«Die sichtbarste Frucht des Konzils»

 

Kritische Situationsanalyse der Liturgie in der Schweiz

Die Liturgiekonstitution «Sacrosanctum Concilium » ist das erste Dokument, welches die Konzilsväter des Zweiten Vatikanischen Konzils (1926–1965) verabschiedet haben.1 Dadurch gaben sie der Liturgie (wieder) ihren prominenten und für das Leben der Kirche fundamental bedeutsamen Stellenwert. Die von ihnen angestossene Reform der liturgischen Feiern ist nicht nur «die sichtbarste Frucht des ganzen Konzilswerkes»,2 sondern lässt den Willen der Konzilsväter zu einer Reform der Kirche und des christlichen Lebens insgesamt deutlich werden. 3 Die theologischen Grundentscheidungen wurden zwar auf der Ebene der Weltkirche gefasst, doch die Umsetzung dieser Beschlüsse geschah in den Diözesen und «vor Ort».

Grosser Kongress in Freiburg

Aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläums der Verabschiedung der Liturgiekonstitution (am 4. Dezember 1963) veranstalteten das Institut für Liturgiewissenschaft der Universität Freiburg i. Ü. (Prof. Dr. Martin Klöckener), die Professuren für Liturgiewissenschaft an der Universität Luzern sowie an der Theologischen Hochschule Chur (beide Prof. Dr. Birgit Jeggle-Merz) sowie das Liturgische Institut der deutschsprachigen Schweiz (Leitung Peter Spichtig OP) vom 10. bis zum 12. Oktober 2013 einen Kongress an der Universität Freiburg, bei dem die Umsetzung der Liturgiekonstitution in den Schweizer Diözesen näher betrachtet und kritisch analysiert werden sollte. Da das von der Bischofskonferenz ebenfalls 1963 errichtete Liturgische Institut massgebend die liturgische Erneuerung begleitet hat, wurde dessen 50-Jahr-Jubiläum ebenfalls im Rahmen dieses Kongresses gewürdigt. Der Dekan der Theologischen Fakultät Fribourg, Prof. Dr. Franz Mali, verwies bei seinem Grusswort daher auch auf Anton Hänggi und dessen grosses Engagement als damaliger Professor für Liturgiewissenschaft sowie Mitbegründer des Liturgischen Instituts.

50 Jahre – das ist ein halbes Jahrhundert. Wenn ein Mensch 50 Jahre alt wird, dann wird tendenziell «nur Gutes» über den Jubilar bzw. die Jubilarin gesprochen und der bisherige Lebensweg entsprechend gewürdigt; Kanten, Kummer und Konflikte werden – zumindest im Rahmen der Feierlichkeiten – eher «unter den Teppich gekehrt». Joseph Roduit, Abt von Saint-Maurice und Präsident der Liturgischen Kommission der Schweizer Bischofskonferenz, betonte in seiner Eröffnungsrede hingegen, dass neben allem Grund zu Freude und Dankbarkeit über die Liturgiekonstitution und ihre Reform auch die bisher noch nicht eingeholten Defizite sowie die aufgetretenen Probleme und Schwierigkeiten nicht übersehen werden dürften. Das von Papst Paul VI. anlässlich der Promulgation der Liturgiekonstitution genannte Wort von einem «glücklichen Abschluss» muss im Sinne Karl Rahners, der das Konzil als «Anfang eines Anfangs» deutete, in einem grösserer Kontext verstanden werden: Die Kirche hat die Aufgabe, die Bedeutung der Texte und Riten der Liturgie immer wieder neu zu entdecken. Als «ecclesia semper reformanda» ist sie bleibend auf einem Weg hin zur immer wieder neuen Feier mit dem Auferstandenen (vgl. Lk 23).

Das unabgeschlossene Konzil

Andrea Grillo, Professor am «Istituto di Liturgia Pastorale dell’ Abbazia die S. Giustina» in Padua sowie am «Pontificio Ateneo S. Anselmo» in Rom, griff diesen Gedanken gleichfalls auf und machte deutlich, dass «das Konzil und die Reform nichts in sich Abgeschlossenes und Perfektes sind». Fruchtbar werde die Umsetzung der Liturgiekonstitution vor allem dann, wenn sie nicht von der Vergangenheit, die sie überwinden versuchte, sondern von einer Zukunft, die sie ermöglichen möchte, her verstanden wird. Ausgehend von der Grundidee, dass das Konzil ein «Akt zum Dienst der Kirche an der Kontinuität der Tradition» sei, war es Grillo ein Anliegen, die bisherige Wegstrecke von 50 Jahren in einen grösseren zeitlichen Kontext einzuordnen. Sein Blick setzte deshalb bereits bei der Liturgischen Bewegung 50 Jahre vor dem Konzil an, eine Zeit, in der erstmals die «liturgische Frage» virulent geworden war – und es bis heute ist.

Grillo plädierte dafür, das Konzil als Relecture der Heiligen Schrift bzw. des Evangeliums mit den sozio-kulturellen Augen von heute zu lesen. Die Reform der Liturgie ist daher «weder willkürlich noch fakultativ», sondern ein «nötiger Übergang für die Kirche», um die Tradition zu wahren und sie kraftvoll für die Zukunft weiterzuentwickeln. Als Voraussetzung für das Gelingen dieses Übergangs benannte er einige offensichtliche «segensreiche» Diskontinuität: die Entwicklung vom negativverurteilenden zum positiv-konstruktiven Lehramt, die Subjekt-Werdung der Gemeinde im Gegensatz zur Klerikerliturgie, die Wiederentdeckung der Christusbegegnung in der Wortverkündigung (vgl. SC 7) bis hin dazu, dass Zeit und Raum – von der klassischen Theologie als nicht notwendig beurteilt – jetzt zu eigenen «loci theologici» werden. Allerdings werde es einiger Generationen bedürfen, bis diese Paradigmenwechsel vollends rezipiert sein werden.

Warnung vor dem Blick zurück

Mit Blick auf die weitere Entwicklung der Liturgie warnte er davor, nach 50 Jahren – auf der Hälfte einer 100-Jahres-Strecke – wehmütig an den Ausgangspunkt zurückzublicken und sogar der Versuchung zu erliegen, dorthin zurückzukehren. Der Weg in die Zukunft führe zwischen Erinnerung und lebendiger Prophetie, wofür es Mut, Bescheidenheit, Frische und vor allem Geduld brauche.

Die Ausführungen von Prof. Grillo spannten den Rahmen für die darauf folgende Übersicht über die Rezeption der Konzilsbeschlüsse, vor allem der damit verbundenen Liturgiereform in den einzelnen Sprachgebieten der Schweiz. Für die Deutschschweiz berichtete Prof. Dr. Birgit Jeggle-Merz,4 für die Suisse romande Prof. Dr. Marc Donzé (Bischofsvikar der Diözese Lausanne-Genf-Freiburg) sowie Dr. Nicola Zanini (Leiter des «Centro di Liturgia» in Lugano) für die italienischsprachige Schweiz. Gemeinsam ist allen drei Entwicklungslinien, dass die konziliaren Bestimmungen auf einen vorbereiteten Boden fielen. Bereits in den Jahren vor dem Konzil, so führte Marc Donzé aus, war ein grosses Bedürfnis nach Nähe wahrzunehmen: zur Liturgie, besonders zum Wort Gottes sowie zur Musik. Entsprechend waren mit den Konzilsbeschlüssen grosse Hoffnungen verbunden. So erwartete beispielsweise der damalige Bischof von Basel und Lugano, Franziskus von Streng, «einen neuen Frühling, ein frühlingshaftes Wiederaufleben der ungeheuren Kräfte und Energien, die im Schoss der Kirche verborgen liegen». Für das Bistum Basel stellte Jeggle-Merz die von der «Basler Liturgischen Kommission» durchgeführten «legendären» Studientagungen vor, die nicht allein der Wissensvermittlung, sondern vor allem der theologischen und spirituellen Erschliessung der liturgischen Neuerungen dienten, vor. Für das Bistum Lugano erwähnte Zanini vor allem die bereits vor dem Konzil entstandenen Früchte durch den Internationalen Liturgischen Kongress von 1953, die umfassende Bildungsarbeit im Rahmen der Einführung der neuen liturgischen Bücher sowie den Hinweis, dass in Orselina sogar experimentell am neuen «Ordo Missae» Pauls VI. mitgearbeitet wurde.

Gleichzeitig lässt sich aber auch feststellen, dass die Einführung und Verbreitung der konziliaren Prinzipien und der erneuerten liturgischen Bücher zu schnell ging. Den Gemeinden wurde kaum die Möglichkeit gegeben, die Neuerungen «zu verdauen », weil innerhalb weniger Jahre eine Vielzahl neuer liturgischer Bücher erschien. Der Fokus lag hier fast ausschliesslich auf der rituellen Dimension; die theologische Dimension, und die spirituelle Tiefe wurden eher stiefmütterlich behandelt.5 So verwundert es auch nicht, wenn bereits in den siebziger Jahren aufgrund «mentalitätsgeschichtlicher Wandlungsprozesse » (Jeggle-Merz) erste «liturgische Krisenanzeichen» auszumachen waren. In diesem Zusammenhang wurde auch auf die bis in einzelne Gemeinden und Familien hinein reichenden Friktionen hinsichtlich der Frage nach dem «richtigen» Ritus bzw. nach der richtigen Form des Ritus hingewiesen. Aufhorchen liess auch die Feststellung von Donzé, dass im Dokument «La prière, la messe et les sacrements de la Synode 72» (Bistum LGF) die Liturgiekonstitution kein einziges Mal zitiert wurde, wenn auch der Geist von SC zu verspüren ist. Um so stärker sind dann die Schlussplädoyers zu verstehen, dass das Jubiläum Anlass biete, «das liturgische Feuer neu zu entflammen» (Zanini), und nach adäquaten Wegen zu suchen, dass «das Volk Gottes über die Mittel verfügt, häufig und mit Freude Gott zu loben und zu ihm zu beten» (Donzé).

Mit einem «Kaleidoskop liturgischer Impressionen vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil», das von Dr. Gunda Brüske mit ihrem Kollegen Dr. Josef-Anton Willa vom Liturgischen Institut vorbereitet war, sowie der Feier der Komplet ging der erste Kongresstag zu Ende.

Liturgie und Ekklesiologie

Der Vortrag von Prof. Dr. Jean-Louis Souletie (Institut Catholique Paris) «Die Entwicklung der Beziehung von Ekklesiologie und Liturgie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Der Bischof, die Diözese und der Altar» stellte, nach der Laudes, den Auftakt zum zweiten Kongresstag dar. Souletie entfaltete in seinem Vortrag über das Verhältnis von Ekklesiologie und Liturgie auf der Grundlage des «Caeremoniale Episcoporum» (CE)6 ein «liturgisches Kriterium», um die «wechselseitige Beziehung zwischen der Ortskirche und der Universalkirche» verstehen und deuten zu können. Die Grundlage seiner Argumentation bildete das ekklesiale Motiv des Volkes Gottes (vgl. LG 26). Nach dem Konzilsdekret «Christus Dominus » über die Hirtenaufgabe der Bischöfe (CD) ist eine Diözese «der Teil des Gottesvolkes, der dem Bischof in Zusammenarbeit mit dem Presbyterium zu weiden anvertraut wird» (CD 11). In der bischöflichen Feier der Eucharistie, «umgeben von seinem Presbyterium und den anderen, die einen besonderen Dienst ausüben [und] unter voller und tätiger Teilnahme des ganzen heiligen Gottesvolkes» (CE 119) werde die Ortskirche am deutlichsten sichtbar. Diese «liturgische Ekklesiologie» stelle die Katholizität der jeweiligen Ortskirche dar, und in jeder einzelnen Teilkirche ist die ganze Kirche gegenwärtig (vgl. LG 26) – symbolisiert durch den Bischof als «sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit» (LG 23).7

Die liturgische Ekklesiologie des CE ermögliche es nach Souletie, die Kirche als Gemeinschaft sowie die bischöfliche Kollegialität mehr von den «lokalen Wirklichkeiten der Kirche her zu verstehen».

Am Nachmittag feierten die Kongressteilnehmenden nach Führungen in der Franziskanerkirche und der Kathedrale, die vor allem die Auswirkungen der Liturgiekonstitution auf die Kirchenraumgestaltung in den Blick nahm, in der Kathedrale die Eucharistie unter dem Vorsitz von Markus Büchel, dem Bischof von St. Gallen und Vorsitzenden der Schweizer Bischofskonferenz, sowie unter Mitwirkung weiterer Bischöfe und Äbte sowie des ehemaligen Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, Walter Kardinal Kasper.

Festakt für das Liturgische Institut

Der Festakt anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Liturgischen Instituts der Schweiz wurde durch Bischof Markus Büchel eröffnet. Dessen Leiter Peter Spichtig OP liess in einem geschichtlichen Rückblick Entstehung und Entwicklung des Instituts nochmals Revue passieren.

Walter Kardinal Kasper hielt unter der Überschrift «Theologie der Liturgie. Die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium des Zweiten Vatikanischen Konzils als ein theologisches Programm für die Zukunft» den Festvortrag und unterstrich die Bedeutsamkeit dieses Dokuments sowie seiner liturgietheologischen Aussagen und öffnete damit gleichzeitig einen Raum für Perspektiven. Im Verständnis einer pilgernden Kirche, die stets der Erneuerung nach der «altehrwürdigen Norm der Väter» (SC 50) bedürfe, rief er nochmals die Absichten der Konzilsväter in Erinnerung: die Vertiefung des christlichen Lebens, das Offenbarmachen des Pascha-Mysteriums Jesu Christi sowie die Verwirklichung des Wesens der Kirche.

Der Kardinal bedauerte, dass die konziliare Leitkategorie des «Pascha-Mysteriums» als Grundlage jeder Liturgietheologie nicht auf breiter Basis rezipiert wurde. Dabei steckte darin das Potenzial, den oftmals spannungsreich diskutierten Gegensatz zwischen der Eucharistie als «Opfer» bzw. «Mahl» zu überwinden. Denn «die Eucharistie ist kein neues Opfer, sondern die reale Vergegenwärtigung des einen und einzigen Opfers Jesu Christi». Als ehemaliger päpstlicher «Ökumene-Minister» unterstrich er dabei auch die Bedeutsamkeit dieses theologischen Leitgedankens für das ökumenische Gespräch.

In diesem Zusammenhang ist dem Kardinal ein zweiter Punkt wichtig geworden: Die Gläubigen sollen «nicht wie Aussenstehende und stumme Zuschauer» (SC 48), sondern «voll», «bewusst», «tätig » (SC 14) an der Liturgie teilnehmen. Dem hier dokumentierten Paradigmenwechsel, demzufolge aus Empfangenden und Objekten nun Subjekte der Liturgie werden, liege die pastorale Ausrichtung des gesamten Konzils zu Grunde: «Die Liturgie soll Glaube, Hoffnung und Liebe wecken, und nur wenn sie das tut, wenn Menschen nicht gelangweilt und verärgert, sondern im Glauben gestärkt, getröstet und befreit, mit Hoffnung und mit innerer Freude erfüllt von der Liturgie in den Alltag zurückkehren, hat die Liturgie ihren Dienst getan.»

Damit aber Liturgie fruchtbar sein kann, fordert er für die einzelnen und höchst unterschiedlich geprägten Ortskirchen als «Realisierungsorte der Liturgie» ein deutliches Mindestmass an Anpassungsfreiraum und kritisierte in erstaunlicher Deutlichkeit den engführenden römischen Zentralismus.8 Und er betonte, dass es einen «anderen Weg zur Erneuerung » als die Liturgiekonstitution als «Wegweisung (…) aus dem Ursprung» nicht geben könne. In grosser Dankbarkeit für diese Wegweisung endete er seinen Vortrag mit einem Plädoyer für das mutige Weitergehen auf diesem Weg. Dem Festvortrag schlossen sich ein Apéro sowie ein festliches Abendessen an.

Einheit und Vielfalt

Der dritte Kongresstag begann nach der morgendlichen Wortgottesfeier mit dem Vortrag von Peter Spichtig OP zum Thema «Kreative oder zerstörerische Vielfalt?», in dem er das liturgische Leben in der Schweiz liturgiesystematisch reflektierte. Der liturgischen Vielfalt liegen u. a. die mentalitätsgeschichtlichen und religionssoziologischen Gegebenheiten der Schweiz zu Grunde, die sich u. a. in einem stark ausgeprägten Individualismus («Jede und jeder ist ein Sonderfall») zeigen. Theologisch sei ein gesundes Mass an gottesdienstlicher Vielfalt dann legitim und angezeigt, wenn es die tätige Teilnahme der jeweiligen Gottesdienst feiernden Menschen, so unterschiedlich diese sozio-kulturell geprägt sein mögen, ermögliche und intensiviere (vgl. u. a. SC 11, 14 und 21). Gleichzeitig sei die Liturgie aber immer in einem die konkrete Feier übersteigenden Kontext als synchrone und diachrone Heilsgemeinschaft zu verstehen, als eine «unverwechselbare prophetische Stimme innerhalb der Sinfonie der Gesamtkirche». Spichtigs abschliessend formulierte Wünsche an die liturgische Entwicklung in der Schweiz für die nächsten 50 Jahre beziehen sich u. a. auf die Gestaltung der Tagzeitenliturgie, auf eine vertiefte Eucharistiekultur sowie auf eine Intensivierung der «ars celebrandi».

Ein Blick in die Zukunft

Den Blick in die Zukunft entfaltete das zweisprachige bzw. «zweistimmige» Korreferat von Prof. Dr. Patrick Prétot OSB (Paris) und Prof. Dr. Martin Klöckener zur Frage «Liturgie der Zukunft. Wohin geht der Weg?». Gefordert sei nach Ansicht der Referenten eine Liturgie, die Mass an Gott und am Menschen nimmt, eine Liturgie, die «den Menschen mit seiner heutigen Lebenserfahrung stärker in der Lehre und Sprache der Kirche» berücksichtigt. Auch dieser Anspruch sei in der «participatio actuosa» als formalem Leitkriterium der Liturgiekonstitution verankert, wenn diese als theologisches und ekklesiologisch begründetes Fundament ernst genommen und nicht «pastorales Zugeständnis» werden soll. Die Herausforderung bzw. Kunst sei es, die Balance zwischen liturgietheologischen Ansprüchen und menschlich- sozialen Wirklichkeiten angemessen auszuloten. Die Referenten erinnerten – im Rückgriff auf die Ausführungen von Andrea Grillo – auch daran, dass die Verwirklichung der Liturgiekonstitution ein Projekt einer «longue durée» ist, die Geduld fordert. Als eine «Zeit der Unterscheidung der Geister» stelle sie vor allem eine Zeit des Geistwirkens dar!

Soll die Liturgie unter veränderten gesellschaftlichen und anthropologischen Rahmenbedingungen weiterhin ein «Ort des Lebens in der Begegnung mit Gott» sein, dann müsse als eine wesentliche Voraussetzung ihr Feiercharakter wieder entdeckt und entsprechend zum Ausdruck gebracht werden.

Neben den grossen Referaten gab es am zweiten Kongresstag kleinere Vorträge zu Themen der Umsetzung der Liturgiekonstitution in den Diözesen der Schweiz: François Roten CR (Bex) und Sandra Rupp-Fischer (Freiburg) referierten zur Kirchenmusik, Prof. Dr. Bruno Bürki (Neuchâtel/Freiburg) und Prof. Dr. David Plüss (Bern) zum Thema «Liturgie und Ökumene» sowie Sr. Claire Isabelle Siegrist (Bex) und Dr. Josef-Anton Willa (Freiburg) zum Thememkreis der Liturgischen Dienste.

Des Weiteren konnten am letzten Kongresstag in kleinen Arbeitskreisen weitere konkrete Fragen zu Liturgie und Liturgiereform vertieft werden: Dr. Christoph Freilinger (Liturgisches Institut Salzburg): «Umgang mit liturgischen Texten»; Abbé Pascal Desthieux (Genf): «La planification de la liturgie dans les unités pastorales»; Dr. Pierre-Yves Maillard (Givisiez): «Liturgie comme source d’une sprititualité pour notre temps»; Dr. Walter Wiesli SMB (Immensee): «Das ‹Katholische Gesangbuch› (1988) bezüglich Bedarf und Bedürfnis»; Abbé Jean- Jacques Martin (Bischofsvikar Fribourg): «La réception des ‹Chants notés de l’assemblé›» sowie PD Dr. Johannes Stückelberger (Bern): «Kirchenbau und liturgische Kunst».

Der Kongress hat zum einen die theologische Tiefe und die fast schon prophetisch anmutende Weitsichtigkeit der Liturgiekonstitution in Erinnerung gerufen. Der kritisch-analysierende Blick auf den Istzustand der liturgischen Praxis hat aber zum anderen auch die noch nicht eingeholten Defizite und Desiderate deutlich gemacht – die volle Rezeption steht immer noch aus. Gleichzeitig haben die Referate sowie die Atmosphäre des Kongresses insgesamt Ermutigung und Motivation für die weitere Wegstrecke der Umsetzung der liturgietheologischen Grundlinien von «Sacrosanctum Concilium» anklingen lassen, unterstützt durch die Zusammenarbeit und das gemeinsame Interesse der für die Liturgie in der Schweiz engagierten Institutionen. Zuletzt wurde durch die gemeinsamen liturgischen Feiern das Thema des Kongresses nicht nur thematisch diskutiert, sondern mit Leben gefüllt und ins Leben geholt.

 

 

1 Vgl. beispielsweise den Kommentar von Reiner Kaczynski: Theologischer Kommentar zur Konstitution über die Heilige Liturgie, in: Peter Hünermann / Bernd- Jochen Hilberath (Hrsg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Band 2. Freiburg i. Br. 2004, 1–227, sowie die Gesamtdarstellung des Konzils von Otto Hermann Pesch: Das zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – W irkungsgeschichte (Taschenbuchausgabe). Würzburg 32011.

2 Johannes Paul II.: Apostolische Konstitution «Vicesimus quintus annos» Nr. 12, mit Bezug auf den Schlussbericht der Ausserordentlichen Vollversammlung der Bischofssynode 1985.

3 Vgl. dazu die programmatische Eröffnung in SC 1: «Das Heilige Konzil hat sich zum Ziel gesetzt, das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen, die dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen, zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann, und zu stärken, was immer helfen kann, alle in den Schoss der Kirche zu rufen. Darum hält es das Konzil auch in besonderer Weise für seine Aufgabe, sich um Erneuerung und Pflege der Liturgie zu sorgen.»

4 Vgl. dazu Birgit Jeggle- Merz: Die Liturgie als «Zentralproblem der Seelsorge ». Die Umsetzung der Liturgiereform im Bistum Basel, in: Liturgiereform und Bistum. Gottesdienstliche Erneuerung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Hrsg. von. Jürgen Bärsch und Winfried Haunerland. Regensburg 2013, 377– 414.

5 Auf die Versuchung, im Zuge der grossen Euphorie und Aufbruchsstimmung nach dem Konzil zu schnell auf der rituellen Ebene zu agieren, wies bereits Romano Guardini 1964 hin, vgl. Romano Guardini: Der Kultakt und die gegenwärtige Aufgabe der liturgischen Bildung, in: Liturgisches Jahrbuch 14 (1964), 101–106; eingegangen auch in: Romano Guardini, Liturgie und Liturgische Bildung, Würzburg 1966, 9 –17.

6 Vgl. Zeremoniale für die Bischöfe in den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der (Erz-)Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich, Luxemburg und Strassburg. Freiburg i. Br. 42010.

7 Dazu LG 23 weiter: «In ihnen [den Teilkirchen, d. Verf.] und aus ihnen besteht die eine und einzige katholische Kirche.»

8 Was sich vor allem im Zuge der Neuübersetzungen der liturgischen Bücher zeigt.

9 Vgl. dazu auch die programmatischen Worte der Antrittsenzyklika «Redemptor hominis» von Papst Johannes Paul II. (1979): «Der Mensch in der vollen Wahrheit seiner Existenz, seines persönlichen und zugleich gemeinschaftsbezogenen und sozialen Seins (…) dieser Mensch ist der erste Weg, den die Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrags beschreiten muss: er ist der erste und grundlegende Weg der Kirche, ein Weg, der von Christus selbst vorgezeichnet ist und unabänderlich durch das Geheimnis der Menschwerdung und der Erlösung führt» (Nr. 14).

Jörg Müller (Bild: unilu.ch)

Jörg Müller

Dipl. theol. Jörg Müller ist Assistent am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Theologischen Fakultät der Universität Luzern