Die Würde der menschlichen Person

Am 12. Oktober 2015 hat an der Universität Luzern eine von der Professur für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht in Zusammenarbeit mit der Professur für Philosophie organisierte Tagung zur Konzilserklärung "Dignitatis humanae (personae)" stattgefunden. Referenten aus verschiedenen Fachgebieten beleuchteten den Reichtum, aber auch die offenen Fragen rund um diese ausserhalb der Fachwelt wenig präsente lehramtliche Verlautbarung. Adrian Loretan, Professor für Kirchen- und Staatskirchenrecht in Luzern, wies in seiner Einführung darauf hin, wie die menschenrechtliche Argumentation Johannes XXIII. sofort vom Konzil aufgenommen wurde. In der Tat handelte es sich hier um den Übergang vom Recht der Wahrheit zum Recht der Person, wie es der bekannte deutsche Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde ausgedrückt hat. Das verändert das Selbstverständnis der Kirche: Jeder Mensch ist von Natur aus Person und muss deswegen in seinen Entscheidungen respektiert werden. Dr. Gregor Damschen, Lehrstuhlvertreter für Philosophie in Luzern, eröffnete seinen Vortrag mit der Aussage, dass es sich bei der Frage des Personenseins um eine Frage von Leben und Tod handle: Personen haben Rechte, der Personenbegriff ist ein Status- und Schutzbegriff. Seine Reichweite ist allerdings umstritten, wie die jahrzehntelangen Diskussionen um den Status von Ungeborenen zeigen oder neuerdings die Vorschläge, einigen Menschenaffen den Personenstatus zu verleihen.

Schwieriger Personenbegriff

Damschen führte in seinem Vortrag aus, wie der Versuch, Definition, Bedingungen und Träger des Personenbegriffs philosophisch sauber festzulegen, in Aporien mündet. Mit seinen Ausführungen erschütterte er jene Aussagen, die in der katholischen Theologie und nicht nur hier zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Darüber hinaus gab er allen Zuhörenden einen kleinen Einblick in die lebhafte philosophische Diskussion um diesen Grundbegriff, und das ist auch notwendig, wenn sich der theologische Diskurs nicht zu einer Sache "intra muros" entwickeln soll. Andererseits ist auch zu fragen, welchen Sinn es denn macht, bei der Begründung des Personenbegriffs Höchstkriterien anzusetzen – Kriterien von einer Strenge, die auch philosophische Begründungen in anderen Bereichen nicht erfüllen. Später mehr dazu. Burkhard Berkmann, der in Luzern mit einer Arbeit zum Status der Nichtkatholiken im Kirchenrecht habilitiert wurde und jetzt kanonisches Recht an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten lehrt, legte in seinem Vortrag dar, wie alle Menschen Personen sind, im Recht des Staates wie auch in demjenigen der katholischen Kirche. Person im juristischen Sinn heisst, wer selbständiger Träger von Rechtsverhältnissen sein kann. Theologisch ist von der Gottesebenbildlichkeit auszugehen. Deswegen kommt allen Menschen dieselbe personale Würde zu. Das hat entscheidende Konsequenzen für den kanonistischen Bereich. Dieser Würde entspringen nämlich grundlegende, unveräusserliche Rechte, die allen Menschen gleichermassen zukommen. Wenn alle Menschen Träger von Rechten sind, dann sind sie Personen auch im kanonistischen Sinn. Das ist eine naturrechtliche Argumentation gegen jene Positionen innerhalb der Kanonistik, die den Personenbegriff auf die Getauften beziehen. Hintergrund dieser Debatte ist can. 96, der unterschiedlich ausgelegt wird. Berkmann weist darauf hin, dass der Begriff der Person im CIC 233 Mal vorkommt und sich an vielen Stellen auf Personen erstreckt, die der Kirche nicht angehören. Das hat Konsequenzen z. B. bei der Eheschliessung mit einem katholischen Partner oder bei der Parteifähigkeit in Prozessen vor Ehegerichten. Der österreichische Gelehrte folgert daraus, dass Individuen, die Träger von Rechten und Pflichten sind, auch Personen im kanonistischen Sinne sind. Die Bedeutung dieser Erkenntnis kann nicht unterschätzt werden mit Blick auf das Verhältnis der Kirche zu den Angehörigen nichtchristlicher Religionen und Weltanschauungen. Diese sind für die Kirche gleichsam die "Fremden", so wie die Ausländer für den Staat. So wie aber der Staat die Rechtspersönlichkeit der Ausländer anerkennt, so erkennt auch die Kirche die Personalität aller Menschen an. Das Person-Sein aller Menschen, das vom Zweiten Vatikanischen Konzil theologisch anerkannt wurde, schafft somit die Basis für eine Begegnung auf gleicher Ebene, die auch kirchenrechtliche Beziehungen betrifft. Dies hat auch politische Implikationen im Hinblick auf das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen.

Die sozialethische Perspektive

Der dritte Vortragende, Peter G. Kirchschläger, beleuchtete das Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrechten aus sozialethischer Perspektive. Zwei Aussagen leiteten seine Ausführungen: Menschenrechte schützen die Menschenwürde, die Menschenwürde wiederum begründet die Menschenrechte. Im Gegensatz zu den meisten Juristen, welche die Begründung der Menschenrechte auf ihre Geltung zurückführen, wollen Gelehrte der Philosophie und der Theologie ein "fundamentum inconcussum" finden, so dass Menschenrechte über jede faktische Geltung hinaus von einem nicht zu leugnenden Prinzip abgeleitet werden können. Die Menschenwürde bietet sich dafür an, zumal der Begriff auch im Verfassungsrecht eine grosse Rolle spielt. Auf den Schwachpunkt dieser Strategie wies in der Diskussion nach dem Vortrag Gregor Damschen hin: Solange wir die Menschenwürde nicht definieren (wollen), weil sie in einer pluralistischen Gesellschaft für möglichst alle Gruppen in ihre je eigene Weltanschauung einbaubar bleiben soll, solange bleibt die Rückführung der Menschenrechte auf die Menschenwürde keine Begründung im philosophischen Sinne des Wortes. Das heisst nicht, dass wir Menschenwürde nicht konkretisieren könnten. Kirchschläger weist mit einem Argument, das der Zürcher Ethiker Peter Schaber ausgeführt hat, darauf hin, dass die Menschenwürde negativ fassbar ist, nämlich in ihrer Verletzung.

Menschenwürde im Kirchenrecht

Monica Herghelegui, tätig in Löwen und Tübingen, untersuchte die Rezeption der Menschenwürde im Codex Iuris Canonici von 1983. Der Ausdruck "dignitas " wird im CIC vierzehnmal verwendet, aber nur drei Stellen beziehen sich auf die Menschenwürde (cc. 208, 212 § 3, 768 § 3). Die anderen Stellen beziehen sich auf die Amtswürde oder auf die sakramentale Würde der Ehe. Im kirchlichen Rechtssystem, so die Schlussfolgerung, spielt die Würde des Menschen keine prominente Rolle. Andererseits macht can. 208 mit seiner Aussage über die wahre Gleichheit aller Christgläubigen deutlich, dass die Kirche nicht zwischen zwei Klassen von Gläubigen unterscheidet; beide Gruppen, Kleriker und Laien, haben trotz ihrer Unterschiede Anteil am Priestertum Christi hinsichtlich ihrer Menschen- und Christenwürde. Grundlage dafür ist LG 32, Abs. 3, eine der Spitzenaussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, was Menschenrechte betrifft. Leider wurden Ausformulierungen dieser Aussage, die in der "Lex Ecclesiae Fundamentalis", dem nie promulgierten Grundgesetz der Kirche, vorhanden waren, nicht in den CIC übernommen. Obwohl LG 32 deutlich genug spricht, ist im Codex eine Engführung der "vera aequitas" festzustellen, die sich in der Ungleichbehandlung der Kleriker und Laien, in der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und in den Unterschieden innerhalb des hierarchischen Standes niederschlägt. In der Konsequenz stellen die in den cc. 209–223 aufgelisteten Rechte und Pflichten aller Gläubigen keine Grund- und Freiheitsrechte dar. Der katholische steht dem säkularen Freiheitsbegriff entgegen. Die funktionelle Gleichheit wird scharf von der sogenannten substantiell-ontologischen Freiheit unterschieden, was de facto zu Ungleichheit führt. Hier müsste man das "Vera-aequitas-Prinzip" weiterdenken.

Jeder Mensch ist Person

In der Schlussdiskussion kamen alle Vortragenden mit dem Moderator Adrian Loretan aufs Podium, um die verschiedenen Aspekte zusammenzuführen. Es wurde daran erinnert, dass der Begriff "persona" zwar im Lateinischen als "Maske" im Kontext des Schauspiels in Gebrauch war, seine Prägung jedoch in der Trinitätstheologie erfuhr. Die Kirche, so lässt sich daraus lernen, schöpft in ihrer Reflexion nicht aus fremden Quellen, vielmehr aus ihrer ureigenen Tradition. Gregor Damschen fügte an, er habe noch nie einen Menschen getroffen, der sich nicht selbst als Person bezeichnet hätte. Dies ist "in nuce" eine Begründung des Personenbegriffs. Er sagte, dass wir auch bei einer theoretischen Leugnung des Personenbegriffs im Praktischen nicht umhinkämen, uns als Personen zu verstehen. Diese Beobachtung liesse sich folgendermassen weiterentwickeln: Würden wir leugnen, dass Menschen Personen, also moralische Wesen mit natürlichen Rechten und Pflichten seien, würden wir uns in einen performativen Selbstwiderspruch verwickeln. Treten wir mit anderen in Beziehung, akzeptieren wir immer schon eine Reihe von Grundsätzen. Tun wir das nicht, zeigt der Selbstwiderspruch an, dass wir unser Reden und unser Handeln nicht in Übereinstimmung bringen können. Peter Kirchschläger führte aus, dass selbstverständlich auch Menschen in Territorien ohne Zentralgewalt Menschenrechte hätten, UNOOrganisationen forschen in solchen Gebieten Menschenrechtsverletzungen nach und können angerufen werden. Verletzt ein Konzern Menschenrechte, ist der Staat, in dem der Konzern seinen Sitz hat, in der Pflicht, nachzuforschen. Hier zeigt sich eine Entgrenzung des Menschenrechtsdiskurses, die uns letztlich alle zu Adressaten der Menschenrechte macht. Monica Herghelegui wurde aus dem Publikum gefragt, wie sie denn das Kirchenrecht weiterentwickeln würde. Ihre Antwort: Es müsse gefragt werden, ob es von den Verantwortlichen in der Kirche überhaupt einen Willen für eine solche Weiterentwicklung gebe. Adrian Loretan antwortete dann aus seiner Warte: Nicht so sehr "Lumen gentium" als vielmehr "Dignitatis humanae" bilde die Grundlage, um das kanonische Recht weiterzudenken, denn "Dignitatis humanae" begründe die Religionsfreiheit im Kontext der katholischen Kirche, sei also ein Rechtstext, der überdies von der höchsten Instanz dieser Kirche stamme.

Fazit

Auch 50 Jahre nach der Verabschiedung der Konzilserklärung über die Religionsfreiheit ist diese Lehre von der personalen Würde noch kein Allgemeingut in der Kirche, obwohl es sich hierbei um ein epochales Ereignis handelt: Die katholische Kirche söhnt sich fast zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution mit dem modernen Verfassungsstaat aus. Die Luzerner Tagung beleuchtete philosophische, kirchenrechtliche, theologische sowie sozialethische Aspekte und bewies einmal mehr, wie viel Substanz und wie viel Weisheit in den Konstitutionen des Zweiten Vatikanischen enthalten ist. Wenn heute wieder neu über Reformen in der Kirche nachgedacht wird, so sind die Grundlagen dafür in der Tradition der Kirche längst vorhanden – eigentlich eine gute Ausgangslage. 

 

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.