Die Fenster der Kirche weit öffnen

Nach der Messe am Palmsonntag in Sempach (v.l.n.r.): Andrea Koster Stadler, Schwester Cres Lucero, Joefran Talaban, Bembet Madrid, Nilvon Villanueva, Antoinette Brem, Barbara Lehner, Luz Gelle, Bernhard Stadler.

Es entspricht dem Selbstverständnis von Fastenopfer, die Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht darum, den Austausch zwischen Menschen verschiedener Kulturen auf Augenhöhe zu pflegen und voneinander zu lernen. Reisen für Spenderinnen und Spender sowie Austauschprojekte für junge Menschen haben sich als geeignetes Mittel erwiesen, die Arbeit des Fastenopfers für ein breiteres Publikum erfahrbar zu machen und die Teilnehmenden für globale Zusammenhänge zu sensibilisieren.

"Exposure" – Immersion

Das Konzept des Pastoralaustausches knüpfte an ein Modell von Bewusstseinsbildung an, welches in den Philippinen seit über dreissig Jahren umgesetzt wird: eintauchen in die Lebenssituation der Menschen und sich ihrer Realität aussetzen mit dem Ziel, Brücken zu bauen zwischen verschiedenen Lebenswelten sowie die gegenseitige Solidarität zu stärken. Diese Erfahrung sollten die Gäste auch bei uns machen. Während ihres Aufenthaltes verbrachten sie darum zwei Tage und Nächte in einer Gastfamilie. Dies war für alle sehr wichtig und bereichernd, konnten sie dadurch doch Einblick erhalten in ganz unterschiedliche Leben von Menschen in der Schweiz: eine Familie mit Kindern im Schulalter; eine pensionierte Berufsfrau; eine Familie mit Jugendlichen; ein Akademikerpaar.

Der Pfarreileitung von Sempach, Andrea und Bernhard Stadler Koster, war es ein grosses Anliegen, dass nicht nur die Gäste, sondern auch die Pfarreiangehörigen in Sempach von diesem Besuch lernen und profitieren können. Dadurch fand ein wichtiger Teil des Pastoralaustausches ausserhalb des Kirchen raums statt. Die Herzen waren offen und auch die Häuser.

Nicht alle Sempacherinnen und Sempacher, welche einen Gast einladen wollten, konnten berücksichtigt werden. "Ich habe bisher die Menschen in Europa eher als kalt und zurückhaltend erlebt", sagte zum Beispiel Schwester Cres, die längere Zeit in Holland gelebt hatte, "hier aber treffe ich Menschen mit viel Herz und Wärme."

Der frühmorgendliche Besuch in einer Sempacher Bäckerei war ein Höhepunkt des ersten Wochenendes. Dort wurde das Brot gebacken, welches in der Fastenzeit zugunsten des von der Pfarrei seit vier Jahren unterstützten Fastenopferprojektes für die philippinische Urbevölkerung der Agtas gekauft werden konnte. Die fünf Gäste erlebten hautnah, mit welcher Sorgfalt unser "Reis" – das Brot – hergestellt wird. Dieses Brot in der Liturgie miteinander zu teilen und es nach den Gottesdiensten den Daheimgebliebenen mitzubringen, berührte uns alle. "Jesus, ein Mensch wie Brot", vielfach geteilt und erfahren in diesen beiden Wochen. Beeindruckt hat auch das Projekt "Brotzeit" der Pfarrei Sempach, welches Bernhard Stadler initiiert hat: An vier Standorten in Sempach kann altes Brot deponiert werden. Es wird eingesammelt, gemahlen und später Tierfutter beigemischt. Diese Arbeit erledigen Menschen, die bisher in der Pfarrei regelmässig vorbeikamen und um ein Almosen baten und nun gegen einen Stundenlohn arbeiten. Dadurch werden sie eingebunden in ein sinnvolles Projekt und in die Gemeinschaft.

Die Schönheit lebendiger Liturgie

Es hat sich als richtig erwiesen, diesen Austausch über die Osterzeit durchzuführen mit ihrer dichten Thematik von Freundschaft und Verrat, von Leben, Sterben und Auferstehen, von Jubel und Hohn, von Liebe und Schmerz. Wir wollten mit unseren Gästen auch feiern und den Glauben an das Leben in Fülle teilen, welches allen Menschen verheissen ist. Sehr berührend wurden die Liturgien durch den Einbezug der Kinder. Ihre strahlenden Augen am Palmsonntag, als wir alle um den Altar standen bei der Kommunionfeier, haben die Herzen geöffnet und liessen unsere Gäste nachher sagen: "I feel very home, it touched my heart, I long for this kind of liturgy very much." Viel dazu beigetragen haben auch die kreative Elemente, welche die Sinne nährten, Palmbäume, Kinderumzug am Karfreitag, das Kreuzverehrungsritual am Karfreitag, die Osterliturgie frühmorgens an Ostern mit dem Ritual, sich die Augen zu waschen, damit wir in unserem Alltagsleben den auferstandenen Christus mit neuen Augen erkennen können.

Die Liturgien ab Palmsonntag bis Ostern werden in der Regel in Sempach mit Impulsen von Gästen gestaltet, in diesem Jahr von Barbara Lehner und Antoinette Brem. Parallel dazu begleiteten sie eine Gruppe von Pfarreiangehörigen durch die Zeit von Hoher Donnerstag bis Ostern, dieses Jahr zu Körperspiritualität unter dem Leitthema "Dies ist mein Leib" – der nährende Leib (Hoher Donnerstag), der verratene und geschundene Leib (Karfreitag), der erschöpfte, ruhende Leib (Karsamstag), der neu zum Leben erwachte Leib (Ostern). Im Gruppenprozess wie auch in den Liturgien ist es zentral, das Geschehen um den Menschen Jesus für die Menschen von heute zugänglich werden zu lassen, es mit unserem persönlichen und gesellschaftlichen Kontext in Verbindung zu bringen. Diese in die Liturgien eingebundene Kontextualisierung hat unseren Gästen unter anderem geholfen zu verstehen, dass die Armut in der Schweiz kein zentrales Problem ist, es aber sehr wohl soziale Probleme gibt. Zum Beispiel die hohe Suizidrate – allein in Sempach sind in den vorangegangenen Monaten drei Männer freiwillig aus dem Leben gegangen. Oder die Situation der Migrantinnen und Migranten in der Schweiz, vor allem der Sans-Papiers, ein Thema, das sie besonders interessierte. Sie diskutierten das Thema mit einer Gruppe philippinischer Migrantinnen in Solothurn. Das Seraphische Liebeswerk, das traditionell starke Beziehungen zu den Philippinen unterhält, hatte sie eingeladen, zusammen mit dem Philippinenseelsorger und einer Vertreterin der philippinischen Botschaft. Ohne zu beschönigen zeigte auch Nicola Neider, die Beauftragte der Katholischen Kirche Luzern für Migrationsthemen, die Migrationsproblematik auf. Sie machte aber auch sichtbar, wo und wie sich die Kirche hier engagiert, um den zunehmenden Abschottungstendenzen gegen Fremde in der Schweiz mit klarer Stimme zu begegnen.

"Where I stand, so I see"

Die drei Frauen der Gruppe waren hoch erfreut über die tragende Rolle, welche Frauen in den Gottesdiensten innehatten. Es beeindruckte sie, dass wir alle zusammen bei Kommunion- oder Eucharistiefeiern vorne um den Altar standen, zusammen mit den Priestern Joefran Talaban, Nilvon Villanueva und José Meier. Erstaunt stellten Villanueva und Talaban fest, dass Frauen im kirchlichen Dienst von Bischof Felix Gmür auch zur Chrisam-Messe eingeladen waren. Die beiden Priester sagten in der Auswertung mehrmals, die hier gemachten Erfahrungen gäben ihnen selber Impulse, wie sie Laien – auch Frauen und Kindern – in ihren Pfarreien mehr Raum und Verantwortung geben könnten. Die Gäste wurden Zeugen, dass bei uns wegen fehlender Priester häufig priesterlose, von Laien geleitete Gottesdienste gefeiert werden. "How good, worthy and sincere they are in their ministry", sagte Nilvon Villanueva, während sich Joefran Talaban fragte: "Am I still enough grounded and in touch with the people the way I live my ministry as a priest?" Luz Gelle, die mit den Basisgemeinden seit Jahren in abgelegenen Gebieten priesterlose Gottesdienste feiert, fühlte sich hingegen sehr bestätigt: "I strongly feel affirmed in my ministry as a lay woman in the Church. And I know, much more could be possible."

Den Kontext zu kennen, weckt Verständnis

"Wo sind die Menschen hier?" hatte Nilvon kurz nach Ankunft gefragt, weil unsere Strassen häufig menschenleer sind. Am Karfreitag war es kalt draussen, es schneite. Die Gäste verkrochen sich alle fast den ganzen Tag in der Wärme des Hauses. Plötzlich erfuhren sie am eigenen Leib, warum bei uns kaum Menschen draussen zu sehen sind. Sogar Bembet Madrid, die schon viele Male in der Schweiz war, gingen die Augen auf bezüglich der überall geschlossenen Fenster. Die luftigen philippinischen Häuser gewohnt, hatte sie sich bis anhin nicht vorstellen können, wie man in unsern Häusern gesund und zufrieden leben kann. Sie erinnerte an Bischof Labayen, der vor mehr als 20 Jahren immer wieder Papst Johannes XXIII zum Zweiten Vatikanischen Konzil zitiert hatte: "Öffnet die Fenster der Kirche weit, auf dass frischer Wind einströmen kann." Die Bedeutung dieser Aufforderung war ihr all die Jahre nicht klar, weil sie den Kontext nicht kannte, aus welchem Johannes XXIII. gesprochen hatte. Jetzt verstand sie: Die Fenster sollen geöffnet werden, damit gestaute, stickige Luft frischer, lebenspendender Luft weichen kann – in der Kirche genauso, heute wie damals.

Frische Luft in die Kirche: Dies wird in der Schweiz eindrücklich seit zwanzig Jahren in der ökumenisch geführten Offenen Kirche Elisabethen gelebt: Die katholische Seelsorgerin Monika Hungerbühler beeindruckte mit ihren Geschichten von aussergewöhnlichen Gruppen in der Elisabethenkirche. Die Offene Kirche beherbergt auch Menschen, die anderswo im kirchlichen Kontext ausgeschlossen werden, wie Lesben und Schwule. "Warum nicht?" als Grundhaltung hat die philippinischen Gäste sehr beeindruckt. So wurde der Besuch in der Basler Kirche – nach der Erfahrung in der Pfarrei Sempach – zum zweiten Highlight dieses Austauschs.

Herausforderung und Ermutigung für weitere Begegnungen

Es hätte noch viele weitere Möglichkeiten zum Austausch gegeben. Auch während des Aufenthaltes mussten wir immer wieder Einladungen ablehnen, manchmal leider auch wertvolle Begegnungsmöglichkeiten. Die grösste Herausforderung für uns Gastgeber war, uns zu beschränken. Doch auch wenn das Programm häufig recht gedrängt war, blieben die Begegnungen mit den einzelnen Gruppen und Einzelpersonen gehaltvoll. So war zum Beispiel das Treffen mit Teilnehmerinnen der beiden Fastenopfer- Lernreisen 2004 und 2007 in die Philippinen zwar kurz, aber intensiv. Es zeigte sich, wie nachhaltig sich diese Reise auf das solidarisches Engagement der Teilnehmerinnen auswirkte – mehrere Frauen sind sowohl mit den Philippinen wie mit dem Fastenopfer seither sehr verbunden, engagieren sich in Pfarreien und Kirchgemeinden während der Fastenzeit oder in Eine-Welt-Gruppen. Das ist ermutigend für weitere Austauschprogramme in dieser Art.

Ermutigung haben die Gäste aus den Philippinen für ihre Arbeit zu Hause auch erhalten durch den Austausch in den Gastfamilien in Sempach. Dass die Pfarrei Sempach seit vier Jahren die Arbeit der Agtas in ihrem Kampf um Land und Selbstbestimmung solidarisch mitträgt, berührte beide Seiten. Viele Pfarreiangehörige äusserten sich positiv: "Es tut gut, nun selber Menschen aus den Philippinen und aus dem Projekt kennen zu lernen, für welches wir seit vier Jahren hier Geld sammeln."

Hier lässt sich auch der Gewinn für die Arbeit von Fastenopfer festmachen. Wenn Menschen emotional berührt werden, wenn hinter Worten und Botschaften auf einmal konkrete Gesichter hervortreten und ihr Leben fassbarer wird, können über kulturelle und soziale Unterschiede hinweg tragende Verbindungen wachsen, die sich nachhaltig positiv auf unsere Arbeit auswirken. Alle Beteiligten wünschten bei der Auswertung, diese Art des interkulturellen Austausches unbedingt weiterzuführen.

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Das Programm des Pastoralaustauschs

An Ostern 2014 fand ein Pastoralaustausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Ortskirchen der Philippinen und der Schweiz statt. Eingeladen hatte Fastenopfer, vorbereitet und begleitet wurde die Reise von Helena Jeppesen, Programmverantwortliche für die Philippinen, Andrea Koster Stadler, Pfarreileiterin Sempach und Stiftungsrätin Fastenopfer, sowie der Theologin Antoinette Brem. Fünf Projektpartner von Fastenopfer aus den Philippinen haben dabei verschiedene Arbeitsfelder der Kirche in der Schweiz kennengelernt. In der Karwoche lebten sie mit Familien in der Pfarrei Sempach und beteiligten sich an den Feiern. Nach Ostern besuchten sie das Pastoralamt des Bistums Basel in Solothurn, wo sie auch Bischof Felix Gmür trafen. Im Antoniushaus in Solothurn tauschten sie sich mit philippinischen Migrantinnen aus. Sie stellten sich bei Fastenopfer vor, nahmen an einem Kolloquium der Universität Luzern teil und fuhren nach Einsiedeln – ein dicht gedrängtes Programm für die Gäste, von denen zwei vorher noch nie im Ausland gewesen waren. Und wie es ist, wenn Menschen aus anderen Ländern mit uns unterwegs sind: Nicht nur sie entdecken viel Neues. Auch unser Blick schärft sich, und Vertrautes wird neu betrachtet und reflektiert.

Die Gäste aus den Philippinen

Joefran Talaban (46), Priester: Talaban ist Pfarrer in Nuestra Señora de la Salvacion in der Gemeinde Bianoan in Casiguran. Er ist eine wichtige, integrierende Persönlichkeit im Kampf der Urbevölkerung gegen APECO, der geplanten Freihandelszone auf der Insel Luzon (Projekt Fastenopfer: Task Force Anti-APECO; Prälatur von Infanta).

Nilvon Villanueva (48), Priester: Villanueva ist Generalvikar von Valley in der Ding-Region und Pfarrer der Pfarrei San Luis. Ein Kirchenführer, der sich für die Rechte der Bauernfamilien und der indigenen Bevölkerung einsetzt, aktiv in der Bewegung der kleinen christlichen Gemeinden MSK (Projekt Fastenopfer: YAPAK, Prälatur von Infanta).

Cres Lucero (68), Franziskanerin: Sister Cres gehört einer franziskanischen Kongregation an und arbeitete viele Jahre als Direktorin von Task Force Detainees of the Philippines. Sie leistet einen grossen Einsatz für die Menschenrechte und stand in erster Reihe im Kampf gegen die Diktatur von Marcos (Projekt Fastenopfer: Task Force Detainees of the Philippines).

Luz Gelle (68), Lehrerin und Seelsorgerin: Gelle leitet seit 1970 eine Laienbewegung, damals galt unter Marcos das Kriegsrecht. Sie ist aktiv in der Bewegung der kleinen christlichen Gemeinden MSK bei Zuckerrohrarbeitern der grossen Plantagen auf Negros (Projekt Fastenopfer: KMALIG auf Negros).

Bembet Madrid (52), Koordinatorin Fastenopferprogramm Philippinen: Sie arbeitete ursprünglich für das Büro "Social Action" der Philippinischen Bischofskonferenz, später war sie in der Ausbildung für Seelsorgerinnen und Seelsorger tätig. Seit 1990 begleitet sie die Partnerorganisationen von Fastenopfer in den Philippinen.

 

 

 

Antoinette Brem, Helena Jeppesen, Blanca Steinmann

Die drei Autorinnen des vorliegenden Berichts sind: Antoinette Brem, freischaffende Theologin; Helena Jeppesen, Fastenopfer- Programmverantwortliche für die Philippinen und Laos; Blanca Steinmann, Fastenopfer- Kommunikationsverantwortliche