Die Jagd nach Gerechtigkeit

Das biblische Motto der diesjährigen Weltgebetswoche nimmt Bezug auf die allen christlichen Kirchen gemeinsame Sehnsucht nach Gerechtigkeit.

«Der Gerechtigkeit und nur der Gerechtigkeit sollst du nachjagen, damit du am Leben bleibst und das Land in Besitz nimmst, das JHWH*, dein Gott, dir gibt» (Dtn 16,20).
Die Spitzenaussage, die dem Motto der Gebetswoche für die Christen 2019 zugrunde liegt, findet sich im Buch Deuteronomium innerhalb eines Abschnitts über die Rechtsprechung.

Die eindringliche Aufforderung ist eingebettet in zwei Verbote. Das erste bezieht sich auf Bestechung. Bestechung korrumpiert das Recht. Das zweite Verbot bezieht sich auf Kulteinrichtungen für die Göttin Aschera. Dieses Verbotssandwich legt nahe, dass die Lehren anderer Götter als JHWH zu meiden sind, weil sie (angeblich) Ungerechtigkeit zulassen und von der Gerechtigkeit wegführen. Diese wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass das Volk der Israeliten im verheissenen Land bleiben darf.

Dasselbe Konzept begegnet uns auch in der Mitte der Tora. Die berühmten Gerechtigkeitsappelle in Lev 19 mit der Forderung, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, sind umgeben von einer Liste von Verboten sexueller Handlungen und religiöser Kulte in Lev 18 und 20, verbunden mit der Drohung, dass das Volk vom Land ausgespuckt werden wird, sollte es die Verbote miss- achten.

Die Energie gezielt ausrichten

Mit dem Ausdruck «der Gerechtigkeit nachjagen» greift das Gesetz die populäre Sprache auf. Die Jagd war im Alten Orient eine weitverbreitete Tätigkeit, um etwas Fleisch auf den Teller zu bringen. Damit sie erfolgreich verlief, brauchte es Know-how, List und Ausdauer. Die Propheten rügten ihr Volk oft dafür, dass es seine Energie in die falsche Richtung lenkt: «Efraim weidet Wind und jagt dem Ostwind nach» (Hos 12,2). Jesaja kritisiert ausdrücklich die weitverbreitete Korruption: «Jeder liebt Bestechung und jagt Geschenken nach» (Jes 1,23). Was das Gesetz besonders den Richtern einzuimpfen versucht, wusste auch das Sprichwort des Volkes: «Wer nach Gerechtigkeit und Güte jagt, der findet auch Leben, Gerechtigkeit und Ehre» (Spr 21,21).

Ein Ort, wo dieses Ethos der Gerechtigkeit verinnerlicht wurde, war das Gebet im Tempel oder zu Hause. In einem Preislied Davids heisst es: «Meide das Böse und tue das Gute, suche Frieden und jage ihm nach» (Ps 34,15). Dem Frieden nachjagen bedeutet nichts Anderes als Gerechtigkeit zu realisieren. Der Psalm vertritt die Überzeugung, dass JHWH die Gerechten im Blick hat und sie in der Not unterstützt, während er die Erinnerung an die Bösewichte austilgt. Demgegenüber beklagt ein anderer Psalm die perversen Verhältnisse, dass es denen gut geht, die rücksichtslos sind, während der Gerechte ihrem Hass ausgesetzt ist: «Die Gutes mit Bösem vergelten, klagen mich an, weil ich dem Guten nachjage» (Ps 38,21). Lohnt es sich also, der Gerechtigkeit nachzujagen?

Wider die Scheinheiligkeit

Das Gebetswochenmotto aus der Tora provoziert eine Entscheidung. Jeder hat die Wahl: Willst du Bestechung und Profit nachjagen oder Gerechtigkeit und Frieden? Viele Politiker und Unternehmer von heute scheuen sich vor der Entscheidung. Sie behaupten, eine gerechte Welt für alle sei möglich, ohne dass wir auf den freien Markt verzichten, der auf weltweiter Jagd nach Profit beruht, bei der Milliarden von Schmiergeldern fliessen. Apple-Chef Tim Cook zum Beispiel, einer der Reichsten auf dem Globus, setzt sich für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transsexuellen ein und lässt sich als Förderer der Menschenrechte feiern. Seine Geräte aber lässt er in China herstellen, einem Land, das den freien Gebrauch des Internets verbietet. Diese Scheinheiligkeit sind viele Menschen leid.

Aber Gerechtigkeit ist keine Chimäre. Sie ist ein den Menschen eingepflanztes Gefühl. Man kann sie finden unter Kindern und Tieren, die spontan miteinander teilen. Man findet sie unter bescheidenen, unauffälligen Menschen, die das Ihre getreu verrichten. Es gibt sie bei Menschen, die freiwillig auf einen aufwendigen, luxuriösen Lebensstil verzichten. Und manchmal findet man sie sogar unter Vermögenden, die bereit sind, ihren ererbten oder erworbenen Reichtum zu teilen.

Thomas Staubli

 

* Vom Autor bewusst so und in dieser Schreibweise gewollt.


Thomas Staubli

Dr. theol. Thomas Staubli (Jg. 1962) studierte Theologie, Religionswissenschaft, Ägyptologie und Orientalistik in Freiburg i.Ue., Jerusalem, Berlin und Bern. Seit 1997 unterrichtet er Altes Testament an der Universität Freiburg i.Ue. Seit diesem Jahr ist er zudem Seelsorger am Bundesasylzentrum Guglera in Giffers FR.