Wir wollten euch aber ein Beispiel geben

33. Sonntag im Jahreskreis: 2 Thess 3,7–12 (Mal 3, 19–20b; Lk 21,5–19)

Die Adressatinnen und Adressaten hören in 2 Thess 3,7–12 mahnende Worte vom Verfasser des 2 Thess. Letzterer hält fest, dass den Empfängerinnen und Empfängern des Schreibens eigentlich klar ist, was sie zu tun haben («Ihr selbst wisst» [2 Thess 3,7]). Es obliegt ihnen die Aufgabe, die Apostel nachzuahmen, und sie wissen bereits auch, wie sie dies anstellen sollen. Bereits in 1 Thess 1,6 wird die Idee der Nachahmung erwähnt, im Griechischen mit noch grösser Ähnlichkeit im Bezug auf die Formulierung: «Und ihr seid unserem Beispiel gefolgt und dem des Herrn.» Das Wortfeld «Nachahmung/nachahmen » ist bei Paulus und in der Paulusschule gut belegt (vgl. z. B. Phil 3,17; 4,9; Eph 5,1). Es vermittelt die Überzeugung, dass die massgebliche Bezugs- und Orientierungsperson bekannt und zugleich akzeptiert ist. Nachahmung erweist sich nicht nur als Modell zwischen den Menschen und den Aposteln und Gott, sondern auch zwischen den Gemeinden. In 2 Thess 3,7 handelt es sich bei der Nachahmung um ein Muss (das griechische dei b ezeichnet i n d er S eptuaginta u nd im Neuen Testament eine von Gott gewollte Verpflichtung, die über die moralische Dimension hinausgeht). Dieses Verständnis der Nachahmung im Sinne eines Müssens bildet eine Weiterentwicklung im Traditionsdenken zu Paulus selbst, der vielmehr auf ein Beispiel verwiesen hat (vgl. Phil 4,9), auf Vorbilder hinsichtlich der Nachfolge im Glauben an Jesus Christus (vgl. 1 Kor 11,1) Bezug genommen hat und zur Nachahmung eingeladen hat (vgl. Phil 3,17–18). Der Hinweis auf die ordentliche Lebensführung der Apostel in der Gemeinschaft der Adressatinnen und Adressaten und auf die Selbstversorgung durch eigene harte Arbeit macht diese Verpflichtung zu Nachahmung ihres Lebensstiles plausibel. Das Müssen der Nachahmung erweist sich als situationsbezogen: Das konkrete Verhalten des fiktiven Verfassers Paulus wird zum inhaltlichen Massstab für die eingeforderte Orientierung.

In diesem Zusammenhang überwiegt die ethische Vorbildfunktion. Denn im Unterschied zur Textvorlage in 1 Thess 2,9 («Bei Tag und Nacht haben wir gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen, und haben euch so das Evangelium Gottes verkündet ») wird hier kein Bezug zur Verkündigung des Evangeliums gemacht. Die in 1 Kor 9,3–18 dargelegte und ausführlich begründete persönliche Lebensführung des Paulus wirkt also offensichtlich auch in seiner peseudepigrafischen Darstellung nach. Paulus weiss sich dabei als Ausnahme (siehe 1 Kor 9,4), denn selbst aus der Jüdischen Bibel könnte eine andere Praxis begründet werden (vgl. Dtn 25,4: «Einem dreschenden Ochsen sollst du nicht einen Maulkorb umhängen», und: «Wert ist der Arbeiter seines Lohns»). Paulus verzichtet also auf etwas, worauf er eigentlich Anspruch hätte. Der Grund dafür liegt ursprünglich in seiner Absicht, gänzlich unabhängig zu bleiben und damit eine uneingeschränkte Verkündigung der ihm aufgetragenen Botschaft zu gewährleisten. Der fiktive Verfasser des 2 Thess verbindet diesen Hinweis auf die Arbeitstätigkeit des Apostels mit dem Anspruch der allgemeinen Vorbildhaftigkeit der Lebensführung. Dabei ist das Stichwort «arbeiten» die entscheidende Assoziationsbrücke.

Denn 2 Thess 3,12 folgen mahnende Worte an jene in der Gemeinschaft der Adressatinnen und Adressaten, die «ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten» (2 Thess 3,11). Hier muss eine Verbindung zur Naherwartung hergestellt werden, die in 2 Thess 1,11–2,2 zurückgewiesen wurde. Im Zuge dieser Fehlhaltung kommt es in der Gemeinschaft der Adressatinnen und Adressaten auch zu der irrigen Annahme, dass angesichts des nahen Kommens des Herrn Jesu Christi in einem durch Arbeit geordneten Alltag kein Sinn mehr zu erkennen sei. Stattdessen – so der Verfasser – verlieren sie sich in Herumtreiberei. Dagegen ermahnt der Verfasser zu einer geordneten Strukturierung des Alltags, damit auch der Lebensunterhalt selbst gesichert werden kann (vgl. 2 Thess 3,12).

2 Thess im jüdischen Kontext

Möglicherweise finden sich in 2 Thess 3,7–12 Elemente eines Arbeitsethos, das sein Fundament in der jüdischen Tradition besitzt. Denn in diesem Text wird keine Verbindung zwischen den angemahnten Verpflichtungen und dem Erfolg der Verkündigung des Evangeliums hergestellt, d. h. der Text bleibt in der ethischen und reicht nicht in die missionarische Dimension. Bereits in der jüdischen Bibel und in der jüdischen Weisheitsliteratur wird Arbeit als Beitrag des Menschen zur göttlichen Schöpfung angesehen und demzufolge wertgeschätzt. Im Bezug auf 2 Thess 3,7–12 gilt es, Vorsicht walten zu lassen. Vor zu schnellen Rückschlüssen auf ein uneingeschränktes Arbeitsethos ist in Bezug auf 3,7–12 allerdings zu warnen. Denn diese Hochschätzung von Arbeit und auch die ethische Situierung der Regel «Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen» (2 Thess 3,10) müsste zumindest zusammen mit einer Beachtung anderer neutestamentlicher ethischer Prinzipien erfolgen – wie z. B. Barmherzigkeit, Solidarität, Nächstenliebe –, die bedingungslos und unabhängig von vollendeter Arbeit oder erbrachter Leistung respektiert werden müssen.

Heute mit dem Verfasser des 2 Thess im Gespräch

In der Bewegung auf die Gegenwart liegt es daher nahe, dieses arbeitsethische Moment des Textes nicht zu sehr zu strapazieren. Vielmehr kann 2 Thess 3,7–12 Anlass zu einer Diskussion über den Sinn von Arbeit aus einer christlichen Perspektive sein, ohne bereits eine genaue Position vorzugeben und eine klare Antwort vorweg zu präsentieren, wie sie vermeintlich in dem Satz «Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen» erhofft werden könnte. Denn natürlich stellen biblische Schriften eine Hauptquelle für Christinnen und Christen dar, um in ethischen Fragen Orientierung zu finden. Aber biblische Texte dürfen nicht so missbraucht werden, als wäre die Bibel ein moralisches Handbuch, in dem man korrespondierend zu jeder gegenwärtigen ethischen Problemstellung eine genaue massgefertigte Antwort nachschlagen kann. 2 Thess 3,7–12 ist in dem Kontext und im Wissens- und Verstehenshorizont des Verfassers und der Adressatinnen und Adressaten zu lesen und auszulegen, um dem Text gerecht zu werden. Ein Satz wie der oben erwähnte muss sich darüber hinaus in den Gesamtduktus der biblischen Botschaft einfügen lassen. Der Kanon der biblischen Schriften stellt also den hermeneutischen Rahmen für ethische Aussagen der Bibel dar. Vielmehr ist im Hinblick auf das Heute die Bedeutung des Beispiel-Gebens im ethischen Sinne für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft und darüber hinaus für den in Gemeinschaft gelebten Glauben zu unterstreichen.

 

Peter G. Kirchschläger

Peter G. Kirchschläger

PD Dr. theol. lic. phil. Peter G. Kirchschläger ist Visiting Fellow an der Yale University (USA) und Forschungsmitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.