Anderswohin!

Gerade erst begonnen, birgt das Markusevangelium in seinem 38. Vers schon ein Zeugnis von Ungeduld. Die Jünger Jesu sind gebannt vom Erfolg, den Jesus bei seinem ersten Auftreten in Kafarnaum erlangt hat. Doch diesen treibt eine Unruhe weiter. "Lasst uns anderswohin gehen!" "Lasst uns anderswohin gehen", das ist der Ur-Impuls von Mission. Hoch angesehen sind die Missionare, die – vor Jahrhunderten oder heute – ihre Heimat verlassen und in anderen Ländern und Kulturen das Evangelium verkündigen. Wie angesehen sind jene, die sich um Präsenz des Evangeliums "anderswo" in den verschiedenen Facetten unserer Gesellschaft mühen?

Dialogisches Konzept von Mission

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Weichen für missionarisches Engagement neu gestellt. Denn es nahm die Menschen nicht mehr als unbeschriebene Adressaten, gewissermassen als Objekte von Mission in den Blick, sondern als Subjekte, die in ihren Religionen und Kulturen bestimmte Formen der Gottsuche pflegen. Es anerkannte das Wirken des Heiligen Geistes auch ausserhalb der Grenzen der Kirche. Johannes Paul II. beschrieb den Respekt vor anderen Religionen als "Respekt vor dem Menschen bei seiner Suche nach Antworten auf die tiefsten Fragen des Lebens" und als "Respekt vor dem Handeln des Geistes im Menschen" (Redemptionis missio Nr. 29). Ein neues Bewusstsein der Differenz zwischen den Kulturen liess erkennen, dass Evangelisierung Kulturen prägen, nicht sie ersetzen soll. Dies setzt ein dialogisches, kommunikatives Geschehen voraus, in dem das Evangelium die menschlichen Lebenswelten in einen neuen Horizont stellt und seinerseits von diesen Lebenswelten her in neuen Facetten wahrgenommen wird und auf neue Weise Konsequenzen zeitigt.

Der Anspruch von Inkulturation

Paradoxerweise scheint diese Art von Mission im Übergang von der jüdisch geprägten Gemeinschaft der Jünger Jesu zur heidenchristlichen Kirche in hellenistischer Kultur am besten gelungen zu sein. Obwohl die jüdische Kultur mit dem Leben und der Verkündigung Jesu aufs engste verknüpft war (das primäre "Anderswo" Jesu waren gemäss Mk 1,39 die Synagogen, erst Mk 7,24–30 das heidnische Gebiet von Tyrus!) und der christliche Glaube nicht ohne die Geschichte Israels zu verstehen ist, wagte die junge Kirche den Schritt in eine andere Kultur. Diese erste nachbiblische Inkulturation hat fortan das Christentum mehr geprägt als die jüdische Wurzel. Nie wieder hat sich die Kirche mit derselben Entschlossenheit auf neue Kulturen eingelassen. Einzelne Vorreiter einer echten Inkulturation hatten mit grossen Widerständen zu kämpfen. Doch eine Kirche, die sich nicht für das Neue öffnet, welches das Evangelium "anderswo" entstehen lässt, schliesst das Christentum in seine Herkunft und in seine Vergangenheit ein.

Aus dieser Einsicht erwuchs das beschriebene Umdenken des Zweiten Vatikanischen Konzils, das heute auch für eine missionarische Haltung innerhalb der "traditionell" christlichen Länder Europas zu beachten ist. In unseren Breiten machen die Kirchen die Erfahrung, dass viele Menschen sich anderswo als in kirchlichen Zusammenhängen auf der Suche nach Sinn und religiösen Ressourcen befinden. Es sind Menschen, die nicht oder nicht mehr kirchlich gebunden sind, aber auch – formell oder praktizierend – Kirchenglieder, die als "spirituelle Wanderer" unterwegs sind.

Dynamik des Anderswohin in unserer Gesellschaft

Angesichts dessen muss ein Nachdenken über dieses "Anderswo " einsetzen. Kirchlich Engagierte hören es oft als ein enttäuschendes "Anderswo": "Warum nicht bei uns?" Das kann sich verbinden mit einer Neubesinnung auf das, was bei uns alles zu finden wäre und nur nicht entdeckt wird. Und wir können beginnen, unsere Schätze blank zu putzen. Das "Anderswo" kann aber auch als Signal gehört werden, um zu einem "Anderswohin" aufzubrechen. Dieser Aufbruch muss von dem vorhin erwähnten Respekt geprägt sein: Was geschieht an diesen anderen Orten? Was wirkt der Heilige Geist im Leben der Menschen dort, wo sie ihr Leben jenseits der traditionell christlichen Formen gestalten? Es braucht die auch selbstkritische Frage: Woher rührt die Fremdheit und Unverständlichkeit der christlichen Botschaft an diesen Orten? Anderswohin gehen heisst: die Zeichen der Zeit lesen lernen und die Sprachen der Zeit sprechen lernen, damit christliche Überzeugungen sich in die Lebenswelten von Menschen – ausserhalb und innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft – mischen können. Es braucht Aufmerksamkeit für die "Umlenkung der Glaubenssprache über andere Orte, über andere Lebensbereiche, die nicht religiös eingestuft werden, es aber faktisch sind".1

Mission verändert

"Anderswohin" kann dann auch die Richtung sein, in die – mit Michel de Certeau gesprochen – der "Treibsatz mystischen Lebens " ohnehin verschlägt, wenn die Leidenschaft für das Absolute von jeder Identifikation mit einem Ort loslöst.2 Eine Kirche, die anderswohin aufbricht, wird sich schliesslich selbst verändern lassen müssen. Es wäre eine Illusion zu meinen, es wäre möglich, missionarisch Kirche zu sein und zu evangelisieren, während "innerhalb" (dessen, was man als Kirche identifiziert) alles beim Alten bleiben könne: dieselben Worte und Formeln, dieselben Bilder, dieselben Riten, dieselben ästhetischen Ausdrucksformen. Anderswo hingehen heisst: an anderen Orten unserer Kultur zu ermöglichen, dass das Evangelium Glauben weckt und neue Ausdrucksformen des Glaubens generiert. 

 

 

 

 

1 Stefan Knobloch: Gottesleere? Wider die Rede vom Verlust des Göttlichen. Mainz 2013, 117, im Anschluss an Michel de Certeau. 2 Michel de Certeau: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Berlin 2010, 474. Prof. Dr. Eva-Maria Faber, Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie, ist seit 2007 Rektorin der Theologischen Hochschule

Eva-Maria Faber

Eva-Maria Faber

Prof. Dr. Eva-Maria Faber ist Ordentliche Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur