«Die Verantwortung liegt bei uns allen»

Dr. med. vet. FVH Silvia Lüthi (Jg. 1973) ist Fachtierärztin für Pferde sowie seit 2009 Inhaberin und Leiterin der Tierarztklinik Neuhaus Tierärzte Team AG in Solothurn. (Bild: zvg)

 

SKZ: Dass die Schweiz die Würde des Tieres seit 2008 im Tierschutzgesetz und sogar seit 1992 auf Verfassungsebene verankert hat, was weltweit noch immer einzigartig ist, betrachten manche als epochalen Fortschritt. Teilen Sie diese Einschätzung?
Silvia Lüthi: Ja, ich bin der Meinung, dass dies ein grosser Schritt ist im Tierschutzbereich. Als Gesellschaft haben wir beschlossen, aufgrund ethischer Überlegungen Tiere zu schützen, das Tier nicht mehr als Sache zu definieren und ihm einen Eigenwert zuzugestehen. Der ethische Hintergrund des Tierschutzes kommt einerseits von der Ehrfurcht vor dem Leben sowie der biblischen Barmherzigkeit.

Verfügen die Tiere damit tatsächlich über besondere Rechte – und wer kontrolliert das?
Im Tierschutzgesetz sowie in der Tierschutzverordnung wird der Umgang mit Tieren geregelt. Dies beinhaltet die Haltung, die Zucht, den Handel, die Tiertransporte und die Eingriffe an Tieren, die Tierversuche und das Schlachten. Wenn diese gesetzlichen Bestimmungen nicht eingehalten werden, kommt es, sofern eine Meldung an die kantonale Behörde oder den Tierschutz gelangt, zu Kontrollen und Vollzug. Grundsätzlich liegt es in der Verantwortung aller, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen.

Welche Konsequenzen hat nun dieser Art. 1 im Schweizer Tierschutzgesetz, der da lautet: «Zweck dieses Gesetzes ist es, die Würde und das Wohlergehen des Tieres zu schützen», für die Tiere und für Ihre Arbeit als Tierärztin?
Es besteht keine Verpflichtung, Verstösse dem Veterinäramt zu melden – ausgenommen Beissvorfälle und Auffälligkeiten bei Hunden. Wir haben jedoch eine ethische Verpflichtung, dem Tier zu helfen. Eingriffe an Tieren dürfen nicht erniedrigend sein oder das Tier in seinem normalen Verhalten stören. Es dürfen dem Tier nicht ungerechtfertigt Schmerzen, Leiden oder Schaden zugefügt werden. Wir wägen ab, ob gewisse Eingriffe für den (tierischen) Patienten Sinn machen und ihn nicht überfordern. Zusätzlich haben wir eine beratende Funktion im Bereich Haltung, Fütterung und Umgang mit dem Tier.

Wenn wir die Würde des Tieres wirklich ernst nähmen, müsste sich unser Umgang mit den Tieren grundsätzlich ändern und wir dürften sie nicht auf Leistung züchten, künstlich besamen, ihr Leben lang einsperren, enthornen, mästen und schlachten. Wie gehen Sie damit um?
Wir nutzen seit jeher Tiere. Es besteht ein überwiegendes Interesse der Menschen, Tiere zu nutzen. Sie sind uns Nahrung oder liefern uns welche oder sind unsere Begleiter und Freunde. Umso wichtiger ist es, sie respektvoll zu behandeln und optimal zu halten. Dort, wo Tiere intensiv genutzt werden wie zum Beispiel in der Milchwirtschaft oder Fleischproduktion, bildet das Gesetz die Grundlage und gibt dem Halter die Rahmenbedingungen vor: Es sind Grundlagen festgelegt wie Boxengrösse, Weidegang, Auslauf usw. Wenn aber die Zucht zur Qualzucht wird wie beispielsweise bei brachykephalen1 Hunderassen, sollte dies abgelehnt werden.

Wie sieht es bei den Haustieren aus – Hunde, Katzen, Vögel, Reptilien –, wo gibt es hier Verstösse gegen die Tierwürde?
Eine Verletzung liegt vor, wenn dem Tier insbesondere Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden oder es in Angst versetzt und erniedrigt wird. Hunde oder Katzen, welche tiefgreifend in ihrem Erscheinungsbild verändert werden: etwa Tattoos, Coupieren, Darstellung als menschliche Sujets ‒ wenn zum Beispiel Kleinhunde in menschliche Kleider gesteckt werden. Durch Vernachlässigung oder Haltungsfehler, vor allem bei Vögeln und Reptilien, können grosse Leiden und Schmerzen entstehen.

Haben Tiere in der Schweiz dank der genannten Gesetzesverankerungen gegenüber Tieren im Ausland ein besseres Leben?
Die Schweiz hat dank des Gesetzes einen guten Tierschutz. Die Gesetzgebung regelt Mindeststandards, das sind aber keine Optima. Im umliegenden Ausland sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen teilweise weniger streng, beispielsweise Minimalanforderungen an Boxen- oder Käfiggrössen. In unterentwickelten Ländern steht der Tierschutz nicht im Vordergrund.

Und zum Schluss: Wie kann jeder Tierhalter die Würde seines Tieres wahren – sei es Kuh, Pferd, Hund, Katze oder Vogel?
Jeder Tierhalter muss sein Tier optimal halten, sich vor der Anschaffung gut über die Bedürfnisse seines Schützlings informieren, ihn pflegen, füttern und respektieren. Jeder Tierhalter muss sich seiner täglichen Verantwortung bewusst sein und das eigene Tier vor Leid, Schmerz und Angst schützen.

Interview: Brigitte Burri

 

1 Brachykephale Hunderassen sind kurzköpfige (brachis = kurz, cephalus = Kopf) Hunderassen wie Mops, Boxer, Pekinese usw. Hunde dieser Rassen haben eine angeborene, erbliche Deformation des Schädels, die zu verschiedenen Funktionsstörungen (Atemnot) und gesundheitlichen Problemen führen kann.

 

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