«Die Natur bleibt mein grösstes Vorbild»

P. Jean-Sébastien Charrière ist Maler, Zeichner, Kalligraf und vieles mehr. Er gehört zur Klostergemeinschaft von Einsiedeln und kann dort seine künstlerischen Fähigkeiten entdecken und leben.

«Aufbruch ins Weite» von P. Jean-Sébastien Charrière (2019).

 

SKZ: Wie haben Sie Ihr künstlerisches Talent entdeckt?
Jean-Sébastien Charrière: Ich habe es noch nicht entdeckt! «Talent» scheint mir ein sehr abstrakter Begriff zu sein, etwas, das man nicht besitzen oder von sich selbst behaupten kann, es zu haben. Allerdings habe ich schon immer gerne beobachtet und war kreativ mit meinen Entdeckungen und mit dem, was ich zur Verfügung hatte. So entwickelte sich mein Weg ganz natürlich Schritt für Schritt. Nach der obligatorischen Schule besuchte ich die «Arts et Métiers» in Vevey und die Kunstakademie Maximilien De Meuron in Neuchâtel, wo ich das Studium mit dem Diplom als Kunstmaler, Zeichner und Modellierer abschloss. Seitdem belegte ich immer wieder Kurse, wie zum Beispiel Ikonenmalen, und beendete vor Kurzem eine Ausbildung als Kalligraf. Seit Herbst 2012 ist das Kunstschaffen meine Hauptaufgabe im Kloster.

Was möchten Sie mit Ihrer Kunst bewirken respektive aussagen?
Als gläubiger Mensch ist für mich die Kunst eine Art Antwort auf den Schöpfer und sein wunderschönes Werk. Meine Arbeit will ein Lob Gottes in Farben, Formen und Strukturen sein. Meine Werke versuchen aber auch, eine Einladung zu sein, jenseits des Sichtbaren zu schauen und dabei zu staunen.

Was würde Ihnen fehlen, wenn Sie sich nicht durch die Kunst ausdrücken könnten?
Ich muss nicht unbedingt malen oder modellieren, um glücklich zu sein. Nach meinem Eintritt ins Priesterseminar und später ins Kloster habe ich sogar während mehrerer Jahre diese Tätigkeit nicht ausgeübt, ohne wirklich etwas zu vermissen. Doch ich muss schon kreativ sein! Ich glaube sogar, dass es für jeden Menschen lebensnotwendig ist, auf seine eigene Art und Weise kreativ zu sein, denn als Abbild Gottes sind wir auch Abbild eines gewaltigen Schöpfers! Das Leben selbst ist schöpferisch. Ohne in irgendeiner Art und Weise schöpferisch zu sein, würde ich austrocknen.

Haben Sie ein künstlerisches Vorbild?
Im strengen Sinne keines, obwohl ich eine lange Reihe von inspirierenden Vorbildern aufzählen könnte. Ich kann stundenlang in der Natur irgendwelche Details beobachten und von irgendeinem Fleck, einem Stück Rost oder Spuren von Holzwürmern begeistert sein. Die Natur bleibt mein grösstes Vorbild.

Was ist Ihnen im Leben wichtig?
Die Suche nach Wahrheit und Harmonie mit Gott, mit dem Nächsten – dazu zähle ich auch die Schöpfung – und mit mir selbst. Deshalb sind mir Kontemplation, Gebet, Lektüre, Handarbeit, Stille und Einsamkeit, aber auch Begegnung und Austausch wichtig.

Was war Ihre beste Entscheidung?
Mich für das Leben und die Liebe zu entscheiden! Ich bin aber immer dabei, zu lernen, mich neu zu orientieren und mich zu bekehren!

Was möchten Sie durch das abgebildete Werk aussagen?
Dieses Bild malte ich 2019 für eine Ausstellung zum Thema «Aufbruch ins Weite». So trägt es auch diesen Namen. Oft sind wir wie eingeschlossen in einer Art und Weise zu denken und wahrzunehmen, die sehr klein, eckig und hart sein kann. Das Raster, das Gitter, das einschliesst, wird in diesem Bild durchbrochen von einer Fülle von Farben und Bewegung. Etwas öffnet sich ins Weite. Die vielen Schmetterlinge symbolisieren für mich das Leben, die Freiheit und die Leichtigkeit sowie die Wandlung und die Auferstehung. In diesem Sinn begleitet mich seit Langem ein Spruch aus der asiatischen Weisheit: «Das, was die Raupe ‹Tod› nennt, wird vom Weisen ‹Schmetterling› genannt!» Mein Bild ist eine Einladung, unsere Sichtweise zu wandeln und so auch unser Leben.

Interview: Rosmarie Schärer


P. Jean-Sébastien Charrière

P. Jean-Sébastien Charrière ist Maler, Zeichner, Kalligraf und vieles mehr.