Die Kindheitsgeschichten der Evangelien

Zum Abschluss-Band der Jesus-Trilogie von Benedikt XVI.

Nur ein Jahr nach dem zweiten Band veröffentlichte Benedikt XVI. im Jahr 2012 das dritte, schmalere Bändchen seines Werkes über «Jesus von Nazareth» unter dem Titel «Prolog – Die Kindheitsgeschichten».1 Damit schloss er noch vor seinem Rücktritt als Papst2 seine Darstellung der «Gestalt und Botschaft Jesu»3 ab. Aus exegetischer Sicht hat diese Reihenfolge durchaus etwas für sich: Die sog. «Kindheitsgeschichten» stehen zwar am Anfang der Evangelien von Matthäus und Lukas, sind aber gleichzeitig so etwas wie Zusammenfassungen, stellen sie doch die wichtigsten «Grundmelodien» des Jesusbildes des nachfolgenden Evangeliums vor – ähnlich der Ouvertüre einer Oper. Im Folgenden soll als Dienst für alle, die das Buch selbst nicht gelesen haben, erst sein Inhalt zusammengefasst werden, bevor es aus der Sicht des Exegeten kurz gewürdigt und kritisch besprochen wird.

1. Inhaltliche Zusammenfassung

1.1. Die Herkunft Jesu

Ohne lange Einleitungen stellt das Buch im 1. Kapitel die Frage der Herkunft Jesu: «Woher bist du» (Joh 19,19) (11–23). Dass das Kapitel über den Stammbaum Jesu (Mt 1,1–16; Lk 3,23–38) unter dem Titel eines Zitates aus dem Johannes-Evangelium steht, ist bezeichnend. «Die Frage nach dem Woher Jesu als Frage nach seiner inneren Herkunft und so nach seinem wahren Wesen» (13) ist nicht nur für Joh, sondern auch für die Synoptiker wichtig, wie Benedikt XVI. gleich zu Beginn feststellt. Die beiden Stammbäume bei Mt und Lk dienen dieser Absicht. Benedikt gibt zu, dass sie «nur in wenigen Namen übereinstimmen» (19) und kommentiert diesen Umstand: «Beiden Evangelisten kommt es nicht auf die einzelnen Namen an, sondern auf die symbolische Struktur, in der sich der Ort Jesu in der Geschichte darstellt» (19). Bei Mt ist die Struktur des Stammbaums, der bei Abraham beginnt und dreimal 14 Generationen umfasst, «ganz von der Gestalt Davids bestimmt» (17) und will betonen, dass Jesus durch seinen gesetzlichen Vater Josef rechtmässiges Glied des Hauses Davids ist, aus dem der Messias stammen soll. Durch die vier im Stammbaum erwähnten Frauen, die alle keine Jüdinnen waren, werde die Sendung Jesu «zu Juden und Heiden sichtbar» (18). Bei Lk hingegen führt der Stammbaum bis auf Adam zurück und nennt 76 Namen ohne erkennbare Gliederung. Lk wolle damit «zeigen, dass in Jesus die Menschheit neu beginnt. Der Stammbaum ist Ausdruck der Verheissung, die die ganze Menschheit betrifft» (20). Joh hat seinem Evangelium keinen Stammbaum vorausgeschickt, hat «aber im Prolog seines Evangeliums nachdrücklich und grossartig die Antwort auf die Frage des ‹Woher› gestellt» (21).

1.2. Die Ankündigung Jesu

Im 2. Kapitel geht Benedikt auf «Die Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers und der Geburt Jesu» (25–65) ein. Er beginnt mit Bemerkungen zur literarischen Eigenart dieser Texte. Von der Deutung vieler Exegeten, die sie als «haggadischen Midrasch» sehen, hält er nicht viel. Eine literarische Ähnlichkeit sei zwar unbestreitbar (27), aber: «Es ist mehr: Hier wird eine Geschichte erzählt, die die Schrift auslegt; und umgekehrt: Was die Schrift an vielen Stellen sagen wollte, wird nun erst sichtbar durch diese neue Geschichte» (27–28). Es folgt eine Erörterung über die historische Frage, die nicht nur für die zwei Verkündigungserzählungen, sondern für die Kindheitsgeschichten insgesamt gilt: «Matthäus und Lukas wollen in ihrer je eigenen Art nicht ‹Geschichten› erzählen, sondern Geschichte schreiben, wirklich geschehene Geschichte, freilich gedeutete und vom Wort Gottes her verstandene Geschichte» (29). Was den Bezug zum Alten Testament betrifft, gibt Benedikt eine erstaunliche Erklärung: «Es gibt eben im Alten Testament Worte, die sozusagen noch herrenlos bleiben (…). Die urchristliche Geschichtsschreibung besteht gerade auch darin, dass sie diesen wartenden Worten ihren Eigentümer gibt. Aus diesem Zusammenhang zwischen dem wartenden Wort und dem Erkennen seines nun erschienen Eigentümers hat sich die typisch christliche Exegese gebildet, die neu ist und doch ganz in der Treue zum ursprünglichen Schriftwort bleibt» (29). Die Verheissung der Geburt des Johannes in Lk 1 wird mit Hilfe zweier alttestamentlicher Textgruppen gestaltet, die «sich hier zu einer neuen Texteinheit» (33) zusammenfügen, nämlich die Verheissungen eines Sohnes aus unfruchtbaren Eltern und prophetische Texte aus den Büchern Maleachi und Daniel.

Dabei wird die Sendung des Johannes als Vorläufer Jesu von der Gestalt des Elija her gedeutet, der «Wegbereiter für Gottes eigenes Kommen ist. So wird in diesen Texten im Stillen die Gestalt Jesu, sein Kommen mit dem Kommen Gottes selbst identifiziert » (35). Auch die Verkündigung der Geburt Jesu erläutert Lk mit Hilfe alttestamentlicher Texte. Im verheissenen Kind zeigt sich das «endgültige Aufrichten von Davids Königsthron» (41). Die Ankündigung des Engels, die Kraft des Höchsten werde Maria überschatten, gehöre von ihrer Sprachgestalt her «der Theologie des Tempels und der Gottesgegenwart im Heiligtum zu» (40). Zugleich deute sich in diesem Verkündigungswort «das Geheimnis des dreifaltigen Gottes» (40) an. Die Reaktion Marias in Erschrecken und Nachdenklichkeit, in Frage und Ja-Wort deutet Benedikt in einer eingehenden Reflexion, die vor allem aus den Texten der Kirchenväter schöpft.

Mt schildert die Empfängnis und die Geburt Jesu «ausschliesslich aus der Perspektive des heiligen Josef, der als Abkomme Davids für die Verbindung der Gestalt Jesu mit der Davids-Verheissung steht» (48). Ps 1, der das Bild des Gerechten entwirft, sieht Benedikt, der ja mit bürgerlichem Namen selber Joseph heisst, «geradezu als ein Porträt der geistlichen Gestalt des heiligen Josef» (49). Ausführlich geht er auf die Passage der Ankündigung ein, das Kind werde «sein Volk von seinen Sünden erlösen» (Mt 1,21). Mit diesem Wort sei «der ganze Streit um die Messianität Jesu vorweggenommen» (52): Der Kern der Erlösung besteht in der Vergebung der Sünden und der Wiederherstellung der Beziehung zu Gott. «Um diese Priorität geht es in Jesu Botschaft und Wirken» (53).

Ausführlich geht Benedikt auf die Frage der Jungfrauengeburt ein. Er knüpft an das Zitat in Mt 1,23 aus Jes 7,14 an. Es handle sich dabei um «ein wartendes Wort. Es findet in seinem geschichtlichen Kontext keine Entsprechung (…). Es ist an die Menschheit gerichtet» (59). In der Stunde der Empfängnis Jesu ist dieses «unbegreiflich gebliebene Wort aus dem Jahr 733 v. Chr.» (59) wahr geworden. Den exegetischen Versuchen, die Jungfrauengeburt religionsgeschichtlich zu erklären, erteilt Benedikt eine Absage. Die Nachricht darüber stamme vielmehr aus der Familientradition und sei «weitergegebene Überlieferung, die Geschehenes festhält» (61). Mit Hinweis auf Karl Barth stellt Benedikt den Glauben an die Jungfrauengeburt in seiner Bedeutung sogar neben den Auferstehungsglauben. Es geht dabei «um Gottes schöpferische Macht, die das ganze Sein umfängt. Insofern sind diese beiden Punkte – Jungfrauengeburt und wirkliche Auferstehung aus dem Grab – Prüfsteine des Glaubens» (65). Die Perikopen von der Heimsuchung Marias bei Elisabeth und der Geburt Johannes des Täufers samt den darin enthaltenen Lobgesängen Marias («Magnificat», Lk 1,46–55) und des Zacharias («Benedictus», Lk 1,68–79) bespricht Benedikt nicht – leider, handelt es sich doch dabei um Perlen der christlichen Gebetstradition bis heute.

1.3. Die Geburt Jesu

Das Papstbuch geht vielmehr im 3. Kapitel direkt mit der «Geburt Jesu in Bethlehem» (67–95) weiter. Zunächst bespricht er den historischen und theologischen Rahmen der lukanischen Erzählung. Dabei ist ihm der weltgeschichtliche Zusammenhang wichtig, der im Hinweis auf Kaiser Augustus zum Ausdruck kommt. Dieser verstand sich als universaler Herrscher und als Bringer des Friedens und wurde sogar als «Heiland» gepriesen (Inschrift von Priene). Was die Unstimmigkeiten um die in Lk erwähnte Volkszählung und die damit zusammenhängenden Geschehnisse um die Geburt Jesu betrifft, meint Benedikt: «Über die Einzelheiten wird man immer diskutieren können» (73). An zwei Punkten aber hält er fest. Zunächst: «Jesus ist in einer genau bestimmten Zeit geboren worden (…). Jesus ist nicht im Irgendwann des Mythos geboren und aufgetreten» (73–74). Ferner wehrt er sich gegen die Ansicht, der Geburtsort Bethlehem «sei eine theologische, nicht eine historische Aussage» (75). Für ihn ist aus der Quellenlage klar, «dass Jesus in Bethlehem geboren und in Nazareth aufgewachsen ist» (75). Ausführlich bespricht und betrachtet er dann die Einzelheiten der Geburtserzählung des Lukasevangeliums (76–88). Die Informationen über die Beschneidung Jesu und die Darstellung im Tempel stammen nach Benedikt wiederum «aus der Überlieferung der Familie Jesu» (88). Die Darbringung des Erstgeborenen ist ein kultischer Akt, in dem «das Moment des Opfers und des Priestertums» (90) anklinge. Darauf folgt in der Begegnung mit dem greisen Simeon und der Prophetin Hanna «eine prophetische Szene » (90). Die Worte Simeons über das Kind und an Maria werden näher erläutert. Namentlich das Wort an Maria in Lk 2,35 («Deine Seele wird ein Schwert durchdringen») ist für Benedikt historisch. «Wir dürfen annehmen, dass dieser Satz in der frühen judenchristlichen Gemeinde als Wort aus der persönlichen Erinnerung Marias festgehalten wurde» (93).

1.4. Kindsverehrung und die Flucht

Im 4. Kapitel geht es um die Weisen aus dem Morgenland und die Flucht nach Ägypten (97–126). Zunächst thematisiert Benedikt die Frage, wer die «Sterndeuter» waren und beschreibt die Entwicklung der diesbezüglichen Tradition, bis sie schliesslich zu Königen wurden. «Der entscheidende Grundgedanke bleibt: Die Weisen aus dem Osten sind ein Anfang. Sie stehen für den Aufbruch der Menschheit auf Christus hin» (105). Bezüglich des Sterns, dem sie folgten, bespricht Benedikt ausführlich verschiedene astronomische Hypothesen, die aufgestellt wurden (Johannes Kepler, Konradin Ferrari d’Occhieppo). Er legt sich nicht fest, meint aber: «Die grosse Konjunktion von Jupiter und Saturn im Zeichen des Fisches 7–6 v. Chr. scheint eine gesicherte Tatsache zu sein» (108). In der Begegnung der Weisen mit Herodes in Jerusalem findet der Papst eine Bestätigung der Geburt Jesu in Bethle hem. Die Versuche von Exegeten, den Kindermord in Bethlehem und damit die Flucht nach Ägypten historisch in Frage zu stellen, findet Benedikt nicht überzeugend, auch nicht die These, dass es sich dabei um eine «christliche Variation der Mose-Haggada» (118) handle. «Zwar wissen wir aus nichtbiblischen Quellen nichts über diesen Vorgang, aber angesichts aller Grausamkeiten, die Herodes sich zuschulden kommen liess, beweist das nicht, dass diese Untaten nicht stattgefunden haben» (116).4

1.5. Epilog

In einem kurzen Epilog beschäftigt sich Benedikt noch mit der Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (127–135), die «ein kostbares kleines Überlieferungsstück aus der Kindheit» (129) ist. Sie gibt einen tiefen Blick auf das Geheimnis Jesu frei: Er ist ganz beim Vater; sein Leben steht unter einem «Muss», dem er folgt; er ist nicht nur wahrer Gott, sondern auch wahrer Mensch, denn es wird «hier ganz deutlich, dass er auf menschliche Weise gedacht und gelernt hat» (135).

2. Zwiespältig: Die historische Fragestellung

Was die Stellung Benedikts zur historischen Frage betrifft, die in den ersten beiden Bänden so viel zu reden und auch zu kritisieren gab, scheint das kurze Vorwort des dritten Bändchens eine Wende zu bedeuten. Wie bereits früher betont er, dass die Auslegung zwei Schritte beinhalten müsse: die «historische Komponente» (9) und die Frage nach der Wahrheit: «Ist das Gesagte wahr? Geht es mich an? Und wenn, wie?» (9). Erstaunlicherweise umschreibt er die «historische Komponente» nun als die Frage, «was die jeweiligen Autoren in ihrer Stunde mit ihrem Text sagen wollten» (9). Diese Fragerichtung gehört in der gängigen Exegese zum redaktionsgeschichtlichen Methodenschritt. Hat Benedikt damit die Frage aufgegeben, die ihn in den zwei ersten Bänden so sehr beschäftigte – nämlich, was tatsächlich an historischem Geschehen hinter den Texten steht?

Der Fortgang des Buches belehrt uns eines Besseren. Da erscheint die historische Frage durchaus wieder im bisherigen Sinn. Mit aller wünschbaren Deutlichkeit stellt Benedikt fest: «Matthäus und Lukas wollen in ihrer je eigenen Art nicht ‹Geschichten› erzählen, sondern Geschichte schreiben, wirklich geschehene Geschichte, freilich gedeutete und vom Wort Gottes her verstandene Geschichte» (29). Ähnliche formulierte Feststellungen begegnen auf Schritt und Tritt. Wenn die Quellenlage zu prekär wird, beruft er sich immer wieder auf die «Familientradition» (61) oder auf die judenchristliche Gemeinde, die «aus der persönlichen Erinnerung Marias» (93) schöpfte. Er gibt zwar zu, dass man über Einzelheiten immer diskutieren könne (73). Aber die wesentlichen Inhalte sind «wirklich geschehene Geschichte» (125). Wie wichtig ihm die historische Frage nach wie vor ist, belegt nicht zuletzt die ausführliche Besprechung der verschiedenen astronomischen Theorien rund um den Stern von Bethlehem (106–110). In der historischen Fragestellung fügt sich das dritte Bändchen somit nahtlos an die beiden ersten Bände an. Und Exegeten, die anderer Ansicht sind, konfrontiert er mit der maliziösen Frage, ob «man vielleicht darin das Bild einer Theologie erblicken [soll], die sich im akademischen Disput erschöpft» (113). Insgesamt kommt der letzte Teil des Papstbuches aber (fast) ohne Polemik gegen die Exegeten-Zunft aus und hebt sich damit vorteilhaft vor allem vom ersten Band ab.

3. Würdigung und Fragen

Auch das Abschlussbändchen des «Jesus von Nazareth » von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. gibt Zeugnis von der hohen Sprachkunst seines Verfassers, seiner theologischen und spirituellen Tiefe. Es ist insofern eine angenehme und eindrückliche Lektüre. Es gibt Abschnitte, die auch den kritisch lesenden Exegeten beeindrucken und bereichern, so etwa die Auslegung der Geschichte von den Weisen (99–106) oder der Episode des zwölfjährigen Jesus im Tempel (129–135). Das Buch ist allerdings trotz seiner gekonnten Sprache anspruchsvoll und für Leser ohne theologische Ausbildung keine leichte Lektüre. Aber wer sich die Mühe nimmt, wird belohnt.

Trotzdem darf der Exeget ein paar Anfragen nicht verschweigen. Ein paar davon (abgesehen vom Ungenügen in der historischen Fragestellung, von dem schon die Rede war) seien im Folgenden angesprochen.

3.1. Literarische Gattung zu wenig berücksichtigt

Benedikt XVI. nimmt die intensiven Forschungen der Exegese des 20. Jahrhunderts, besonders etwa zur literarischen Gattung der Kindheitsgeschichten des Mt und Lk, die viel zu ihrem Verständnis beigetragen haben, nicht ernst genug, wenn er etwa schreibt: «Die literarische Ähnlichkeit ist unbestreitbar. Und doch ist klar, dass die lukanische Kindheitsgeschichte nicht ins frühe Judentum, sondern eben in die frühe Christenheit gehört» (27). Das schliesst ja nicht aus, dass man sich fragt, was der Evangelist mit der Verwendung dieser alttestamentlich-jüdischen Gattungen aussagen wollte.

3.2. Die Rede von den «herrenlosen» Worten

Sehr fragwürdig ist die Rede von «herrenlosen Worten » im AT, deren wahrer Eigentümer noch auf sich warten lasse. «Erst wenn er erscheint, erhält das Wort seine wahre Bedeutung» (29). Das gelte etwa von Jes 7,14 über die Jungfrau, die einen Sohn gebären wird. Das sei «ein wartendes Wort» (58) gewesen, das – bei aller Akribie der historischen Gelehrsamkeit (57) – in seinem geschichtlichen Kontext keine Entsprechung gefunden habe. Es sei vielmehr «ein unbegreiflich gebliebenes Wort aus dem Jahr 733 v. Chr.», das erst «in der Stunde der Empfängnis Jesu Christi wahr geworden» (59) sei. Damit nimmt Benedikt das jüdische Bibelverständnis nicht ernst genug, das in den betreffenden Stellen durchaus nicht ein unbegreiflich gebliebenes Wort, sondern Gottes Wort an sein Volk sieht. Richtiger und gegenüber dem Judentum respektvoller ist die Sicht von Erich Zenger, der für die Bibel, die wir Christen das Alte Testament nennen, zwei «Ausgänge» sieht, einen jüdischen und einen christlichen; d. h. sie ist für eine jüdische und eine christliche Lesart offen, die beide als Wort Gottes ernst zu nehmen sind.

3.3. Über die Jungfrauengeburt

Nicht sehr überzeugend ist der Abschnitt über die Jungfrauengeburt, deren Historizität von vielen Exegeten angesichts religionsgeschichtlicher Parallelen und alttestamentlicher Texte über unfruchtbare und alte Mütter grosser Persönlichkeiten in Frage gestellt wird. Dagegen ist der Hinweis Benedikts auf Maria (28: «Nur sie konnte über das Ereignis der Verkündigung berichten, das keine menschlichen Zeugen hatte») und die Familientradition (61), die in der jüdischen Überlieferung weitergegeben wurde, kein überzeugendes Argument. Da es aber auch keinen schlüssigen Beweis gegen die Wirklichkeit der jungfräulichen Geburt Jesu gibt, ist es dem Glauben unbenommen, dazu ja zu sagen. Benedikt geht allerdings noch weiter: Er stellt den Glauben an die Jungfrauengeburt in seiner Bedeutung neben den Auferstehungsglauben. Beide bezeugen «Gottes schöpferische Macht, die das Sein umfängt. Insofern sind diese beiden Punkte – Jungfrauengeburt und wirkliche Auferstehung aus dem Grab – Prüfsteine des Glaubens» (65). Angesichts der zweitausendjährigen Glaubenstradition, die von Anfang an den Auferstehungsglauben in die Mitte stellt, aber von der Jungfrauengeburt z. T. gar nicht spricht (z. B. Paulus, Markus- und Johannesevangelium), dürfte diese Gewichtung doch etwas überzogen sein.

Zum Schluss: Es ist dem emeritierten Papst hoch anzurechnen, dass er mit seinem dreibändigen Werk über Jesus von Nazareth die Aufmerksamkeit auf den gelenkt hat, auf den es in unserem Glauben letztlich ankommt. Das ist angesichts so vieler päpstlicher Äusserungen, die sich demgegenüber oft mit zweitrangigen kirchlichen Themen befassen und heute vielfach kaum noch verstanden werden, ein grosses Verdienst. Und dass er es ohne lehramtlichen Anspruch getan hat, sondern sein Werk einzig als Ausdruck seines persönlichen Suchens nach dem Angesicht des Herrn (Band 1, 22) verstanden wissen will und die Diskussion darüber ausdrücklich freigibt, ist ungewöhnlich und befreiend. Auch in Fragen des Glaubens hilft der Dialog weiter als Vorschriften und Verurteilungen.

 

1 Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth: Prolog – die Kindheitsgeschichten. (Verlag Herder Freiburg i. Br.-Basel-Wien 2012. Zur Besprechung des wichtigen zweiten Bandes durch Franz Annen: Passion und Auferstehung Jesu – Mitte unseres Glaubens. Zum zweiten Band des Jesus-Buches von Joseph Ratzinger / Benedikt X VI., in: SKZ 181 (2013), Nr. 8 , 108 –112; Nr. 9. 140.145–147.

2 Das Vorwort ist datiert «Castel Gandolfo, am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel, 15. August 2012».

3 So bezeichnet er selbst sein Werk: Joseph Ratzinger / Benedikt X VI.: Jesus von Nazareth. Zweiter Teil – Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg i. Br.-Basel-Wien 2011, 13.

4 Dabei bleibt unerwähnt, dass Josephus Flavius, von dem wir am meisten über Herodes wissen, sich redlich Mühe gab, diesen möglichst negativ darzustellen. Es ist schwer vorstellbar, dass er eine horrende Grausamkeit wie den Kindermord von Bethlehem verschwiegen hätte, wenn er wirklich geschehen wäre.

Franz Annen

Franz Annen

Dr. rer. bibl. et lic. phil. et lic. theol. Franz Annen war von 1977 bis 2010 ordentlicher Professor für Neutestamentliche Exegese und von 1999 bis 2007 auch Rektor der Theologischen Hochschule Chur