Die Bibel in den Mund nehmen

Das Bibelerzählen steht in der Spannung zwischen Texttreue und Neuschöpfung. Es gibt keinen einzig richtigen Weg, sondern nur ein stetes Ringen um neue Versprachlichung.

So sieht Marc Chagall den nächtlichen Ringkampf Jakobs mit dem Engel Gottes (1967).

 

 

«De Jakob isch ganz ellei. Sini Fraue ond sini Chind, sini Chnächt ond Mägd ond Tier sind scho ännet em Jabbok. Uf de andere Siite vom Fluss hends eri Zält ufgstellt. Aber de Jakob stoot do ond er traut sich nöd öbere.» (Gen 32,8−25a)

Bibelerzählen ist im Aufwind. Das zeigen jüngere Neuerscheinungen wie etwa «Bibel heute» (3/2016), «Entwurf» (3/2017) oder der Sammelband «Bibel erzählen» (Monika Fuchs, 2014). Aber auch das Interesse an Kursen zum freien Erzählen von biblischen Geschichten steigt. Andreas Reinert präsentierte das Bibelerzählen jüngst sogar als Hoffnungsmethode gegen das schwindende Bibelwissen heutiger Jugendlicher (vgl. «Entwurf», S. 45).

Wie jede Übersetzung oder Übertragung eines Bibeltextes steht auch das Bibelerzählen in der Spannung zwischen Texttreue und Neuschöpfung. Hier gibt es ganz unterschiedliche Ausrichtungen: möglichst textnah (Dietrich Steinwede), möglichst erfahrungsbezogen (Ingo Baldermann), möglichst anschlussfähig für heutige Kinder (Walter Neidhart, Werner Laubi). Jochem Westhof wählt den Zugang von der Erzählkunst her. Martina Steinkühler empfiehlt, Gott in den Erzählungen nicht als Figur auftreten zu lassen, sondern nur die Reaktion der Menschen auf Erfahrungen des Göttlichen zu erzählen. Allen ist gemeinsam, dass sie sich mit der Frage auseinandersetzen, wie ein uralter und für die Glaubensgemeinschaft heiliger Text für heute verständlich und adäquat erzählt werden kann. Treue gegenüber dem Text ist genauso gefordert, wie Treue gegenüber sich selbst und Anschlussfähigkeit für das Zielpublikum. Meiner Meinung nach gibt es hier keinen einzig richtigen Weg, sondern nur ein immerwährendes Ringen um neue Versprachlichung.

Mein eigener Zugang ist ein doppelter: Als Märchenerzählerin kenne ich die Gesetze der Mündlichkeit, die das Zuhören zum Genuss werden lassen. Als Exegetin nutze ich die Methoden der Bibelwissenschaften, um die Texttreue zu gewährleisten. In der Kombination geht es um möglichst grosse Texttreue, bei gleichzeitig freiem, schöpferischem Umgang mit der entstehenden Erzählung. Diese fruchtbare Spannung werde ich entlang des Entstehungsprozesses von Bibel- erzählungen erläutern.

Unter die Lupe nehmen

Am Anfang steht die intensive Auseinandersetzung mit dem Text in seinem Kontext. Dazu helfen die exegetischen Methoden: Textabgrenzung und Gliederung, syntaktische Analyse, Motivanalyse, Figurenanalyse, Handlungs- und Spannungsverlauf, Leerstellen im Text usw. Für Erzähltexte lautet die Leitfrage: Was wird wem wie erzählt? Der Zugang ist zunächst gleich wie für das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit, nur dass es schliesslich nicht um Erklärung geht, sondern um das Hineinsteigen in die Perikope, um aus ihr heraus erzählen zu können. Dafür braucht es nach der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Text die emotionale Auseinandersetzung. Bibelerzähler nennen das Fantasiearbeit: In meiner Vorstellung begebe ich mich an die Schauplätze der Erzählung, ich nehme die Perspektive von verschiedenen Figuren ein, sauge die unterschiedlichen Stimmungen auf. Wie sieht es am Jabbok aus? Wie weit kann man sehen? Wie fühlt sich Jakob, kurz vor der Begegnung mit Esau? Wie geht es seinen Frauen und Kindern, die vorgeschickt wurden?

Die Form finden

In diesem Arbeitsschritt ist die Spannung zwischen Texttreue und Neuschöpfung am grössten, denn nur wenige Geschichten der Bibel lassen sich zum Erzählen eins zu eins übernehmen. Viel häufiger sind sie entweder zu lang und komplex oder aber zu kurz und trocken. In der Regel muss ich auf der biblischen Grundlage eine neue Geschichte bauen. Je nach Zielpublikum braucht es ausserdem Hinweise auf die Lebenswelt, in der die Geschichte spielt. Mit wenigen Worten skizziere ich die soziale und politische Lage, das religiöse Umfeld, die Landschaft oder das Alltagsleben: «S werd scho langsam donggel. Däne im Lager gsieter es paar Füür. Dött hogged jetz sini Lüt ond singed ond vozelled sich Gschichte …» Mit Anspielungen auf den Kontext mache ich den grösseren Zusammenhang erahnbar: «… – ond är isch do ond denggt a früener. Ond s Härz chlopfed em fescht.» Was früher passiert ist und Jakob jetzt Angst macht, kann ich in dieser kurzen Geschichte nicht ausführen. Die Anspielungen aber machen Jakobs Stimmung fassbar. Immer wieder dient die gewählte Perikope als Ankerpunkt. Vor ihr muss meine Erzählung bestehen. Die beiden Versionen müssen Hand in Hand gehen, sie dürfen sich nicht wider- sprechen.

Treue brauche ich aber nicht nur dem Bibeltext gegenüber, sondern auch gegenüber mir selbst. Nicht jede biblische Perikope erschliesst sich mir einfach so. Damit ich einen Text erzählen kann, muss ich so lange an ihm arbeiten, bis ich voll und ganz hinter ihm stehe. Natürlich dürfen Fragezeichen bleiben – auch Widersprüche können einzelnen Figuren in den Mund gelegt werden. Aber authentisch erzählen kann ich nur, wenn sich mir der Text als Ganzes erschliesst.

In den Mund und ins Herz nehmen

Das noch rohe Gerüst der Geschichte muss nun mit Sprache gefüllt werden. Da ich in meiner eigenen Mundart erzähle, steht jetzt die Sprachtreue im Vordergrund. So viel wie möglich übersetze ich direkt aus dem hebräischen oder griechischen Text. Aber die Sprache hat nicht nur die Funktion, Informationen weiterzugeben, sie soll auch in Rhythmus und Klang zur Atmosphäre der Geschichte passen. So kommt das Schöpferische dazu: «… ond scho sind die bede am Kämpfe. Me ghörts chüüche ond grochse, de Bode knirscht ond chrosed onder erne Füess, aber me gsiet nünd vor luuter Dünkli. Ond niemert seid es Wort.» Auch das «Inwendiglernen» ist ein schöpferischer Prozess. Jetzt verbinden sich Wörter und Klänge mit meinen inneren Bildern. Beim lauten Sprechen zeigt sich, ob beides zusammenpasst.

Erzählen und zuhören

Erst jetzt, vor den Ohren des Publikums, wird die Geschichte lebendig. Freies Erzählen ist ein interaktives Geschehen, eine Art Dialog mit dem Publikum, obwohl nur ich am Sprechen bin. Beim Erzählen stelle ich mich der Geschichte zur Verfügung. Ich lasse sie von mir Besitz ergreifen und durch mich hindurch zum Publikum treten. Je klarer ich dabei meine inneren Bilder sehe, desto stärker entwickeln sich auch die Bilder der Zuhörenden. Im besten Fall vergessen diese das eigene Zuhören und werden ganz ins Geschehen hineingeholt. Die Geschichte wird zur je eigenen Geschichte. Und so ist auch das Erzählen ein Akt schöpferischer Treue, denn bei jedem Erzählakt entsteht die Geschichte neu. Das hat einen Zauber, dem man sich kaum entziehen kann.

Lernmöglichkeiten

In der Arbeit mit Bibelneulingen ist es wichtig, sie mit verschiedenen Erzählversionen derselben Perikope zu konfrontieren. So lernen sie von Anfang an, dass jede Bibelerzählung nur eine von vielen möglichen ist. Natürlich braucht es zusätzlich auch die Arbeit mit den Texten, wie sie in der Bibel stehen, und die eigene kreative Auseinandersetzung mit ihnen.

Ob Bibelerzählungen tatsächlich, wie von Andreas Reinert erhofft, Wesentliches zum Bibelwissen junger Menschen beitragen, hängt vor allem am Talent der Erzählenden. Gut gestaltete und packend erzählte Geschichten bilden mit Sicherheit eine grosse Lernressource. Wichtiger als Bibelwissen ist in meinen Augen dabei der spirituelle Aspekt. Durch ihre Unmittelbarkeit wirken frei erzählte Geschichten in einer tiefen Schicht, sie ermöglichen Identifikation mit ganz unterschiedlichen Charakteren, bieten narrative Handlungsanweisungen und geben Sprache und Bilder für menschliches Erleben im Angesicht Gottes.

«De Jakob Israel macht d Auge wider uuf. Sini Hüft tot em weh ond müed isch er, aber Angscht hät er nümm. De Jakob Israel ninnt nomol en tüüfe Schnuuf ond denn humpled er langsam s Boort ab, uf d Sonn zue ond öber de Fluss.»


Moni Egger

Dr. theol. Moni Egger (Jg. 1976) ist Märchenerzählerin, Leiterin der Fachstelle Katechese – Medien in Aarau, Dozentin für Bibelhebräisch an der Universität Luzern und Redaktionsmitglied der feministisch-theologischen Zeitschrift «FAMA». Darüber hinaus leitet sie unter dem Label «Bibel erzählt!» Kurse für biblische Erzählkunst in Zusammenarbeit mit Katja Wissmiller von der Bibelpastoralen Arbeitsstelle.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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