«Evangelii Gaudium» – die Grundanliegen von Franziskus

In einem vielbeachteten 180-seitigen Apostolischen Schreiben erläutert Papst Franziskus seine Vision einer barmherzigen, weniger hierarchischen Kirche; er ruft zu verstärkter Evangeliserung auf – und verurteilt die gegenwärtige Wirtschaftsordnung.

Die Freude des Evangeliums

«Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen.» So beginnt das vergangene Woche im Vatikan veröffentlichte Apostolische Schreiben von Papst Franziskus, das – nach den lateinischischen Anfangsworten – «Evangelii Gaudium» heisst. Während die im Juli 2013 publizierte Enzyklika «Lumen Fidei» (Im Licht des Glaubens) vierhändig, nämlich zusammen mit dem emeritierten Pontifex Benedikt XVI. verfasst worden ist, trägt das neue Dokument nur die Handschrift des Pontifex aus Südamerika.

In dem Dokument wertet der Papst zwar die Arbeiten der Bischofssynode über Neuevangelisierung (vom Oktober 2012 im Vatikan) aus. Doch es handelt sich keineswegs nur um ein postsynodales Schreiben. Er wolle, so Franziskus, auch seine eigenen «Besorgnisse zum Ausdruck bringen, die mich in diesem konkreten Moment des Evangelisierungswerkes der Kirche bewegen». Und er wendet sich an alle Getauften, um sie zu einer neuen Etappe der Verkündigung einzuladen – sowie generell, «um Wege für den Lauf der Kirche in den kommenden Jahren aufzuzeigen». In der Tat skizziert der Bergoglio-Papst die Kirche von morgen, wie er sie sich wünscht. Das bedeutsame Dokument, heisst es denn auch in ersten Medienkommentaren, markiere das Pontifikat von Franziskus in der nächsten Zeit.

Kirchenreform

Was sind die Kernpunkte der Vision von Jorge Mario Bergoglio? Nun, sie lassen sich aus den Überschriften der wichtigsten Abschnitte erkennen. Da geht es um die Kirchenreform in missionarischer Perspektive, um die krassen Missstände in der heutigen Welt, um die mannigfachen Versuchungen für pastorale Mitarbeiter, um die Verkündigung als Aufgabe für das ganze Volk Gottes, um die Verbindung zwischen der Evangelisierung und der allgemeinen Förderung des menschlichen Lebens, um die Einbeziehung der Armen in die Gesellschaft sowie um sozialen Dialog und Frieden.

Im ersten Kapitel unterstreicht Franziskus: Die Kirche ist dazu berufen, aus sich selbst «herauszugehen » und den anderen zu begegnen. Gott in seiner Liebe weist der Kirche den rechten Weg; er lehrt, dass sie unablässig Barmherzigkeit anbieten muss. Dazu ist freilich eine neue – weniger bürokratische und mehr missionarische – Pastoral nötig. «Kreative Methoden» sollen dazu dienen, die ursprüngliche Frische der Frohen Botschaft wieder zu erschliessen.

Ausser der pastoralen und missionarischen Neuorientierung ist freilich eine gründliche Reform der Kirchenstrukturen notwenig. Einschliesslich einer Reform des Papsttums, weil er (so Franziskus) ja dazu berufen ist, das vorzuleben, was er von anderen verlangt. Konkret stellt sich die Frage nach der Art und Weise, wie der Primat des Nachfolgers Petri im ökumenischen Kontext ausgeübt werden kann. Franziskus erbittet Vorschläge zu diesem Punkt. Eine angemessene Hilfe bei der heilsamen Dezentralisierung erwartet er sich durch eine Aufwertung der Bischofskonferenzen.

Herausforderungen in der Welt

Das zweite Kapitel von «Evangelii Gaudium» widmet sich den Herausforderungen der Welt von heute und Fehlentwicklungen. Franziskus geisselt jede «soziale Ungleichheit», die Vergötzung des Geldes und ungezügelten Konsum. Das geltende ökonomische System «ist an der Wurzel ungerecht » – ja, diese Form der Wirtschaft «tötet», denn in ihr herrscht das Gesetz des Stärkeren. An die Adresse der Verantwortlichen in Gesellschaft und Politik gewandt, geisselt der Pontifex die «höhnische Verachtung» der Ethik. Um neu zu evangelisieren, müssen die Christen das vermeiden, was der Papst als «Weltlichkeit » definiert. Das Risiko einer «verweltlichten Kirche unter einem geistlichen oder pastoralen Deckmantel» ist sehr real. Das Gegengewicht? Gemeinschaft und Komplementarität. Davon ausgehend, fordert der Pontifex eine Aufwertung der Laien und der Frauen.

Kulturelle Diversitäten

Dass Evangelisierung eine Aufgabe für das ganze Volk Gottes ist, wird im dritten Kapitel des Apostolischen Schreibens erläutert. Bei der Inkulturation des Evangeliums muss man die Verschiedenheit der Kulturen beachten. Ja keine «eitle Sakralisierung der eigenen Kultur»! Die Theologen, so Franziskus, sollen alle Möglichkeiten untersuchen, um die mannigfachen Formen der Evangelisierung zu berücksichtigen. Im vierten Kapitel des wegweisenden Dokuments behandelt der Papst ein Thema, das ihm besonders am Herzen liegt: die soziale Dimension der Evangelisierung. Fokus ist die ganzheitliche Förderung des Lebens, die die Reduzierung der Religion auf ein privates Phänomen ausschliesst. «Echter Glaube beinhaltet stets den tiefen Wunsch, die Welt zu verändern.» In diesem Zusammenhang verlangt Franziskus, wie früher schon mehrfach, erneut «die Einbeziehung der Armen in die Gesellschaft». Die Armen sind zunächst eine theologische und erst dann eine soziologischpolitische Kategorie. Deshalb «wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen».

Auf der gleichen Linie liegt der Wunsch nach tatkräftiger Hilfe für die Migranten und die Anklage neuer Formen der Sklaverei, etwa durch Arbeit in illegalen Fabriken oder im Netz der Prostitution. Es gibt, empört sich Franziskus, viele Arten der Mittäterschaft. «Dieses mafiöse und perverse Verbrechen hat sich in unseren Städten eingenistet, und die Hände vieler triefen von Blut aufgrund einer bequemen, schweigenden Komplizenschaft. »

Geist der Neuevangelisierung

Das fünfte und letzte Kapitel will den «Geist der Neuevangelisierung» zum Ausdruck bringen. Diese geschieht, so der Bergoglio-Papst, unter dem Primat der Wirksamkeit des Heiligen Geistes. Er verleiht die Kraft, die Neuheit des Evangeliums mit Freimut zu verkünden – auch gegen den Strom. Das Schreiben von Franzikus schliesst mit einem innigen Mariengebet. «Denn jedes Mal, wenn wir auf Maria schauen, glauben wir wieder an das Revolutionäre der Zärtlichkeit und der Liebe.»

Erste Echos

Fast einhellig positiv ist das breite Echo auf «Evangelii Gaudium» – sowohl bei prominenten Klerikern wie auch in den Medien. Der Vorsitzende des deutschen Episkopats, Erzbischof Robert Zollitsch, wertet das Schreiben als «geistliche Entfaltung eines neuen Aufbruchs» in der Kirche. Bernd Hagenkord, Chef der deutschsprachigen Redaktion von Radio Vatikan (und ebenso wie Bergoglio Jesuit) kommentiert: «Ein typischer Franziskus-Text.» Wenn man Bergoglios Ansprachen seit seiner Wahl verfolge, finde man hier vieles wieder, systematisiert und geordnet und deswegen neu, aber auch schon vertraut. Mehr noch: «Es ist sozusagen die ‹Regierungserklärung› dieses Papstes.» Der vatikanische «Osservatore Romano» definiert das Dokument sogar als eine «Magna Charta für die Kirche von heute».

Im gleichen Sinn begrüsst auch die laizistische Presse das Apostolische Schreiben. «Revolution im Vatikan», staunt etwa die «Süddeutsche Zeitung». Dass Franziskus eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern fordere, gefällt ebenenfalls der «Frankfurter Allgemeinen». Der «Traum von Franziskus» sei keine Utopie, aber nun müsse er noch Wirklichkeit werden. Da genau, resultiert aus etlichen italienischen Kommentaren, liegt der Haken. Erzkonservative Kräfte in der Kirche, schreibt etwa die römische «Repubblica», widersetzen sich den Neuerungen. «Besonders in der Kurie weht der Wind gegen Franziskus – und oft wird er einen Zickzack-Kurs steuern müssen.»


Anmerkung der SKZ - Redaktion: Die Päpstliche Exhortation ist unter http://bit.ly/1ibqJ8l aufgeschaltet.

Bernhard Müller-Hülsebusch

Bernhard Müller-Hülsebusch

Dr. Bernhard Müller-Hülsebusch, seit vielen Jahren Korrespondent von deutschen und schweizerischen Medien in Rom und Buchautor, beschäftigt sich vor allem mit Themen rund um den Vatikan