Die Heilung der "Blutflüssigen"

Es sei ein Wunder, sagen die Formgeschichtler. Es sei ein feministisch-theologisches Lehrstück, meinen die Hermeneutikerinnen. Es sei eine antimagische Novelle, mutmassen die Aufgeklärten. Alle stolpern über die Fragen: Geht es um den Messias oder die Frauen? Geschieht die Heilung durch Berührung oder Glaube? Was hat die "Blutflüssigkeit" für einen Sitz im Leben? Und welche kontextuellen Bemühungen sind der Geschichte zuträglich und welche führen in die Irre des christlichen Antijudaismus?1 Die Heilung der "blutflüssigen" Frau ist in der Auslegungstradition wohl eine der wunderlichsten Geschichten bis heute.

Tochter und Töchterchen

Auffällig ist in der Erzählung das Zusammenspiel mit der Rahmenhandlung um den Synagogenvorsteher Jaïrus und seine Tochter (Mk 5,22–24.35–43). Die Zwölfjährige liegt im Sterben, als der Vater Jesus um ihre Heilung bittet. Auf dem Weg durch die Menge wird Jesus berührt und merkt, dass eine Kraft von ihm ausgeht. Die "Blutflüssige" ist sofort geheilt, während die Tochter des Jaïrus stirbt. Jesus deutet die Heilung als Folge ihres Glaubens und kündigt auch die Steigerung an, die Auferweckung des Töchterchens durch das Vertrauen der Eltern. Die sprachliche Verschachtelung der beiden Frauengeschichten durch einzelne Schlüsselwörter bezieht die Figuren aufs engste miteinander und differenziert sie zugleich. Jesus spricht die "Blutflüssige" mit "Tochter" an. Im Gegensatz zu Jaïrus’ Töchterchen (V. 23 im Diminutiv θυγάτριόν) liegt hier kein Begriff einer Blutsverwandtschaft vor, sondern deutet auf eine andere Nähe hin (V. 34 θυγάτηρ). Im Unterschied zur aktiv berührenden "Blutflüssigen" liegt Jaïrus’ Tochter im Haus. Und Jesus bewegt sich zu ihr hin. Als Tochter des Synagogenvorstehers ist sie privilegiert, aber aus ihrer Perspektive noch schlimmer dran. Die beiden Frauen verbindet das Ringen um eine Perspektive. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Heilungen konkurrieren, ein Konflikt zwischen Haus und Strasse2 (die Tochter stirbt, während Jesus aufgehalten wird). Aber wie es oft bei biblischen Eltern-Kind-Geschichten der Fall ist: Das Mädchen verkörpert die Zukunft des Volkes Israel. Die "Blutflüssige" hingegen die Gegenwart mit der Erfahrung des vergeudeten Lebensblutes – wenn sie nicht geheilt wird, hat das Mädchen gar keine Zukunft.

Zwölf Jahre – mehr als eine lange Zeit

Die Zwölfjährige steht im Übergang vom Mädchen zur Frau. Was ist das für ein Sterben, mit dem sie zu kämpfen hat? Seit zwölf Jahren blutet die Frau, die ihr ganzes Vermögen an Ärzte gab, die ihr Leiden nicht lindern konnten. "Die Zwölf" verweist biblisch oft auf die zwölf Stämme Israels und assoziiert das himmlische Jerusalem. Die Wahl der "Zwölf" bedient in den ersten Kapiteln bei Mk diese Bezüge. Wer diese Verknüpfung nicht macht, bleibt beim Hören an den zwölf Jahren des Mädchens hängen, die am Schluss betont werden. Die zwölf Leidensjahre der Frau umfassen also die gesamte Lebensdauer des Mädchens.

Der Glaube der Frau und des Jaïrus steht im scharfen Widerspruch zum mangelnden Vertrauen der Jünger, insbesondere der Zwölf, in den Geschichten vom Seesturm. Jesus kommentiert darin "Habt ihr denn immer noch kein Vertrauen?" (4,40).3 Die meisten älteren und auch einige jüngere Kommentare betonen an der "Zwölf" aber die lange Zeit des vermuteten gesellschaftlichen Ausschlusses durch die permanente "Unreinheit" der Blutenden.4

Eine unreine Wundergeschichte

An der Forschungsarbeit Metternichs, die hier die Eindeutigkeit des Bezugs auf die Vorschriften in Lev 12 und 15 oder Num 5,2;9,6–23 widerlegt, kommt heute niemand mehr vorbei. Die Erzählung selbst macht jedenfalls keinen Hinweis darauf, dass sich irgendwer ob der Unreinheit der Frau empört. Die Erzählung selbst verfolgt andere Motive.

Es ist sehr wohl legitim, diese Geschichte heute im Sinn einer frauenbefreienden Botschaft zu lesen in aktuellen Kontexten im Umgang mit genitalen Blutungen. Diese sind weithin tabuisiert. Nicht nur, dass Frauen sich von Bereichen rund um Küche und Altar fernhalten, im Glauben, dass z. B. die Sahne gerinne, wenn sie während der Menstruation geschlagen wird. Auch Hygieneartikel werden so beworben, dass die "Flüssigkeit" (von Blut ist keine Rede auf einer Tamponpackung) schon im Inneren aufgenommen wird. So wird die Frau vor ihrem eigenen Blut beschützt und die Blutung unsichtbar gemacht.

Im Blutfluss sein

 Wir wissen nicht, an welchen Krankheiten die Frauen litten. Vielleicht geht es ja auch nicht um einen medizinischen Befund, der verschwindet, sondern um den jetzigen und zu erwartenden Erfahrungshorizont, der bis heute virulent ist. Die Geschichte lässt sich individuell lesen, als Heilung von Frauen, aber auch kollektiv, als Heilung von Geschichte für eine lebbare Zukunft. Die "Blutflüssige" – so der "terminus technicus" – befindet sich wörtlich "im Blutfluss" (V.25 οὖσα ἐν ῥύσει αἵματος). Spiegeln sich hierin auch die Erfahrungen des Erzählers selbst von Krieg und Vernichtung? Menschen, die verbluten, ein Volk, das krank geworden ist am ständigen Ausbluten der Hoffnung. Die Erzählung hält dem eine Heilung entgegen, ein Vertrauen, dass die Quelle des Blutes versiegt und das Blut der jungen Frau wieder lebendig wird. Wenn die Tochter des Jaïrus für die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft steht, dann zeigt sich in dieser Geschichte genau hier der Neubeginn. In solch einer Lesart wäre wenig Platz für die Annahme, dass Jesus mit den jüdischen Gesetzen aufräumt, wie es in der exegetischen Literatur bis in jüngere Zeit zu lesen ist. Das Vertrauen in den Propheten und "Gottesmann"5 heilt die Gegenwart und ermöglicht eine Zukunft. Sinnloses Blutvergiessen nimmt ein Ende. 

1 Einen vielzitierten Überblick liefert: Ulrike Metternich: "Sie sagte ihm die ganze Wahrheit". Die Erzählung der "Blutflüssigen" – feministisch gedeutet. Mainz 2000.

2 Klara Butting u.a. (Hrsg): Die Bibel erzählt ... Markus. Knesebeck 2007, 43.

3 Bas van Iersel: Markus Kommentar. Düsseldorf 1993, 132–166, hier 165 f.

4 So z.B.: Werner Kahl [z.T. im Widerspruch zu Metternich]: Glauben lässt Jesu Wunderkraft heilsam überfliessen (Die Tochter des Jaïrus und die blutflüssige Frau) in: Ruben Zimmermann: Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd 1. Gütersloh 2013, 286.

5 vgl. Elijas 1Kön 17,17-24 und Elischa 2Kön 4,8-73.

Katja Wissmiller

Katja Wissmiller

Die Theologin, Fotografin und Journalistin Katja Wissmiller ist Mitarbeiterin der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich.