat es mit allen Menschen zu tun, denen in Wertschätzung zu begegnen ist. Daraus folgt die Anerkennung der Religionsfreiheit. Da Christus mit jedem Menschen verbunden ist (GS Nr. 22), treffe ich in jedem Menschen auf Christus. Daraus ergibt sich eine neue Sicht auf Orte der Menschheit, besonders solche, die prekär sind, wo die Würde des Menschen gefährdet ist – im Krieg, bei Hunger, an Unfallorten und Krankenhäusern, in aller Not. Hier muss sich Glaube als weltfähig erweisen. Die dogmatische Verbindlichkeit der Konzilstexte ist übrigens für die Bischöfe so selbstverständlich, dass sie nur in einer Fussnote genannt wird.

Ökumene

Prof. Dr. Dr. h. c. Otto Hermann Pesch (München) sprach über «Das ökumenische Potenzial des Zweiten Vatikanischen Konzils». Die vorkonziliare Kirche sah die Rückkehr der Nichtkatholiken als einzige Möglichkeit zur Einheit. Als nun das II. Vatikanum als «ökumenisches Konzil» angekündigt wurde, verbarg sich darin ein Missverständnis, das man auch «eine List des Heiligen Geistes» nennen kann. Gemeint war mit «ökumenisch» nur etwas, das die ganze katholische Kirche betraf. Dann aber entwickelte sich daraus etwas völlig anderes. Papst Johannes XXIII. erkannte das, hatte aber keine Fachleute für diese Art von Ökumene. Da sprang ein Kreis um Kardinal Lorenz Jaeger ein, der sich schon seit 1946 mit Ökumene beschäftigt hatte. Daraus ging ein eigenes Sekretariat hervor. Nichtkatholische Beobachter wurden eingeladen und bekamen ein Podium vorn in der Konzilsaula, so dass Polemik unterblieb. Schliesslich war das Ökumenismus-Dekret die Frucht dieser Entwicklung. Leider aber wurde kein konkreter Weg zur Einheit aufgezeigt. An Ausblicken und Erfolgen lassen sich nennen: Bei Unglücksfällen oder Amokläufen versuchen katholische und evangelische Christen gemeinsam Leid zu tragen und Trost zu spenden. Ökumenische Gottesdienste, Trauungen und Kirchentage sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Evangelisches Liedgut steht mit Herkunft und Autorennamen im «Gotteslob». Viel an Zusammenarbeit auf kulturellem und sozialen Gebiet geschieht, wenn die Amtsträger «gut miteinander können». Ökumenische Gastfreundschaft schenkt man sich schon seit Kriegsende. Die historisch-kritische Methode der Bibelauslegung ist nicht nur erlaubt, sondern gefordert. Die Muttersprache im Gottesdienst vereint uns, selbst die Melodien der Liturgie und die in der katholischen Kirche gewachsene Wertschätzung der Heiligen Schrift. Die Ökumene ist noch auf dem Wege. Es gibt Rückschläge: Ablässe, das Schreiben «Dominus Jesus», die Piusbrüder usw. Aber die ökumenischen Kontakte sind nicht mehr zu bremsen. Es bleibt die Vision einer Einheit in Vielfalt.

Die Luther-Dekade

Eine längere Aussprache befasste sich mit der Luther- Dekade und dem 500. Jahrestag der Reformation im Jahre 2017. Dazu einige Gedanken aus dem Teilnehmerkreis: Allerheiligen ist jetzt auch ein evangelischer Feiertag und hat im Gottesdienst die gleichen Lesungen, könnte also für 2017 gemeinsam vorbereitet werden. Ein Streit zwischen den Konfessionen würde von der Öffentlichkeit nicht akzeptiert. Der gesellschaftliche Wille zielt auf Einheit. Das einigende Band sollte der Glaube an Jesus Christus sein. Betont wird die wichtige Rolle der Pfarrer. Eine offene Frage: Was geschieht an den theologischen Fakultäten? Ein «heimliches Luthertum» ist unter deutschen Katholiken stark vertreten. Ministerpräsident Dr. Haseloff wird mit anderen Ministerpräsidenten in einem «Kuratorium 2017» mitarbeiten. Wichtig ist es für 2017, das geistliche Element darzustellen, nicht nur das politische und kommunale. Es ist also theologischer Sachverstand gefragt. Was wäre Luther heute wichtig? Ist christlicher Glaube noch vermittelbar? Chance des Glaubens durch verständliche Sprache! Wo ist die evangelische Annäherung an die katholischen Schätze? Mit vielen weiteren Anregungen und persönlichen Gesprächen endete das Symposion.

Dieter Müller

Dieter Müller

Dieter Müller ist Studiendirektor a. D. des Norbertus-Gymnasiums in Magdeburg