Die Rehabilitierung des Petrus

Tag des Judentums (2. Fastensonntag): Mt 17,1–9

Bei bekannten Texten aus den Evangelien übersieht man leicht Details, die im synoptischen Vergleich theologisch bedeutungsvoll sind. So ist es auch bei der Szene auf dem Berg, die Jesus vor den Augen des Petrus, Jakobus und Johannes in verwandelter Gestalt im Gespräch mit Mose und Elija zeigt.

Petrus macht den Vorschlag, drei Hütten zu bauen. Viele haben vermutlich die Fassung des Markus und des Lukas im Ohr, die beide einen kritischen Erzählerkommentar zum Vorschlag des Petrus abgeben: «Er wusste nämlich nicht, was er sagen sollte» (Mk 9,6; Lk 9,33), und Markus fährt fort: «… denn sie waren voller Furcht».

«Hütten bauen»: Wirklich ein Fauxpas?

Gerne wird interpretiert, Petrus übersehe angesichts der überwältigenden Erfahrung, dass ein Moment tiefer spiritueller Klarheit, ein «Gipfelerlebnis», eben nicht verfügbar gemacht werden könne. Das ist sicher richtig. Nun ist auffällig, dass Matthäus in seiner Version den Vorschlag des Petrus nicht negativ qualifiziert. Warum sieht er – anders als Markus und Lukas – offensichtlich keinen Anlass für Kritik?

Matthäus versteht den Vorschlag des Petrus wohl vor dem Hintergrund der Tora-Offenbarung am Sinai. Mit dem griechischen Wort, das hier für Hütte/ Zelt steht (skené), bezeichnet die griechische Übersetzung der jüdischen Bibel, die Septuaginta, das Offenbarungszelt. Das Offenbarungszelt ist Ort der Begegnung zwischen JHWH und Mose und wird somit zur «Wohnung» und Repräsentanz JHWHs in Israel. Petrus beabsichtigt also nicht, das Gipfelerlebnis «einzufrieren» bzw. festzuhalten. Er möchte in Anlehnung an das Offenbarungszelt eine Struktur, einen Rahmen schaffen, in dem immer wieder neu eine Begegnung von göttlicher und menschlicher Sphäre, Tora-Offenbarung, prophetischer Herausforderung und gegenwärtiger Aktualisierung möglich wird. Das ist nicht deplatziert, sondern bleibende Herausforderung jedes Glaubensweges. Markus und Lukas hingegen sehen diesen Bezug zum Offenbarungszelt offenbar weniger deutlich, was sie zu ihrer Kritik am Vorschlag des Petrus veranlasst.

Tora-Offenbarung am Sinai als Hintergrund

Auch sonst sind die Bezüge zur Tora-Offenbarung am Sinai in der Verklärungserzählung dicht gesät. Die Zeitangabe «nach sechs Tagen» (Mt/Mk, Lk nennt dagegen acht) erinnert daran, dass Mose sechs Tage lang auf dem Sinai ausharrte, bis Gott zu ihm sprach. Mose und auch JHWH selbst waren dabei von einer Wolke eingehüllt (Ex 24,15f), die sich auch in der neutestamentlichen Verklärungserzählung wieder zeigt. Aus ihr bezeichnet eine Offenbarungsstimme Jesus in Anlehnung an Ps 2,7 als «geliebten Sohn» (Mt 17,5). Das leuchtende Gesicht Jesu, das Matthäus besonders hervorhebt (17,2; bei Mk und Lk leuchten dagegen (nur) die Kleider) spielt auf das ebenfalls strahlende Antlitz des Mose nach der Gottesbegegnung auf dem Sinai an (Ex 34,33–35). Auch das griechische Wort, das für das Gespräch zwischen Mose, Elija und Jesus steht (syllaléo in Mt 17,3), lässt an die Sinai-Erfahrung denken: Es kommt nur viermal im ganzen griechischen Alten Testament vor und bezeichnet in Ex 34,35 die Unterredung JHWHs mit Mose. Schliesslich ist auch die Situation, die Jesus nach dem Abstieg am Fuss des Berges vorfindet, bei Matthäus noch stärker als im Markus-und Lukasevangelium als Anspielung auf die Szene mit dem Golden Kalb gestaltet (Mt 17,14–21; vgl. Ex 32).

Altes Testament – «Wahrheitsraum» des Neuen

Die Verklärungserzählung zeigt in ihrer matthäischen Variante somit noch deutlicher als die Parallelstellen bei Markus und Lukas, wie sehr das Alte Testament – um mit einer äusserst anregenden Formulierung des Alttestamentlers Frank Crüsemann zu sprechen – den «Wahrheitsraum des Neuen» bildet.1 Es ist die jüdische Bibel, die die Grundmotive für Erzählungen aus dem Leben Jesu vorgibt. Es ist der Glaube an JHWH als Gott Israels mit seinem ganzen Reichtum an Bildern und Bekenntnissen, der den Glauben Jesu, seiner Jüngerinnen und Jünger und der Kirche bis heute prägt. Es ist somit auch der Glaube Israels, vor dem sich der Glaube Jesu und der Glaube an Jesus, den Christus nicht nur theologisch, sondern auch praktisch im Sinne einer Halacha, die die Welt als gute Schöpfung JHWHs mit Lebensmöglichkeiten für alle Menschen erhält, bewähren muss.

Der Tag des Judentums als pastorale Chance

Das alles sind zentrale Aspekte des Tages des Judentums, den die Kirche in der Schweiz seit 2011 am 2. Fastensonntag feiert.2 Das Evangelium führt mitten hinein in eine Christusverkündigung, die ohne ihren jüdischen Mutterboden jede Verständlichkeit verliert. Sie stellt Jesus in eine wertschätzende Linie mit Mose, dem Empfänger und Vermittler der Tora, und Elija, dem Propheten des einfachen Volkes und zugleich endzeitlich zurückerwarteten Heilsgestalt und verkündet ihn als geliebten Sohn. In dem alles erfüllenden Licht wird die Verklärungserzählung eine vorweggenommene Ostergeschichte, in der die Offenbarungsstimme, ähnlich wie schon am Sinai, ihre Wünsche für menschliches Leben erklingen lässt. Zumindest bei Matthäus ist Petrus derjenige Jünger, der diese Perspektive erkennt, indem er sich an das Offenbarungszelt erinnert.

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Zur 1. Lesung: Gen 12,1–4a

Rabbi Sussja lehrte: «Gott sprach zu Abraham: ‹Geh aus deinem Land, aus deinem Geburtsort, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde›. Gott spricht zum Menschen: Zuvorderst geh aus deinem Land – aus der Trübung, die du selber dir angetan hast. Sodann aus deinem Geburtsort – aus der Trübung, die deine Mutter dir angetan hat. Danach aus deinem Vaterhaus – aus der Trübung, die dein Vater dir angetan hat. Nun erst vermagst du in das Land zu gehen, das ich dir zeigen werde.»

Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 91984, S. 385

 

1 Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die neue Sicht der christlichen Bibel, Gütersloh 2011.

2 Wegleitung zum Tag des Judentums, hg. von der Jüdisch/Römisch-Katholischen Gesprächskommission der Schweiz, 2015. Online zugänglich unter www.bischoefe.ch/fachgremien/juedisch-roemisch-katholisch/tag-des-judentums-2015/wegleitung-zum-tag-des-judentums-in-der-schweiz.


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.