«Die Kirche erfüllt keinen Selbstzweck»

Synodale Prozesse und Strukturen sollen nicht nur auf weltkirchlicher Ebene, sondern auch in den Ortskirchen gefördert werden. Darüber sprach die SKZ mit Bischof Felix Gmür, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz.

Bischof Felix Gmür. (Bild: zvg)

 

SKZ: Papst Franziskus sagte in seiner Ansprache zur 50-Jahr-Feier der Errichtung der Bischofssynode: «Der Weg der Synodalität ist das, was Gott von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet.» Wo steht die Kirche auf diesem Weg?
Bischof Felix Gmür1: Das Pontifikat von Papst Franziskus hat die synodalen Strukturen in der Kirche wieder neu entdeckt. Sie haben eine für die Kirche konstitutive Dimension. Theoretisch wird die neue Gewichtung der Synodalität in der umfangreichen Schrift über die Synodalität der Kirche vom 2. März 2018 erläutert.2 Aussagekräftiger sind aber die konkreten Erfahrungen aus der Familiensynode sowie der Jugendsynode, die inhaltlich sowie in der Vorbereitung und teils auch in der Umsetzung die Vielfalt der Gläubigen ins Zentrum stellen und merklich einen frischen Geist atmen. Die flächendeckenden Befragungen im Vorfeld der Synode, wie sie Papst Franziskus beide Male lancierte, stellen ein Novum dar.  

Episcopalis communio (2018) legt den Bischofssynoden verpflichtend einen Konsultationsprozess vor (Art. 5 Par. 2; Art. 6). Wo sehen Sie noch Optimierungspotenzial nach den bisherigen Erfahrungen mit den Konsultationsverfahren?
Ich selbst habe eine Synode mit Papst Benedikt XVI. erlebt. Sowohl im Plenum als auch in den Arbeitsgruppen spürte ich eine grosse Offenheit dafür, dass sich alle gut einbringen konnten. Am sogenannten Missbrauchsgipfel vom Februar mit Papst Franziskus war nach meinem Eindruck neu, dass sich alle getrauten, sehr frei zu sprechen. Die Freiheit des Wortes, die Furchtlosigkeit, seine eigenen Gedanken zu äussern, ist für ein synodales Vorgehen notwendig. Dieser Absicht dienen auch die Konsultationsverfahren, die jedoch hinsichtlich der Fragen und der gesetzten Fristen verbessert werden müssen.

Von einer offenen Gesprächskultur in den Synoden war in den Medien zu lesen, aber auch davon, dass letztlich doch der Papst entscheiden würde. Wie ist diese Spannungseinheit von Synodalität und bischöflicher Autorität zu vermitteln?
Die synodale Dimension ist für die Kirche seit ihren Ursprüngen ein konstitutives Element – das leider nicht zu jeder Zeit in der Kirchengeschichte gleichermassen gepflegt wurde. Damit sich die Erkenntnisse, die im gemeinschaftlichen Diskurs erarbeitet werden, in der konkreten Gestaltung von Kirche auch tatsächlich entfalten können, braucht es früher oder später eine Entscheidung. Diese kann nach demokratischen Verfahren gefällt werden oder eben auch mittels eines bevollmächtigten Oberhaupts. In der katholischen Kirche entscheidet der Papst auf weltkirchlicher Ebene und der Bischof auf lokaler Ebene im Anschluss an synodale Prozesse. Dies entspricht den Gepflogenheiten unter den ersten Christen, die sich zur Entscheidungsfindung immer wieder versammelt haben und, an diese Prozesse anknüpfend, jeweils den Ältesten oder Aposteln das Amt zugesprochen haben, die Autorität auszuüben (vgl. z. B. Apg 15,22). Synodalität und der Primat des Papstes schliessen sich also nicht aus. Offen bleibt die Frage, wie weit eine Entscheidung an synodale Abstimmungen gebunden ist.

Wie bewerten Sie die Schrift «Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche» vom 2. März 2018 insgesamt?
Die Vorbemerkungen, die Einleitung sowie das erste Kapitel verdeutlichen, anknüpfend an das Anliegen von Papst Franziskus, sehr schön die biblischen Grundlagen der Synodalität und ihre zentrale Bedeutung für die Kirche als Volk Gottes. Mehrfach wird betont, dass synodale Prozesse weiter entfaltet werden sollen. In Kapitel 3, wo es um die konkrete Durchführung der Synodalität geht, vermisse ich die Offenheit für mögliche neue Formen. Relativ geschlossen, konventionell und gesetzt kommt die Aufzählung an Synoden und Gremien daher. Synodalität wird hier viel zu statisch durchdekliniert. So wird beispielsweise die grosse Problematik, dass Frauen bis heute aus vielen synodalen Prozessen auf weltkirchlicher Ebene systematisch ausgeschlossen sind, mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn Synodalität im Sinne eines gleichwertigen Miteinanders von Frau und Mann gedacht. Hier besteht noch viel kreativer Reflexions- und Handlungsbedarf.

Welche Impulse entnehmen Sie diesem Schreiben für eine stärker synodale Kirche in der Schweiz?
Synode, betrachten wir das griechische Wort, bedeutet wesentlich einen gemeinschaftlichen Weg. Synodalität ist somit von Grund auf dynamisch und bleibt nicht beim ausschliesslich theoretischen Diskurs stehen. Es wäre gewinnbringend, die Synodalität als gemeinsames Unterwegssein noch mehr zu entfalten und damit den Fokus und die Erwartungen nicht überwiegend auf Verlautbarungen und Dokumente zu legen. Zudem finde ich den folgenden Verweis im ersten Teil des Dokuments gerade für unseren Kontext sehr wertvoll: «Eine überzeugende synodale Kirche bedarf sowohl klarer theologischer Prinzipien als auch einer prägnanten pastoralen Orientierung» (vgl. Abs. 8). Alle kirchlichen Strukturfragen, die derzeit in der Schweiz prioritär diskutiert werden, gilt es stets im Hinblick auf theologisch verantwortete Kriterien zu überprüfen, verbunden mit dem Blick auf die pastoralen Gegebenheiten vor Ort. Manchmal scheint mir, dass gerade die theologischen Reflexionen in synodalen Prozessen zu wenig oder nicht mit der notwendigen Tiefgründigkeit integriert werden.

Im Dokument heisst es: «Die Erneuerung des synodalen Lebens der Kirche erfordert, Beratungsprozesse des gesamten Volkes Gottes zu aktivieren.» Wie sind die bestehenden Gefässe und Prozesse hierzulande zu optimieren?
In der Schweiz ist dank der demokratischen Tradition eine Mitsprachekultur historisch gewachsen und etabliert, was sich auch in der Gestalt der Kirche niederschlägt: Sowohl auf diözesaner Ebene wie auch auf Pastoralraum- und Pfarreiebene gibt es verschiedene Beratungs- und Arbeitsgruppen, die mit der Diözesankurie in regelmässigem Austausch stehen. Die Gefässe sind also theoretisch vorhanden. Zentraler scheint mir hier die Frage, wie Gläubige noch mehr aktiviert werden können, das kirchliche Leben lokal aktiv mitzugestalten und sich einzubringen. Es braucht einen Wandel im Selbstverständnis der Kirche. Was heisst es, gemeinsam als Volk Gottes unterwegs zu sein, und wie können die Fähigkeiten der Gläubigen noch spürbarer in die Gemeinschaft eingebracht werden? Hier gibt es unausgeschöpftes Potenzial. Wir müssen hier wohl auch neue Formen des Austauschs und des Zusammenseins entwickeln. Als Christen haben wir einen missionarischen Auftrag, der in einem kompletten Widerspruch zu jedem Gärtchendenken steht.

Im Zusammenhang mit einer «heilsamen Dezentralisierung» (EG 16) ist auch die Rede davon, den Bischofskonferenzen mehr lehramtliche Kompetenzen zu geben. In welchen Bereichen wünschen Sie sich dies?
Zum Beispiel in der konkreten Gestaltung einer Kirche vor Ort, in der Männer und Frauen einander auf Augenhöhe begegnen und als gleichwertig zusammenarbeiten. Da ist noch einmal genau hinzuschauen, was gleichwertig bedeutet. Es kann ja nicht heissen, dass alle dasselbe tun. Gleichwertigkeit heisst nicht Gleichmacherei, sondern gleich grosse Anerkennung unterschiedlicher Gaben und Dienste. Im Bistum Basel haben wir die Grenzen des weltkirchlich Vorgegebenen weitgehend ausgelotet und sogar ausgedehnt. Leider wird die Rolle der Frau nicht auf weltkirchlicher Ebene diskutiert, obwohl hier dringend Gesprächs- und vor allem Handlungsbedarf wäre.

In vielen Köpfen herrscht das Bild von Kirche als einer Pyramide vor. Im Dokument ist die Rede von einer synodalen Kirche als einer «umgekehrten Pyramide». Welches Bild würden Sie für eine synodale Kirche verwenden?
Sowohl die Pyramide als auch die umgekehrte Pyramide sind nur begrenzt zielführend für die schematische Darstellung der Kirche. Denn beide Optionen stellen die hierarchische bzw. antihierarchische Struktur ins Zen- trum. Ich bevorzuge das Bild, das uns der Apostel Paulus überliefert: Kirche besteht aus vielen verschiedenen Gliedern am einen Leib Jesu Christi. Dieses Bild betont das Zentrum unseres Glaubens, das Jesus Christus ist. Die Kirche, wie auch immer sie strukturell gestaltet wird, erfüllt keinen Selbstzweck. Vielmehr dient sie dazu, dass die Gläubigen miteinander und persönlich mit Jesus Christus in Beziehung treten können. Auch im Hinblick auf synodale Prozesse ist das Bild des Apostels Paulus aussagekräftig, insofern die einzelnen Glieder am einen Leib Jesu Christi ihre je eigenen Stärken haben, ihre Gaben, die sie in die Gemeinschaft einbringen.

Was erwarten Sie von der kommenden Sonderversammlung der Bischofssynode für das Amazonasgebiet?
Dass sie hoffentlich an die Botschaft der Enzyklika Laudato si’ anknüpft und für den Erhalt und Schutz der Schöpfung einsteht. Das bedeutet gleichzeitig ein Einstehen für Gerechtigkeit unter den und für die Menschen. Deshalb geht es auch um hochbrisante Fragen der sozialen Gerechtigkeit, die durch den Klimawandel immer mehr aus dem Gleichgewicht gerät. Ich hoffe, dass neben dem gemeinsamen Beten und den Gesprächen auch konkrete Vorschläge zum Erhalt des Amazonasgebiets und des ganzen Planeten angegangen und gefördert werden. Zudem erwarte ich Impulse, wie die Kirche sakramental vor Ort gegenwärtig sein kann, z. B. durch «Viri probati».

Interview: Maria Hässig

 

1 Dr. theol., Dr. phil. Felix Gmür (Jg. 1966) ist seit 2011 Bischof von Basel und von 2019 bis 2022 Präsident der Schweizer Bischofskonferenz.

2 Die von der Internationalen Theologischen Kommission erarbeitete und von Papst Franziskus autorisierte Schrift «Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche» kann bei der Deutschen Bischofskonferenz bezogen oder abgerufen werden: www.dbk-shop.de

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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