Die Schweiz und Armenien

Der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich erzeugte in der Schweiz vor hundert Jahren eine bis dahin noch nie gekannte Welle der Solidarität über die Sprach- und Konfessionsgrenzen der Schweiz hinweg. Die Schweiz war im ausgehenden 19. Jahrhundert ein Sammelbecken linker Revolutionäre und Anarchisten wie Michael Alexandrowitsch Bakunin, Georgy Plekhanov, Alexander Herzen, Wladimir Iljitsch Lenin usw. 1887 hatte in Genf eine Gruppe armenischer Studenten die sozialdemokratische Partei "Hintschak", die zum Kampf für die nationale Befreiung aufrief, gegründet. Ihr folgte 1892 die Revolutionäre Föderation "Daschnakzutiun", die ebenfalls Genf als Zentrum ihrer Auslandaktivitäten wählte. Ihre Zeitung "Droschak" (Fahne) erschien dort bis zum Ersten Weltkrieg. Die Parteien Hintschak und Daschnak, die bis heute existieren, organisierten in der Türkei lokale Revolten, was in den Jahren 1895/96 zu massiven Reaktionen und Metzeleien an den Armeniern seitens des Osmanischen Reiches führte. Im Westen kam es damals zu einer ersten grossen Solidaritätswelle für die verfolgten Armenier. In der Schweiz wurden 1896 bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 3. Mio. 454 291 Unterschriften für eine Petition gesammelt, die den Bundesrat zu einer diplomatischen Intervention aufrief. Die Unterschriftenpetition wurde dem Bundespräsidenten Adolf Deucher übergeben. Lanciert wurde die Bittschrift vom Schweizer Hilfsbund für Armenien, der kurz darauf in Sivas und Urfa Waisenhäuser und Kliniken eröffnete. Dabei zeichneten sich besonders der Genfer Orientalist Léopold Favre (1846–1922), der Gründer des Waisenhauses von Sivas, und der Appenzeller Diakon Jakob Künzler (1871–1949) aus.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich in Lausanne und Genf, um die Familien des Zahnarztes Minas Tchéraz und den Zigarettenfabrikanten Tchamkerten und die armenischen Studenten, armenische Gemeinden zu bilden. Unter den armenischen Studenten, die in Lausanne studiert hatten, waren die Schriftsteller Roupen Sévak (1885–1915), der später zu den 600 Konstantinopeler Intellektuellen gehörte, die zu Beginn des Genozids am 24. April 1915 ermordet wurden, sowie Avétis Aharonian (1866–1948), der 1918 Mitbegründer der Demokratischen armenischen Republik war. Der Schriftsteller Atom Jartschanjan mit dem Pseudonym Siamanto (1878–1915) hatte in Genf die armenische Zeitung "Droschak" herausgegeben, bevor er in die Türkei zurückkehrte und dort Opfer des Völkermordes wurde.

Schweizer Hilfe in Armenien

Die Zentren des Schweizer Engagements in Armenien waren die Städte Sivas und Urfa, das früher Edessa hiess und heute Sanliurfa genannt wird. In Urfa hatte, nach einem Aufstand der Armenier, im Auftrag der Türken der deutsche Major Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg im Oktober 1915 das Armenierviertel zerstört. Deutsche befanden sich auf beiden Seiten der Barrikaden: Graf Wolffskeel, der "die Bande der Armenier kleinkriegen wollte", auf der Seite der türkischen Angreifer, viele Missionsangehörige, darunter auch der Schweizer Leiter des Spitals, Jakob Künzler, aber auf der Seite der armenischen Belagerten und Bedrängten. Der Appenzeller Jakob Künzler veröffentlichte neben zahllosen Artikeln zwei Erinnerungsbücher (1921, 1930) über seine zwanzigjährige Dienstzeit von 1899 bis 1919 in Urfa. Das Krankenhaus des Armenierhilfswerkes in Urfa blieb bis zum Ende des Ersten Weltkrieges unter der Leitung der deutschen evangelischen Orient-Mission, deren Mitbegründer Johannes Lepsius war, und wurde anschliessend als "Schweizer Spital" bis zu seiner Auflösung 1922 als schweizerische Einrichtung fortgeführt, unterstützt von philanthropischen Kreisen in Basel. Unter Lebensgefahr halfen Künzler, seine Frau und die Dänin Karen Jeppe, wo sie konnten, versorgten Hungernde und Nackte, versteckten Flüchtlinge, sorgten für Tausende von armenischen Waisen und führten den Spitalbetrieb in der Stadt Urfa notdürftig weiter. So konnten sie etwa 2700 Armenier vor dem Tod bewahren. Die Familie Künzler überführte 1922 1400 armenische Waisen nach Ghazir im Libanon, wo Künzler 1949 verstarb. Wegen seines selbstlosen Einsatzes wurde Künzler auch Bruder Jacob genannt.

In der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern überdauerte als Maschinenschrift ein Tagebuch von Gertrud Vischer-Oeri, der Frau des Basler Missionsarztes Dr. Andreas Vischer, dem Mitbegründer und Präsidenten des Schweizerischen Hilfswerks für Armenien, der so wie Künzler im Dienst der Deutschen Orient-Mission stand und diesen im Sommer 1919 während Künzlers einjährigem Schweizaufenthalt in Urfa ablöste und 1921 über seine Erfahrungen berichtete. Die Aufzeichnungen seiner Frau decken den Zeitraum zwischen dem 11. August 1919 und dem 23. Juni 1920 ab: den Wechsel der britischen durch die französische Besatzung, die fast zweimonatige Belagerung der Franzosen in Urfa, ihre Kapitulation und weitestgehende Massakrierung. Mit der Ausweisung der letzten Christen aus Urfa endet Vischer-Oeris Bericht.

Hilfe für Armenier in der Schweiz

Nach Beginn des Genozids brachte die Schweiz Hunderte von Flüchtlingen in Heimen unter, die unter der Leitung des Pfarrers Antony Krafft-Bonnard (1869–1945) aus dem Kanton Waadt in Begnins bei Nyon entstanden waren. 1921 wurde in Begnins in einer ehemaligen Pension eine Wohnstätte für armenische Waisenkinder mit einer eigenen Schule eingerichtet. Insgesamt hat die Schweiz etwa 2000 armenische Waisen aufgenommen.

Unter den Flüchtlingen und Waisen bildeten sich die ersten armenischen Kirchgemeinden. Die ersten armenischen Liturgien wurden in Genf erst nach 1925 gefeiert. Ein kleiner Kirchenrat organisierte anfänglich zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zu Ostern, eine heilige Messe. Dazu musste man einen Priester von Paris nach Genf einladen. Die Waisenkinder von Begnins bildeten einen gemischten Chor, der die Hymnen der armenischen Liturgiefeier sang. Die Armenische Apostolische Kirche ist bis heute das Herz der armenischen Gemeinde in der Schweiz. Die 4000 in die Schweiz (vor allem in die französischen Schweiz) emigrierten Armenier integrierten sich gut. Seit 1969 verfügen sie in Troinex über eine eigene Kirche, Surp Hagop. Zudem wird ihre Sprache seit 1920 dank der Pionierarbeit von Max von Sachsen (1870–1951) an der Universität Freiburg i. Ü., seit 1974 auch in Genf gelehrt.

Politische Hilfe für Armenien

Dem einflussreichen armenischen Politiker Boghos Nubar Pascha war es nach Beginn des Genozids von seinem Exil in Paris aus mit Hilfe des Katholikos in Etschmiadzin gelungen, die radikalen und die gemässigten armenischen Parteien zur Zusammenarbeit zu veranlassen. Hierzu war die Schweiz ein wichtiger Ort, weil hier die radikalen armenischen Parteien entstanden waren. Sein Vertrauensmann in der Schweiz war der katholische Priester und Publizist Gabriel Mikhaelian, der einen Lehrauftrag an der Universität Freiburg hatte. Pater Mikhaelian versuchte von der Schweiz aus auch die deutsche Reichsregierung und den führenden deutschen Zentrumspolitiker Mathias Erzberger für die Armenierfrage zu gewinnen. Leider mit wenig Erfolg.

Nach einer kurzen Zeit der Unabhängigkeit eines kilikischen Armeniens (Mai 1918 bis Dezember 1920) wurde das kaukasische Armenien 1921 eine Sowjetrepublik. Im Völkerbund setzten sich die Schweizer Bundesräte Gustave Ador und Giuseppe Motta weiterhin für das "Märtyrervolk" ein, das immer mehr von der Welt vergessen wurde. Dessen Schicksal wurde 1923 auf der Konferenz von Lausanne über den Frieden im Nahen Osten endgültig besiegelt. Während der Vertrag von Sèvres (F) vom 10. August 1920 Armenien in den vom US-Präsident Woodrow Wilson vorgeschlagenen Grenzen noch anerkannt hatte, erwähnte der Lausanner Vertrag vom 24. Juli 1923 auf Druck der gerade erst gegründeten kemalistischen Türkei nicht einmal mehr die Existenz eines armenischen Staates.
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Bibliografie

1. Jakob Künzler: Im Lande des Blutes und der Tränen. Erlebnisse in Mesopotamien während des Weltkrieges. Potsdam 1921 / Neuauflage hrsg. von Hans-Lukas Kieser. Zürich 1999, 199 S.; Jakob Künzler: Dreissig Jahre Dienst im Orient. Basel 1930.

2. Gertrud Vischer-Oeri: Erinnerungen an Urfa [= hektografiertes Manuskript im Selbstverlag]. Riehen 1966.

3. Andreas Vischer: Erlebnisse eines Schweizerarztes bei den türkischen Nationalisten, in: Separatum Basler Nachrichten 1921.

4. Eberhard Wolffskeel von Reichenberg: Zeitoun, Mousa Dagh, Ourfa: Letters on the Armenian Genocide. Princeton N. Y. 2001/22005.

5. Karl Meyer: L’Arménie et la Suisse – Histoire du secours suisse en faveur des Arméniens: service auprès d’un peuple chrétien. La Bégude de Mazenc 1987.

 

 


Bodo Bost

Bodo Bost studierte Theologie in Strassburg und Islamkunde in Saarbrücken. Seit 1999 ist er Pastoralreferent im Erzbistum Luxemburg und seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Public Responsibility an der kircheneigenen Hochschule «Luxembourg School of Religion & Society».