Die «liturgische Frage»: ein brennendes Thema der Gegenwart

Inspirationen aus der Liturgiekonstitution des Konzils (I)

1. 50 Jahre Liturgiekonstitution: Ein Grund zum Feiern?

Jubiläen haben für die menschliche Gemeinschaft ihre Berechtigung und tiefe Bedeutung. Sie stiften Sinn, schaffen Vergewisserung und Identität, sowohl im Blick auf die Geschichte als auch auf die Gegenwart. Zugleich tragen sie die latente Gefahr in sich, dass die Vergangenheit beschönigt oder gar glorifiziert wird, die tatsächlichen Umstände des Ursprungsereignisses nur noch partiell wahrgenommen werden. Bei einem halben Jahrhundert zeitlicher Distanz sind zudem die meisten Zeitzeugen verstorben, die nachfolgenden Generationen haben die Deutungshoheit übernommen. Dass dies zu einer anderen Sicht auf die Vorgänge selbst und zu Neuinterpretationen von Texten und sonstigen Zeugnissen führen kann, liegt auf der Hand.

Jubiläen bieten aber auch die Chance, von neuem nach der Relevanz der Anfänge für die Gegenwart zu fragen, damit das Vergangene seine prägende Kraft behält. Diese Aufgabe stellt sich gerade in der Geschichte des Glaubens, der immer verwiesen ist auf das biblische Zeugnis und auf die Überlieferung. In diesem Sinn bedeutet auch das Jubiläum eines Konzilsdokuments mehr als eine historische Rückschau; es ist eine Chance, um die Bedeutung des historischen Dokumentes für das Heute zu erschliessen. Veränderte Kontexte können dabei zu völlig neuen Fragen und zu ebenso neuen Antworten führen und den ursprünglichen Text mit seinen vielfältigen Facetten auf andere Weise entdecken lassen. Dies soll im vorliegenden Beitrag zur Liturgiekonstitution «Sacrosanctum Concilium» (SC) des Zweiten Vatikanischen Konzils, deren 50. Jahrestag am 4. Dezember begangen wird, versucht werden.

2. Das Programm der Liturgiereform – unter gewandelten Vorzeichen

Seit fünf Jahrzehnten ist die Kirche auf das Programm des Konzils verpflichtet, das mit der Liturgiekonstitution «Sacrosanctum Concilium» als seinem ersten Dokument am 4. Dezember 1963 auf den Weg gebracht wurde. In diesen Jahrzehnten ist viel unternommen worden, um die Liturgie «zu erneuern und zu pflegen»; denn den Konzilsvätern war es darum gegangen, «das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen, die dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen, zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann, und zu stärken, was immer helfen kann, alle in den Schoss der Kirche zu rufen » (SC 1).1 So hatte es ja der erste Satz des Konzils, den man nicht oft genug in Erinnerung rufen und mit seiner bleibenden Brisanz herausstellen kann, als übergreifendes Ziel aller Erneuerung formuliert. Die Vertiefung des christlichen Lebens der Gläubigen sollte alle Bereiche des Lebens und Glaubens der Getauften einbeziehen und trägt somit eine stark spirituelle Komponente in sich. Nicht Flucht aus der Welt, sondern die kritisch reflektierte Anpassung der Liturgie an die sich wandelnden Erfordernisse der Welt gab das Konzil der Kirche als Aufgabe, eine Option, die später besonders eindrucksvoll in der Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» über die «Kirche in der Welt von heute» bestätigt wurde. Die Förderung der Einheit der Christen und die missionarische Sendung waren weitere Schwerpunkte, die Frucht des Konzils sein sollten. Dies alles musste sich unmittelbar auf die Liturgie auswirken, wenn diese wirklich im Zentrum des kirchlichen Lebens steht.

Worin bestehen die Früchte?

– Die tiefgreifende Neuordnung der Liturgie, die alle Bereiche und Feierformen umfasste, hat dazu geführt, dass aus «Aussenstehenden und stummen Zuschauern» (SC 48) eine lebendig mitfeiernde Gemeinde geworden ist.

– Alle Gläubigen nehmen in vollem Sinn am gottesdienstlichen Leben teil und bringen mit ihrer Taufberufung sowie mit ihren spezifischen Beauftragungen und Ämtern die sakramental begründete Struktur des Gottesvolkes zum Ausdruck (vgl. SC 27–28 u. ö.); dabei ist die gemeinsame Taufe die erste und alle verbindende Grundlage.

– Das Wort Gottes wird in weitem Umfang und für alle verständlich verkündet, damit es zur ersten Quelle des Lebens und Glaubens wird (vgl. SC 24, 35 u. ö.).

– Die Riten sind erheblich transparenter geworden, so dass die Liturgie vom «Glanz edler Einfachheit » (SC 34) geprägt ist.

– Viele liturgische Vollzüge haben an Echtheit gewonnen, was zum Beispiel die Ämter und Dienste, die Zeit als Grundkategorie aller Liturgie oder Wort und Ritus anbelangt.

– Die Eucharistiefeier besteht aus zwei gleichrangigen Teilen: dem Wortgottesdienst und dem eucharistischen Teil, die untrennbar miteinander verbunden sind (vgl. SC 56).

– Der Reichtum im liturgischen Beten ist erheblich gewachsen; das liturgische Gebet kann durch die Verwendung der Muttersprache wirklich zum Gebet der Gläubigen werden (vgl. SC 33, 53, 78 u. ö.), auch wenn sich durch die Verwendung der Volkssprachen mitunter neue Fragen sowohl zum sprachlichen Ausdruck als auch zu den Inhalten stellen.

– Die Sakramente werden entsprechend der tatsächlichen Situation der betroffenen Menschen und Situationen gefeiert (vgl. SC 59, 61 u. ö.).

– Die Tagzeitenliturgie wurde umfassend erneuert, um sie theologisch und geistlich zu vertiefen, die gemeinschaftliche Feier zu fördern und sie besser an die Verhältnisse anzupassen, auch wenn gerade in diesem Bereich zahlreiche Fragen offen geblieben sind (vgl. SC 83–101).

– Das Kirchenjahr hat ein klareres theologisches Fundament und – darauf aufbauend – eine erheblich veränderte Gestalt bekommen; das Verhältnis zwischen der Feier des Christus-Mysteriums als der Mitte aller Liturgie und der Feier der Heiligen wurde angemessen neu bestimmt (vgl. SC 102–111).

– Liturgische Musik und liturgische Kunst haben eine Neuausrichtung erfahren, die mit den übergreifenden Zielen der Liturgiekonstitution im Einklang steht (vgl. SC 112–121 und 122–130).

– Vor allem aber wurde die Theologie der Liturgie mit dem Pascha-Mysterium Jesu Christi auf ein neues Fundament gestellt (vgl. besonders SC 5–7, aber auch SC 47, 61, 102 u. ö.), das sich durch alle Verwirklichungen von Liturgie hindurchzieht und darüber hinaus zur Lebensmitte der Menschen werden kann und soll.

Jede Bewertung der Liturgiekonstitution und der aus ihr hervorgegangenen Reform hat dieses bedeutende Werk, das auf Grundlage von «Sacrosanctum Concilium» in der Kirche geschaffen wurde, zu würdigen. Auch wenn sich im Blick auf die tatsächliche liturgische Situation fünf Jahrzehnte nach der Liturgiekonstitution jede Schönfärberei verbietet, stehen die Anerkennung und Dankbarkeit für die erneuerte Liturgie an erster Stelle.

Doch hat sich das liturgische Konzilswerk seit Beginn auch kritischen Anfragen und Herausforderungen zu stellen, die vor 50 Jahren von den Konzilsvätern nicht immer gesehen und bedacht werden konnten. Denn seit jener Zeit hat die Kirche in ihrem Inneren, aber genauso durch ihre Einbindung in Gesellschaft und Kultur, erhebliche Wandlungen erlebt – und mit ihr die nach dem Konzil neugestaltete Liturgie: ihre Feiergestalt, ihr Verständnis, ihre Kontexte, die Feiergemeinde … Die Voraussetzungen, von denen die Konzilsväter ausgehen konnten, bestehen heute nicht mehr in gleicher Weise; die konkrete Gestalt und das Verständnis von Kirche, auf die hin «Sacrosanctum Concilium» die Erneuerung der Liturgie entwarf, ist tiefgreifend verändert. Viele Aufgaben und Fragen von damals sind gelöst worden, aber ebenso viele neue entstanden. Wer glaubte, dass mit dem Konzil und besonders mit seiner Liturgiereform alle wichtigen Punkte des Gottesdienstes der Kirche zufriedenstellend und auf längere Sicht geregelt seien, musste sich damals und muss sich heute eines Besseren belehren lassen. Denn wer das liturgische Leben aufmerksam beobachtet und kritisch reflektiert und wer die theologische Diskussion um den Gottesdienst der Kirche verfolgt, weiss bestens, dass zum einen der Konzilsauftrag noch nicht umfassend erfüllt ist und dass zum anderen mit dem Fortschreiten der Liturgiereform und deren vielfältiger werdenden Interpretation zahlreiche Fragen neue Aktualität gewonnen haben. Die Beschäftigung mit der Liturgie auf der Basis des Zweiten Vatikanischen Konzils bleibt eine der grossen Aufgaben von Theologie und Kirche. Die «liturgische Frage», die die Liturgische Bewegung schon Anfang des 20. Jahrhunderts aufgeworfen hatte, ist auch eine drängende Frage der Gegenwart, selbst wenn bestimmte theologische Ansätze und Auffassungen genauso wie bestimmte kirchliche Kreise sie immer noch für nachrangig halten und auf das Abstellgleis der rituellen Kasuistik zu schieben versuchen. Wer so denkt und handelt, hat die Relevanz und Brisanz der Liturgie für Theologie und Kirche nicht verstanden. Im Übrigen haben die beiden letzten Pontifikate mit ihren in liturgischer Hinsicht zum Teil gegenläufigen Tendenzen mustergültig verdeutlicht, welchen Rang die Liturgie im Leben der Kirche hat, wie alles Sein und Wirken der Kirche aufs Engste mit der Liturgie zusammenhängt und zu welch unterschiedlichen Interpretationen des Konzilswillens man gelangen kann.

3. Tendenzen der liturgischen Entwicklung im letzten Jahrzehnt

Jede Phase der nachkonziliaren Entwicklung hat ihre Charakteristika gehabt und sah sich mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert. Ging es zu Beginn darum, schnellstmöglich und doch auf hohem theologischen und gestalterischen Niveau in Verpflichtung zur Tradition, unter Beachtung der theologischen Schwerpunkte des Konzils und angesichts der neuen Herausforderungen von Kirche und Gesellschaft die revidierten liturgischen Bücher und Ordnungen als Basis für alles gottesdienstliche Handeln zu erstellen,2 so stand in einer nachfolgenden Phase vor allem die Vertiefung der theologischen Erkenntnis der Liturgie an; eine bessere Verwurzelung in den Kulturen genauso wie das Bemühen um den Zusammenhang von Liturgie und geistlicher Erfahrung waren angezeigt.3 Gleichzeitig wandelten sich manche Sichtweisen auf den Gottesdienst, drängten sich in vielen Ländern neue und teils recht unterschiedliche Aufgaben in den Vordergrund, die nicht in den Konzilstexten behandelt worden waren. Besonders signifikante Wandlungen hinsichtlich der Deutung und Neudeutung der Liturgiekonstitution und der Entwicklungen im liturgischen Leben der Kirche scheint mir das letzte Jahrzehnt mit sich gebracht zu haben. Im Jahr 2003 wurde auf zahlreichen Veranstaltungen und in Publikationen zum 40-Jahr-Jubiläum von «Sacrosanctum Concilium» die bleibende Bedeutung der Liturgiekonstitution und der Liturgiereform von neuem bewusst gemacht;4 welche nachhaltigen und teils unerwarteten Entwicklungen seitdem vorangegangen sind, mag die folgende Skizze verdeutlichen.

– Das letzte Jahrzehnt hat zwei bedeutende Pontifikatswechsel gekannt: von Johannes Paul II. zu Benedikt XVI. (2005) und von diesem zu Franziskus (2013). Diese wirken sich mehr, als man vordergründig meinen könnte, auf die Liturgie aus;5 die medialen Bilder und die weltweite Augenblickskommunikation leisten dazu – anders als in früheren Generationen – einen erheblichen Beitrag. Papst Johannes Paul II. liess, unterstützt vom damaligen päpstlichen Zeremonienmeister Piero Marini, besonders auf seinen Pastoralreisen das klare Bemühen um die Inkulturation, um die Begegnung mit den Lebenswelten der Menschen und die Anerkennung der Werte in den Orts- und Teilkirchen erkennen, wenngleich sein Pontifikat auch andere Züge kannte. Andere Akzente in der Liturgie setzte Papst Benedikt XVI. mit seiner zunehmend historisierenden liturgischen Ausstattung, die jedoch auch theologische Einstellungen und offenbar ebenso persönliche Vorlieben widerspiegelte; das ging so weit, dass dadurch mehrere Jahrzehnte anerkannter und breit rezipierter liturgischer Entwicklung in Frage gestellt wurden. Papst Franziskus pflegt hingegen eine bemerkenswerte Schlichtheit in der Liturgie, verzichtet auf allen liturgischen Pomp und sucht in seiner pastoralen Sorge die Konzentration auf das Wesentliche; die Verkündigung seiner Wahl und die Fusswaschung am Gründonnerstag in einem Jugendgefängnis sind dafür nur zwei allerdings überaus markante, geradezu programmatische Zeichenhandlungen.

– Ein einschneidendes Ereignis war auf weltkirchlicher Ebene die umfassende Wiederzulassung des römischen Ritus in seiner tridentinischen Gestalt durch Papst Benedikt XVI. im Jahr 2007.6 Diese Entscheidung hat – neben immensen pastoralen Implikationen, Fragen nach der liturgischen Ekklesiologie und dem priesterlichen Selbst- und Amtsverständnis – die heikle Frage nach der Hermeneutik und nach der Verbindlichkeit des Konzils aufgeworfen.7 Wie sie sich längerfristig auf universalkirchlicher und teilkirchlicher Ebene auswirken wird, ist heute kaum abzusehen.

– Weiterhin wurden in diesem Jahrzehnt nach neuen römischen Richtlinien, der aus dem Jahr 2001 stammenden Instruktion «Liturgiam authenticam» zur Übersetzung der römischen Liturgie in die Volkssprachen, 8 in vielen Teilkirchen Neuausgaben der liturgischen Bücher vorbereitet, die – so der Anspruch der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung – eine neue Epoche der römischen Liturgie und damit auch des Verhältnisses von Gesamtkirche und Teilkirchen einleiten sollten. Die entsprechende Übersetzerinstruktion «Comme le prévoit» aus dem Jahre 1969,9 nach deren klug bedachter Leitlinien rund 30 Jahre lang alle liturgischen Bücher in den Teilkirchen erstellt worden waren, wurde ausser Kraft gesetzt. Das bedeutete einen tiefen Eingriff in die Kompetenzen der Bischofskonferenzen in liturgischen Angelegenheiten sowie in die liturgische Arbeit auf teil- und ortskirchlicher Ebene, verbunden mit einer stark veränderten liturgischen Ekklesiologie. Die bisher erzielten Ergebnisse offenbaren schonungslos die Spannungen, die daraus hervorgegangen sind: Das neue englische «Roman Missal» wurde 2011 publiziert und verursacht seitdem teilweise heftige Kontroversen; bei seinem Erscheinen empfahlen kirchliche Verantwortungsträger allen Ernstes, die zuvor mehrere Jahrzehnte lang gültige Ausgabe der «lex orandi» der katholischen Kirche in der Erde zu vergraben. Ganz anders haben die deutschsprachigen Bischofskonferenzen (Schweiz, Deutschland, Österreich) in diesem Jahr die in mehrjähriger Arbeit fertiggestellte Neuübersetzung des Messbuchs wegen gravierender Bedenken vor allem betreffs der liturgischen Sprache nicht approbiert.10 Die Erfahrungen mit dem «gescheiterten» Begräbnisrituale (2009) haben ihre Spuren hinterlassen;11 pastorale Klugheit und der Mut zu einer Entscheidung für das geistliche Wohl ihrer Teilkirchen setzten sich durch. Derzeit ist offen, was daraus weiter wird.

– Auch in anderen Bereichen gerade der Liturgie erlebte das Jahrzehnt einen römischen Zentralismus, wie man ihn sonst kaum in der Kirchengeschichte finden wird; dessen Ausdruck waren unter anderem mehrere Mahnschreiben (z. B. «Redemptionis sacramentum », 2004) an die ganze Kirche und Aufforderungen an einzelne Bischofskonferenzen, die kaum die besonderen Situationen der Teilkirchen in den Blick nahmen. In der Schweiz hat sich dies unter anderem in der Abschaffung der Bussandachten mit Generalabsolution ab dem Jahr 2009 ausgewirkt.

– Die Auseinandersetzungen um die richtige Hermeneutik des Konzils, um Kontinuität und Diskontinuität wurden, vor allem ausgehend von Äusserungen Papst Benedikts XVI., zu zentralen Themen. Angesichts der bestehenden Friktionen – in Frankreich beispielsweise deutlich schärfer als im deutschen Sprachgebiet – zog dies und zieht dies unverändert teils verbissene Kontroversen nach sich.

– In der Schweiz und anderen Ländern des deutschen Sprachgebietes führten der Priestermangel und der daraus hervorgewachsene pastorale Notstand zu Pfarreizusammenlegungen und grossräumigen Seelsorgeeinheiten, wobei liturgische Kriterien wenig bedacht wurden.12 Dass die Liturgie «Quelle und Höhepunkt» (SC 10) des ganzen kirchlichen Lebens ist, wird allzu leicht übersehen, wenn neue Strukturund Pastoralkonzepte aufgestellt werden.

– Die Wortgottesfeier am Sonntag in Pfarreien, in denen keine Eucharistiefeier möglich ist, ist in verschiedenen Ländern (z. B. Schweiz, Frankreich, Deutschland) zu einem regelmässigen Gottesdienst geworden. Einzelne Bischöfe verhalten sich, anders als vor einem Jahrzehnt, zunehmend reserviert, auch wenn keine einhellige Meinung auszumachen ist.13 Gleichzeitig geht mit Unterstützung der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz (DOK) in Verantwortung des Liturgischen Instituts eine völlige Neuausgabe des teilkirchlichen Buches «Die Wortgottesfeier » (1997) ihrer Vollendung entgegen, die weniger pastoraler Pragmatik als vielmehr verantworteter theologischer Reflexion folgt und die auf diesem Feld neue Massstäbe setzen wird.

– Ungeklärte Fragen des kirchlichen Amtes und der Laiendienste wurden schärfer diskutiert und schlagen sich mancherorts in der liturgischen Feier nieder. Der Versuch einer Arbeitsgruppe der Theologischen Kommission ist ein wichtiger Ansatzpunkt,14 bedarf aber einer Weiterführung und Vertiefung.

– Kontroversen und Polemik finden sich immer wieder bei der Frage nach Kreativität und Ordnung in der Liturgie. Wie viel Freiheit zur Anpassung der Liturgie kommt dem einzelnen Liturgen oder der einzelnen Liturgin zu? Wie viel Variation verträgt eine rituell geprägte Feier, vertragen die Menschen, die aus ihr ihr geistliches Leben gestalten wollen, verträgt die unaufgebbare tätige Teilnahme, um nur einige Anfragen zu nennen, die sich in diesem Bereich ergeben.15

– Auf breiter Basis besteht ein dringender Bedarf nach liturgischer Bildung, nicht zuletzt weil die liturgische Sozialisation durch Teilnahme an der Liturgie bei den jüngeren Generationen der Getauften – und nicht nur bei diesen – nicht mehr gegeben ist. Dieser Auftrag stellt in kleiner gewordenen Gemeinden und angesichts des veränderten liturgischen Teilnahmeverhaltens vieler Mitchristen und der weiter schwindenden Identifikation mit der Kirche eine bedeutende Herausforderung dar.

– Zu den Ermutigungen der jüngeren Zeit zählt ein in manchen Kreisen junger Menschen erwachtes neues Interesse an Spiritualität, selbst wenn dies gelegentlich der Läuterung bedarf. Vor allem gottesdienstliche Grossveranstaltungen wie die Weltjugendtage, aber auch Veranstaltungen in kleinerem Rahmen (z. B. Taizé-Gruppen usw.) zeugen davon. Mit grosser Wachsamkeit ist hier zu fragen, wie viel «Event» vertretbar ist, wie viel Glaube und wie viel Identifikation mit der Kirche als Glaubensgemeinschaft gegeben sein muss, welche liturgischen Formen mit welcher Teilnehmergruppe theologisch angemessen sind.

– Eine Ermutigung war auch das 2005 anlässlich der römischen Instruktion «Redemptionis sacramentum » erschienene wegweisende Wort der Schweizer Bischöfe zur liturgischen Praxis hier im Land,16 das nach seiner Veröffentlichung leider schnell vergessen wurde. Ein solches Dokument könnte Basis eines Gesprächs über die Liturgie in weiten Kreisen der Pastoral sein – wenn solche Anknüpfungspunkte nur konstruktiv genutzt würden.

– Eine besondere Ermutigung stellt die Neuerrichtung des Liturgischen Instituts für die deutschsprachige Schweiz in Freiburg (2004)17 mit seinen reichen Initiativen zur liturgischen Bildung und auf anderen Arbeitsfeldern der Liturgiepastoral dar. Ähnliches leisten, wenn auch mit geringeren Mitteln, das «Centre Romand de Pastorale Liturgique» in Bex für die Westschweiz und das «Centro di Liturgia» in Lugano für das Bistum Lugano.18

Viele weitere Vorgänge und Initiativen sowohl auf teil- als auch auf universalkirchlicher Ebene liessen sich nennen, die charakteristisch sind für die liturgische Entwicklung im letzten Jahrzehnt, manches davon auch in ökumenischer Perspektive, teils verbunden mit Hoffnungen, teils aber auch mit Enttäuschungen. Zentrales Anliegen ist dabei immer wieder das, was oben schon mit der «liturgischen Frage» anklang: Wie kann der Mensch von heute in der Liturgie leben, in ihr seine Stütze im Glauben finden, in ihr die Christusverbundenheit je neu entdecken, pflegen und vertiefen? Wie kann er in und mit der Liturgie seiner Integration in die Kirche als Leib Christi Ausdruck verleihen, wie aus ihr sein geistliches Leben gestalten? Kurzum: Wie können Gott und Mensch unter den Bedingungen der Gegenwart in der Liturgie bestmöglich zusammenfinden, in den lebendigen Austausch von Heilszuwendung einerseits und Danksagung und Lobpreis andererseits treten, und zwar so, dass daraus wirklich menschliches und christliches Leben in der Gemeinschaft der Kirche wachsen, reifen und zur Fülle kommen kann?

1 Vgl. eine umfassende Interpretation dieses Artikels bei Martin Klöckener: Die Vision einer lebendigen Liturgie, in: Gottes Volk feiert … Anspruch und Wirklichkeit gegenwärtiger Liturgie. Hrsg. von Martin Klöckener, Eduard Nagel und Hans-Gerd Wirtz. Trier 2002, 9 –36.

2 Vgl. den umfassenden Bericht von Annibale Bugnini: Die Liturgiereform 1948 –1975. Zeugnis und Testament. Dt. Ausgabe hrsg. von Johannes Wagner unter Mitarbeit von François Raas. Freiburg i. Br. 1988. Siehe auch die einschlägigen Dokumentationen: Der Gottesdienst im deutschen Sprachgebiet. Liturgische Dokumente, Bücher und Behelfe. Unter Mitarb. von Josef Schermann hrsg. und eingel. von Hans Bernhard Meyer. Regensburg 1982; Dokumente zur Erneuerung der Liturgie. Hrsg. von Heinrich Rennings und Martin Klöckener. 3 Bände. Kevelaer-Fribourg 1983–2001.

3 Diese Vorgabe zeigt sich vor allem im Schreiben Papst Johannes Pauls II. zum 25-Jahr-Jubiläum der Liturgiekonstitution «Vicesimus quintus annus» (4. Dezember 1988), deutsch in: Dokumente zur Erneuerung der Liturgie (wie Anm. 2) Bd. 3, 6263– 6285.

4 Vgl. unter anderem den aus einer z weiteiligen Tagung an den Universitäten Freiburg und Erfurt hervorgegangenen Band: Gottesdienst in Zeitgenossenschaft. Positionsbestimmungen 40 Jahre nach der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils. Hrsg. von Martin Klöckener und Benedikt Kranemann unter Mitarbeit von Andrea Krogmann. Freiburg/ Schweiz 2006. Siehe darin auch die Periodisierung der Liturgiereform von Martin Klöckener: Die Dynamik von Liturgischer Bewegung und Liturgiereform. Theologisch- spirituelle Gemeinsamkeiten und Differenzen, in: Ebd., 21– 48.

5 Vgl. unter anderem Piero Marini: L’adaptation de la liturgie papale à l a réforme liturgique du concile Vatican II, in: La Maison-Dieu No. 268 (2011), 11–39.

6 Vgl. Papst Benedikt X VI.: Apostolisches Schreiben «Summorum Pontificum» (7. Juli 2007). Brief des Heiligen Vaters an die Bischöfe anlässlich der Publikation (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 178). Bonn 2007.

7 Vgl. Andrea Grillo: Ende der Liturgiereform? Das Motuproprio «Summorum pontificum», in: Stimmen der Zeit 225 (2007), 730 –740; Ein Ritus – z wei Formen. Die Richtlinie Papst Benedikts X VI. zur Liturgie. Hrsg. von Albert Gerhards. Freiburg i. Br. 2008; Martin Klöckener: Wie Liturgie verstehen? Anfragen an das Motu proprio «Summorum Pontificum» Papst Benedikts XVI., in: Liturgie verstehen. Ansatz, Ziele und Aufgaben der Liturgiewissenschaft. Hrsg. von M. Klöckener, Benedikt Kranemann und Angelus A. Häussling (= Archiv für Liturgiewissenschaft 50 [2008]). Freiburg/ Schweiz 2008, 268 –305.

8 Vgl. Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung: «Liturgiam authenticam». Der Gebrauch der Volkssprachen bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie. Fünfte Instruktion «zur ordnungsgemässen Ausführung der Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils über die heilige Liturgie» (zu Art. 36 der Konstitution) (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 154). Bonn 2002.

9 Deutscher Text in: Dokumente zur Erneuerung der Liturgie (wie Anm. 2) Bd. 1, 1200 –1242.

10 Vgl. zuletzt [Stephan U. Neumann]: Neuübersetzung des Messbuchs vorerst gescheitert, in: Christ in der Gegenwart 65 (2013), Nr. 41, 471. Zuvor schon Peter Spichtig: Informationen zur Messbuchrevision und Klarstellung zu geltenden Normen, in: SKZ 178 (2010), 672.

11 Vgl. Martin Klöckener: Das eine Rituale und die vielen Feiern. Die Begräbnisliturgie in der Diskussion, in: Heiliger Dienst 65 (2011), 42– 67.

12 Vgl. besonders die Beiträge von Martin Werlen und Eva-Maria Faber in dem Band: Leib Christi sein – feiern – werden. Ort und Gestalt der Eucharistiefeier in der P farrei. Hrsg. von Martin Klöckener und Peter Spichtig unter Mitarbeit von Andrea Krogmann. Freiburg/ Schweiz 2006; Stephan Winter: Gottesdienste in Seelsorgeeinheiten – ein Einblick in die Praxis nordwestdeutscher Bistümer, in: Liturgisches Jahrbuch 60 (2010), 197–228.

13 Vgl. Martin Klöckener: Wortgottesfeiern in den schweizerischen Diözesen. Erfahrungen, pastoralliturgische Situation, Perspektiven, in: Laien leiten Liturgie. Die Wort-Gottes-Feiern als Aufgabe und Herausforderung für die Kirche. Trier 2013, 89–117; französische Übersetzung mit einer ergänzenden Information für Frankreich von Patrick Prétot in: La Maison-Dieu No. 269 (2012), 55–73(–78).

14 Vgl. Beauftragte Laien im kirchlichen Dienst. [Erarb. von einer Arbeitsgruppe der Theologischen Kommission.] Hrsg. vom Sekretariat der Schweizer Bischofskonferenz. Freiburg/Schweiz 2005 (Dokumente der Schweizer Bischöfe 12).

15 Vgl. zur Problematik und zu Orientierungen für die Zukunft: Martin Klöckener: Tradition, Form und Ordnung versus Aktualitätsbezug, Kreativität und Experiment. Zu einer strittigen Gratwanderung in der Liturgie, in: Zwischen Tradition und Postmoderne. Die Liturgiewissenschaft vor neuen Herausforderungen. Hrsg. von Michael Durst und Hans J. Münk. Freiburg/ Schweiz 2010, 29– 62.

16 Vgl. Wort der Schweizer Bischöfe zur Instruktion «Redemptionis sacramentum ». Hrsg. von der Schweizer Bischofskonferenz. Freiburg/Schweiz 2005.

17 Vgl. Peter Spichtig: 50 Jahre Liturgisches Institut der Schweiz, in: SKZ 181 (2013), 432– 434. 439; Gunda Brüske: Das Liturgische Institut der Schweizer Bischöfe: ein Beitrag zur Konzilsrezeption, in: Der Zeit voraus – Devancer son époque. Liturgiewissenschaft an der Universität Freiburg Schweiz: Geschichte, Konzepte, Projekte. 1956 –2006 (…) Hrsg. von Martin Klöckener und Bruno Bürki. Freiburg/ Schweiz 2011, 176 –182; Peter Spichtig: Rückkehr zu den Ursprüngen: Profil, Aufgaben und Perspektiven des Liturgischen Instituts in Freiburg, in: Ebd. 183–193; siehe auch www.liturgie.ch .

18 Vgl. www.crpl.ch; www.diocesilugano.ch

Martin Klöckener

Martin Klöckener

Prof. Dr. Martin Klöckener ist seit 1994 ordentlicher Professor und Inhaber des zweisprachigen Lehrstuhls für Liturgiewissenschaft an der Universität Freiburg/Schweiz. Er ist Mitglied in zahlreichen wissenschaftlichen Vereinigungen im In- und Ausland und übt eine umfangreiche Dienstleistungs- und Beratungstätigkeit in wissenschaftlichen und kirchlichen Gremien und Kommissionen aus.