Die Normativität des Textes

Normative Texte entstehen, werden gelesen und interpretiert. Dabei kann ein Interpret mehr Sinn entdecken, als der Autor in den Text gelegt hat. Jedoch unterliegt jede Interpretation gewissen Grenzen.

«Ein Text ist ein Text.» Diese Aussage klingt tautologisch, ist es aber nicht. Das liegt nicht nur daran, dass «Text» ein sehr schillerndes und bedeutungsreiches Wort ist, sondern auch an der Metapher «klingt», welche den zweiten Satz beherrscht: Die Aussage klingt nämlich nicht, weil sie geschrieben steht. Von daher hätte es heissen müssen: Dieser Satz liest sich tautologisch, was sprachlich wenig ergiebig ist.

Jedenfalls wird deutlich, dass Text nicht ohne Sprache auskommt, weswegen zwischen geschriebenen und aufgeschriebenen Texten unterschieden werden muss: Viele Texte halten ein gesprochenes Wort fest, sie sind aufgeschrieben, wohingegen es auch Texte gibt, die niemals gesprochen wurden und einfach geschriebene sind. Man könnte meinen, dass aufgeschriebene Texte den flüchtigen Wörtern Ewigkeitswert verleihen; dem ist aber nicht so. Nicht nur einfach deshalb, weil auch die Materialität eines Textes diesen begrenzt, und es immer wieder eines Schreibers oder Fotografen oder einer Text- erkennungsmaschine bedarf, um den Text zu archivieren und so am Leben zu erhalten. Vielmehr liegt der Ewigkeitswert des gesprochenen Wortes darin, dass es einmalig ist und sofort vergeht, wohingegen ein aufgeschriebener Text immer wieder neu und in ganz anderen Situationen gelesen werden kann, so dass er im Laufe seines Lebens seine Bedeutung des Öfteren verändert.

Texte sind mitunter sehr alt und wurden z. T. oft abgeschrieben und zitiert, aber ihre Bedeutung ist vage bzw. eine eindeutige Bedeutung ist nicht feststellbar. Ein geschriebener Text lässt viel Platz zur Interpretation, und zwischen den Zeilen und Zeichen kann und muss gelesen werden; andererseits geht dem Text aber auch die Bedeutungsbereicherung ab, die ihm dadurch zuteil werden kann, dass er gesprochen und vorgelesen wird: Gelesener Text ist oft verständlicher und lebendiger als nur geschriebener Text. Dabei darf nicht übersehen werden, dass nicht alles, was geschrieben wurde und als Geschriebenes Bedeutung entfaltet, einfach gelesen, also verlautlicht werden kann. Jacques Derrida macht auf diesen Umstand aufmerksam, indem er «différance» statt «différence» schreibt, was homonym ausgesprochen wird. Trotzdem wirkt ein Text anders, ob er lakonisch oder zornig, ob er zynisch oder werbend vorgetragen wird, und von dieser Tatsache lebt das Sprechtheater. Ein Text ist also ein Text, ohne dass wir hier auf die Problematik des «ist» eingehen können, die spätestens seit Martin Heidegger die abendländische Geistesgeschichte bewegt. Ein Text ist ein Text, ist geschriebenes Wort und (be)deutendes Zeichen, das zum Leben erweckt werden kann und will.

Entstehung normierender Texte

Normierende Texte können, müssen aber nicht als solche geschrieben sein. Den Evangelien- autoren war eher nicht bewusst, dass sie heilige Texte verfassen, die seit ihrer Entstehung von Tausenden gelesen und interpretiert worden sind. Augustinus war sich sehr wohl bewusst, dass er mit seinen «Confessiones» ein neues Genre erschliesst, um seine Gegner von der Ernsthaftigkeit seiner Zuwendung zur Amtskirche zu überzeugen.

Von vielen Glaubensbekenntnissen wissen wir, dass sie eine lange und komplizierte Entstehungsgeschichte haben und oft eher Kompromisspapieren gleichen, die dann deshalb befriedend wirkten, weil sie von allen streitenden Parteien in ihrer Lesart für richtig befunden wurden. Andere Kompromisstexte (wie z. B. der Horos von Chalkedon) wirken deshalb, weil man schon allein aus machtpolitischen Überlegungen heraus nicht hinter den gefundenen Kompromiss zurückfallen will. Allerdings wird hier auch deutlich, dass ein Text ein Text ist und er seine Lesart bestimmen und beinhalten kann. Er ist zudem einer gewissen Autorenintention verpflichtet und entfaltet darüber hinaus aber sein eigenes Leben und Wirken. So rekurriert z. B. der Horos von Chalkedon unverkennbar auf die Theologie von Kyrill von Alexandrien. Dies wurde aber oft nicht gesehen, weswegen die ultraorthodoxen Anhänger von Kyrill die Konzilsbeschlüsse ablehnten, die auch von den Nestorianern als falsch taxiert wurden und zusätzlich pastoral schwer zu vermitteln waren. Der Westen sah in den Texten viel zu lange einen zu grossen Einfluss der Theologie von Leo von Rom, und so wundert es nicht, dass ob all dieser unterschiedlichen Lesarten das Konzil von Konstantinopel 553 eine Ehrenrettung der vorhergegangenen Konzilsbeschlüsse versuchte, indem es auf die kyrillische Lesart rekurrierte.

Interpretation als Kon-Text

Jeder Text kann und wird interpretiert, und die am meisten Interpretierten haben mitunter die grösste Wirkung entfaltet; aber deutlich bleibt, dass jede Interpretation lediglich ein Kon-Text zum Ursprungstext darstellt. Es ist ja nicht unbedingt ein Autor der beste Interpret seiner Texte, so dass ein hauptberuflicher Textinterpret, z. B. ein Germanist oder Romanist, Romanen und Gedichten oft sehr viel tieferen Sinn zukommen lässt, als dies dem Schreiber möglich ist.

Jede Interpretation ist ein Kon-Text und überträgt den Ursprungstext in eine neue Situation. Dabei geht die historisch-kritische Exegese anders vor als eine allegorisierende Auslegung oder als eine spiritualisierende Textproduktion, die die biblischen Texte als Materiallager versteht und Sätze oder Wortverbindungen aus dem Kontext nimmt und in einen neuen Kon-Text stellt. All diese Umfangsformen mit dem Ursprungstext sind dabei legitim, und es erscheint fast unmöglich zu «sagen», was der Ursprungstext eigentlich ausdrücken wollte.

Ein Text ist eben ein Text, und er lebt und wirkt ganz unterschiedlich. Er ist wehrlos und kann zerlegt und zerstückelt werden. Er ist nur er selbst und nicht seine eigene Interpretation; er «sagt» nur durch sich selbst, was er «sagt», und bringt nichts mehr zum Ausdruck, als er eben zum Ausdruck bringt. Die hier umrissene Problematik wird auf evangelischer Seite mit der Frage konfrontiert, was «Christum treibet», so dass eine Mitte der Schrift gesucht und gefunden wird, wohingegen katholischerseits die Tradition als möglicher Auslegungsrahmen gilt, über die hinaus keine weitere Interpretation möglich sein soll. Hier wird deutlich, dass es nicht nur einer bestimmten Leseintention oder eines vorauseilenden Wohlwollens bedarf, um Text richtig zu verstehen, sondern sich eine Interpretengemeinschaft auf eine solche verständigen darf und muss, damit die Fortschreibung und Weiterentwicklung des jeweiligen Textverständnisses nicht uferlos ausartet.

Grenzen der Textinterpretation

Dabei unterliegt jede Textinterpretation gewissen Grenzen, und es kann keine beliebig weit vom Ursprungstext entfernte Interpretation gefunden werden. Ein Text ist eben ein Text, und er macht durch sich selbst nicht nur einigermassen klar, wie er gelesen werden will, sondern sein materialer Wortbestand verhindert zwar nicht verfälschende, aber doch abwegige Rückgriffe auf den Text.

Ja, Text, Worte und Sprache sind wehrlos und so kann es zu unsäglichen Aussagen kommen – wie beispielsweise «Arbeit macht frei»: Hier wird die Wirklichkeit totalitären Denkens deutlich, und es zeigt sich, dass nicht nur jede Interpretation eine gewisse gewaltsame Kon-Textualisierung des Ursprungstextes darstellt, sondern dass mit Text und Wort und Sprache Wirklichkeit gesetzt und bis ins Absonderliche verzerrt werden kann. Und doch muss dieser Schriftzug weiterhin über dem Tor zu Dachau zu lesen sein, weil genau so die wirklichkeitswahrende Funktion von Text deutlich bleibt: Wer liest und sieht, was dort passiert ist, wird verstehen, dass der Text pervertiert wurde und nicht das Geschehen widerspiegelt, sondern als Spiegel hätte dienen können und müssen, die eigenen Taten zu sehen und zu ändern. Dem Text kommt also eine wirklichkeitserschliessende Maieutik zu. So zeigt sich, dass ein Text krude missbraucht werden kann, so wie Menschen krude missbraucht, unterdrückt, verstümmelt und getötet werden. Ein Text kann entstellt und sinnentfremdend gebraucht werden, aber dennoch wohnt ihm etwas inne, das unfassbar bleibt und nicht angetastet werden kann. Ein Text hat teil an der Heiligkeit des Lebens, er pflanzt sich fort und findet immer wieder zu sich selbst zurück.

 

 

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Florian Bruckmann

Dr. Florian Bruckmann (Jg. 1974) ist apl. Professor an der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (D). Er studierte katholische Theologie in Würzburg, Jerusalem und Bonn. Nach seiner Promotion und Habilitation nahm er Lehrstuhlvertretungen in Regensburg und Bamberg sowie Lehraufträge in Trier und Bonn wahr. Seit 2017 ist er im Bistum Dresden-Meissen persönlicher Referent des Generalvikars und Ökumenereferent.