Die bleibende Aktualität des zweiten Vatikanischen Konzils (IV)

Das Konzil – ein bleibendes Versprechen (Teil 2)

2. Kirche entdeckt ihre Katholizität nach innen und nach aussen

Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil hätte über zwei Kirchenkonstitutionen beraten und entschieden werden sollen. Zum Abschluss gebracht werden konnte dann nur die das Papstamt betreffende. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde deshalb von Anfang an gewünscht, als Ergänzung des Ersten die Kirche zu thematisieren und dabei das Bischofsamt näher zu bestimmen. Thematisiert wird Kirche einerseits in den drei Konstitutionen: in der dogmatischen Konstitution über die Kirche, in der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute und in der Konstitution über die Heilige Liturgie; wichtige Aussagen über die Kirche finden sich auch im Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche und im Dekret über den Ökumenismus.

a. Das Bischofsamt

Hinsichtlich des Bischofsamtes hat das Zweite Vatikanische Konzil, nicht ohne stürmische Auseinandersetzungen, einige Klärungen herbeiführen können: LG 21 hat die Frage nach der Sakramentalität des Bischofsamtes positiv beantwortet; LG 27 hat herausgestellt, dass die Bischöfe ihr Amt im Namen Christi (nomine Christi) ausüben, als Stellvertreter und Gesandte Christi (vicarii et legati Christi) ausüben, nicht als Stellvertreter der Bischöfe von Rom (vicarii Romanorum Pontificum).

Eine Ortskirche, welcher der Bischof vorsteht, ist Kirche vor Ort und nicht eine Verwaltungseinheit der Weltkirche (vgl. CD 140). Dies bestimmt auch das Verhältnis von Gesamtkirche und Ortskirche, wie in LG 23 geschildert. «Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche» ist nicht allein der Papst, vielmehr zusammen mit ihm (una cum) auch das Bischofskollegium (vgl. LG 22).

Das Verhältnis zwischen den beiden Trägern der höchsten Hirtengewalt, dem Papst allein und dem Bischofskollegium zusammen mit ihm, ist damit nicht klar bestimmt. Erreicht werden soll damit jedenfalls Einheit in der Vielheit (vgl. LG 22).

Um die Beziehung zwischen der Einheit der Gesamtkirche und der Vielfalt der Ortskirchen zu veranschaulichen, griff seinerzeit Bischof Kurt Koch das Bild der Ellipse mit den zwei Brennpunkten auf.41 Dem 3. Kapitel der dogmatischen Konstitution über die Kirche wurde auf Veranlassung von Papst Paul VI. eine «Nota explicativa praevia» als Interpretationsschlüssel beigegeben. Darin werden die Beziehungen innerhalb des Bischofskollegiums und zum Haupt als hierarchische Gemeinschaft (communio hierarchica) bezeichnet. Dieser communio drohen dem Bild der Ellipse entsprechend zwei Gefahren: Zentralismus und Partikularismus. Die Erfahrungen der Jahrzehnte nach dem Konzil haben gezeigt, dass die Gefahr des Zentralismus die grössere ist. Zum einen steht dem Papst mit der römischen Kurie ein starkes Instrument zur Verfügung, und zum andern ist die Bischofssynode bis anhin mehr Beratungsorgan des Papstes als ein Gremium des Bischofskollegiums.

b. Bischof – Patriarch – Papst

Das Konzil unterscheidet nicht zwischen dem primatialen und dem patriarchalen Dienst des Bischofs von Rom. Das Dekret über die katholischen Ostkirchen unterscheidet aber zwischen Teilkirchen des östlichen und des westlichen Ritus. Diese Teilkirchen (particulares Ecclesiae) sollen eigenständig bleiben, sie nehmen die gleiche Würde ein (Orientalium Ecclesiarum 3). Daher erklärt das Konzil feierlich (in Orientalium Ecclesiarum 5): «Die Kirchen des Ostens wie auch des Westens haben das volle Recht und die Pflicht, sich jeweils nach ihren eigenen Grundsätzen zu richten, die sie durch ihr ehrwürdiges Alter empfehlen, den Gewohnheiten ihrer Gläubigen besser entsprechen und der Sorge um das Seelenheil angemessener erscheinen.» Im Gesetzbuch für die lateinische Kirche (1983) heissen diese Teilkirchen noch Rituskirchen (Ecclesia ritualis), während sie im Gesetzbuch für die 21 orientalischen Kirchen (1990) als eigenberechtigte Kirchen (Ecclesia sui iuris) bezeichnet werden. Auch die lateinische Kirche ist gemäss ihrem Gesetzbuch eine solche eigenberechtigte Kirche (Ecclesia ritualis sui iuris). Die Vorsteher der Teilkirchen des östlichen Ritus heissen Patriarchen. Gemäss Orientalium Ecclesiarum 7 «ist ein Patriarch ein Bischof, dem im Rahmen des Rechtes, unbeschadet des Primates des Bischofs von Rom, die Regierungsgewalt über alle Bischöfe, die Metropoliten einbezogen, sowie über den Klerus und das Volk seines Gebietes oder Ritus zukommt».

In analoger Weise ist der Bischof von Rom Patriarch der Teilkirche des westlichen Ritus. Damit erstreckt sich die Verfassung der Kirche über drei Ebenen: die universale Kirche mit dem Papst, die eigenberechtigte Kirche mit dem Patriarchen, das Bistum bzw. die Eparchie mit dem Bischof. Unter dieser Rücksicht besteht die besondere ökumenische Bedeutung der unierten Ostkirchen darin, «dass hier eine mögliche plurale Gestalt der Beziehungen von Kirchen zum Bischof von Rom als dem Nachfolger Petri angezeigt ist».42

c. Getrennte Kirchen und kirchliche Gemeinschaften

Mit der Errichtung des Sekretariats für die Einheit der Christen und dem Entscheid, ökumenische Beobachter einzuladen, die über dieses Einheitssekretariat in das Konzil wirklich eingebunden waren, wurden die anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften von Anfang an nicht als ausserhalb des Konzils und damit ausserhalb der katholischen Kirche stehend wahrgenommen. So konnte das Konzil bereits bei der Formulierung des Selbstverständnisses der katholischen Kirche die anderen nicht mehr ausschliessen, nicht mehr aussen vor lassen (vgl. LG 15).

Es geht aber nicht nur um die einzelnen Gläubigen in den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, sondern um diese Kirchen und Gemeinschaften selbst (vgl. UR 3). Diese veränderte Sicht des anderen verändert auch das Selbstverständnis der katholischen Kirche und damit ihre Selbstbeschreibung. Ein wichtiges Moment dieser Selbstbeschreibung ist das berühmte «subsistit» in LG 8. «Elemente der Heiligung und der Wahrheit» sind zugleich Elemente der Kirche Christi. Im Sinne des ebenfalls vom Konzil eingeführten Kriteriums «Hierarchie der Wahrheiten» handelt es sich dabei um die Heilsmittel. Das Heilsziel hingegen kann auch ausserhalb der verfassten (römisch)-katholischen Kirche erlangt werden.

Noch ungelöst ist die Frage, wohl die eigentliche ökumenische Frage, wie die getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften so zusammenkommen können, dass die geglaubte Einheit der Kirche auch konkret Gestalt gewinnt. Diese Frage kann auch als Frage nach dem Modell von Kircheneinheit oder Kirchengemeinschaft gestellt werden.

Bei der ökumenischen Bewegung geht es aber nicht nur um eine Frage der Kirche nach innen, sondern auch nach aussen. Es ist nicht historischer Zufall, sondern theologisch notwendig, dass die ökumenische Bewegung und die neuzeitliche Missionsbewegung eng verbunden sind (vgl. UR 12).

Die Dringlichkeit der Frage nach der Einheit der Vielfalt von Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften wird vom Konzil noch dadurch unterstrichen, dass es die ökumenische Bewegung als Zeichen der Zeit versteht (vgl. UR 4).

3. Der Auftrag der Evangelisierung

Der dogmatischen Konstitution über die Kirche gemäss ist zu betonen, dass der Auftrag der Evangelisierung zunächst nicht an bestimmte Beauftragte in der Kirche, sondern an die ganze Kirche ergeht. Der Grund dafür ist, dass die Kirche als Volk Gottes verstanden wird, das vor der Unterscheidung in Amtsträger, namentlich Bischöfe, und Laien eine fundamentale Gemeinsamkeit hat (vgl. LG 32).

Diese Tätigkeit besteht zunächst nicht in einer Reihe von Aktivitäten, sondern im Wesen der Kirche und in den Vollzügen dieses Wesens, wie in LG 1 eindrücklich geschildert wird. Die Kirche als Zeichen und Werkzeug ist daher von ihrer Sendung her, von ihrem Auftrag der Evangelisierung her zu verstehen. Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute präzisiert dann noch: Die Kirche ist bei der Evangelisierung nicht nur eine lehrende Kirche, sondern auch eine lernende Kirche, wo sie «der besonderen Hilfe der in der Welt Stehenden, die eine wirkliche Kenntnis der verschiedenen Institutionen und Fachgebiete haben und die Mentalität, die in diesen am Werk ist, wirklich verstehen, gleichgültig, ob es sich um Gläubige oder Ungläubige handelt» (GS 44), bedarf.

4. Identität und Dialog. Die Gestalt des Gotteszeugnisses heute

Im Unterschied zu gegenwärtigen Versuchungen, Identität und Dialog gegeneinander auszuspielen und die Identitätssicherung über den Dialog zu stellen, hält das Konzil Identität und Dialog zusammen; mehr noch, es begründet die christliche Identität mit einem Dialoggeschehen. Denn die Offenbarung ist nicht Diktat, sondern Dialog (vgl. DV 2). Wie Gottes Offenbarung selber ist das Evangelium dialogisch, und deshalb ist auch der Evangelisierungsauftrag der Kirche dialogisch wahrzunehmen (vgl. GS 92). Das aber verlange in der Kirche im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe. Das verlange den Einbezug aller Christinnen und Christen sowie all jener, die Gott anerkennen und in ihren Traditionen wertvolle Elemente der Religion und Humanität bewahren, wie auch jener, die hohe Güter der Humanität pflegen, deren Urheber aber noch nicht anerkennen, selbst jener, die Gegner der Kirche sind und sie auf verschiedene Weise verfolgen. Damit liefert das Konzil die theologische Begründung des Dialogs mit Angehörigen anderer Religionen, aber auch mit Vertretern eines ausschliessenden Humanismus.

Dem Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen widmete das Konzil eine eigene Erklärung. Darin werden der Hinduismus, der Buddhismus und der Islam ganz knapp skizziert. Etwas ausführlicher wird das Judentum thematisiert. Angesichts der heillosen Geschichte des christlichen Antisemitismus und Antijudaismus kann die Bedeutung dieser Erklärung nicht hoch genug veranschlagt werden: «Nichtsdestoweniger sind die Juden nach dem Zeugnis der Apostel immer noch von Gott geliebt um der Väter willen; sind doch seine Gnadengaben und seine Berufung unwiderruflich. Mit den Propheten und mit demselben Apostel erwartet die Kirche den Tag, der nur Gott bekannt ist, an dem alle Völker mit einer Stimme den Herrn anrufen und ihm ‹Schulter an Schulter dienen› (Soph 3,9)» (NA 4). Heute würde man diese Aussage noch vertiefen können. Für Paulus ist die Einheit der Kirche ohne das Volk des ersten Bundes, ohne Israel, undenkbar. Für die ökumenische Bewegung heisst das, auch wenn sich alle christlichen Kirchen in einer Einheit der Kirche zusammenfinden würden, wäre die ökumenische Bewegung noch nicht zu ihrem Ziel gekommen, wäre ihre Katholizität noch nicht vollständig.

Im Zusammenhang des Dekretes über die Missionstätigkeit der Kirche wurde schon während des Konzils der Zusammenhang von Dialog und Mission erörtert. Ein Vierteljahrhundert später (1991) veröffentlichten der Päpstliche Rat für den Interreligiösen Dialog und die Kongregation für die Evangelisierung der Völker unter dem Titel «Dialog und Verkündigung» Überlegungen und Orientierungen zum Interreligiösen Dialog und zur Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi. Die Nr. 77 dieses Dokuments betont den inneren Zusammenhang von Dialog und Verkündigung. Daraus folgt, dass die Zeugnisgestalt des Glaubens dialogisch ist.

5. Von der Exklusion zur Wahrnehmung der pluralen modernen Welt

Das Erste Vatikanische Konzil meinte feststellen zu müssen, «die Pforten der Unterwelt erheben sich mit täglich grösserem Hass von überall her gegen das von Gott gelegte Fundament der Kirche, um – wenn möglich – sie zu zerstören». Damit verortete das Konzil sich und die Kirche nach diesem Konzil in einer Gegenposition zur Welt und insbesondere zur Moderne. Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese grundsätzliche Gegenposition überwunden und schliesst die Kirche nicht mehr ab, sondern verordnet ihr vielmehr, die plurale moderne Welt in ihrer Widersprüchlichkeit wahrzunehmen. Dabei geht das Konzil von den Erfahrungen der Menschen aus, insbesondere von ihren Betroffenheiten (vgl. GS 1): Widerhall finden, lateinisch «resonare», findet darin seinen Platz: das Herz der Kirche ist der Resonanzboden der Freuden und Leiden der Menschen. Und niemand wird dabei überhört. Dabei schliesst die Kirche auch die fremden Stärken und die eigenen Schwächen nicht aus (vgl. GS 44 und AG 9). Damit sind nicht nur Schwächen der Vergangenheit eingestanden, sondern auch eine Neuausrichtung ins Auge gefasst und schliesslich der eschatologische Charakter der Missionstätigkeit der Kirche angesprochen.

D. Gegenwärtige Herausforderungen

Fünfzig Jahre nach dem Konzil begegnet seine Rezeption Herausforderungen, welche die gesellschaftliche, kulturelle und kirchliche Entwicklung mit sich gebracht oder zumindest verschärft hat.

1. Deismus und ausgrenzender Humanismus

Die Bedingungen des Glaubens haben sich radikal verändert, und zwar in der Richtung, dass es möglich geworden ist, mit grosser Selbstverständlichkeit und ohne grosse Aufregung zu verursachen, auch nicht zu glauben. Das heisst, nicht mit Gottes Wirken zu rechnen oder überhaupt nicht mit Gott zu rechnen, die Transzendenzperspektive zu Gunsten einer Immanenzperspektive aufzugeben. Dabei möchte ich betonen: Die Gottesfrage darf nicht gegen binnenkirchliche Strukturfragen ausgespielt werden, denn Strukturfragen haben mit dem Glaubenszeugnis zu tun. Wenn die Kirche «sacramentum», Zeichen und Werkzeug ist, muss sie dazu auch taugen.

2. Schöpfungsordnung oder subjektive Authentizität?

Im ersten Beitrag habe ich auf die tiefgreifenden kulturellen Wandlungen der langen sechziger Jahre hingewiesen. In dieser Zeit erlebte die westliche Gesellschaft einen tief gehenden Wandel, eine Kulturrevolution43 und mit ihr und in ihr eine Religionskrise.44 Denn dieser Wandel war, wie gesagt, eine «expressive Revolution».45 Der Stellenwert einer vorgegebenen Ordnung wurde kleiner und der Wille zur Authentizität entsprechend grösser und die Selbstverwirklichung wichtiger. Das führte in der Kirche und in den Kirchen zu neuen Konfliktlinien namentlich zwischen der überlieferten Schöpfungsordnung und Postulaten subjektiver Authentizität bzw. Befindlichkeit.

Die Schöpfungsordnung sagt: «als Mann und Frau schuf er sie» (Gen 1, 27). Von dieser Ordnung her kann in der Ekklesiologie das männliche Amt der fraulichen Gemeinde so gegenübergestellt werden, dass es keinen Ort für die Frauenordination gibt. Dass in der Schöpfungsordnung Mann und Frau «ein Fleisch werden» (Gen 2, 24) kann für die Sexualität heissen, dass Onanie und Homosexualität ordnungswidrig sind; und für das Zusammenleben von Mann und Frau, die Gott zusammengefügt hat (Mt 19, 6), kann die ursprüngliche Unauflöslichkeit der Ehe postuliert (Mt 19, 8) und infolgedessen eine Wiederheirat als ordnungswidrig bezeichnet werden. Wird die Schöpfungsordnung noch mit Natürlichkeit näher bestimmt, ist eine Empfängnisverhütung nur mit natürlichen Methoden ordnungsgemäss.

Ich kann auf diese Fragen hier nicht eingehen. Ich will nur daran erinnern, dass in diesen Fragen heute auch unter katholischen Christen und Christinnen einander widersprechende Positionen vertreten werden, und ich möchte nachdrücklich betonen, dass dies mit dem epochalen Kulturwandel zu tun hat.

3. Strukturfragen

Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam es im Kontext der Konzilsrezeption zu einer bemerkenswerten Entwicklung synodaler Strukturelemente; es wurden Priesterräte und Seelsorgeräte eingerichtet, und allein in Europa wurden weit über hundert Diözesansynoden durchgeführt. Diese Synodalität sollte nach dem Willen des Konzils nachhaltig sein (vgl. CD 36). Synoden und Konzilien sind Instrumente des Dialogs, des Austauschs, der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Die Praxis der Kirche in den letzten Jahrzehnten zeigt aber, dass auf solche Instrumente verzichtet wird, dass überhaupt einsame Entscheide nach dem Muster von Befehl und Gehorsam dem Dialog und der dezentralen Entscheidungsfindung vorgezogen werden. Die Kirchenleitung sendet vor allem in diesem Bereich widersprüchliche Signale aus.

4. Ökumene

Das Konzil und auch die entsprechenden nachkonziliaren Texte unterscheiden zwischen kirchlicher Gemeinschaft und Kirche. Müsste nicht, um in der Ökumene voranzukommen, ernsthafter gefragt werden, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine andere christliche Glaubensgemeinschaft als Kirche anerkennen zu können? Und wenn eine Glaubensgemeinschaft als Kirche anerkannt wird, müsste dann nicht ernsthafter nach den Konsequenzen gefragt werden? Im Jahr 2001 wurde zwischen der (mit Rom unierten) Chaldäischen Kirche und der (von Rom getrennten) Assyrischen Kirche des Orients die gegenseitige Zulassung zur Eucharistie offiziell ermöglicht; als äusserer Grund wurde die äusserst schwierige Lage genannt. Gibt es nicht andere schwierige Lagen pastoraler Art? Gibt es nicht auch im Bereich der Ökumene «double-bind-messages», widersprüchliche Botschaften?

E. Die Rezeption bleibt allen aufgegeben

Die Rezeption des Konzils kann auch auf der Ebene der Pfarreien, bei ihren einzelnen Angehörigen und Gruppierungen noch ausstehend sein. Wer die Konzilstexte aufmerksam liest und entsprechende Fragen stellt, kommt den Mängeln leicht auf die Spur, wie die folgenden Beispiele veranschaulichen möchten.

1. Spiritualität und Bibel

DV 21: In den Heiligen Büchern kommt ja der Vater, der im Himmel ist, seinen Kindern in Liebe entgegen und nimmt mit ihnen das Gespräch auf. Und solche Gewalt und Kraft weist im Worte Gottes, dass es für die Kirche Halt und Leben, für die Kinder der Kirche Glaubensstärke, Seelenspeise und reiner, unversieglicher Quell des geistlichen Lebens ist. Darum gelten von der Heiligen Schrift in besonderer Weise die Worte: «Lebendig ist Gottes Rede und wirksam» (Hebr 4,12), «mächtig aufzubauen und das Erbe auszuteilen unter allen Geheiligten » (Apg 20,32; vgl. 1 Thess 2,13). – Holen wir unsere spirituelle Kraft aus der Heiligen Schrift?

2. Solidarität im Sinne der «Option für die Armen»

AG 12, 2: Wie also Christus durch die Städte und Dörfer zog, jederlei Krankheit und Gebrechen heilend zum Zeichen der kommenden Gottesherrschaft, so ist auch die Kirche durch ihre Kinder mit Menschen jeden Standes verbunden, besonders aber mit den Armen und Leidenden, und gibt sich mit Freuden für sie hin. Sie nimmt an ihren Freuden und Schmerzen teil; sie weiss um die Erwartungen und die Rätsel des Lebens, sie leidet mit in den Ängsten des Todes. Denen, die Frieden suchen, bemüht sie sich, in brüderlichem Gespräch zu antworten, indem sie ihnen Frieden und Licht aus dem Evangelium anbietet. – Wie steht es um die Solidarität unserer Pfarreien und unserer Gruppierungen mit den Armen und Leidenden?

3. Liturgie

SC 14: Die Mutter Kirche wünscht sehr, alle Gläubigen möchten zu der vollen, bewussten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern geführt werden, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das christliche Volk, «das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, der heilige Stamm, das Eigentumsvolk » (1 Petr 2,9; vgl. 2,4-5) kraft der Taufe berechtigt und verpflichtet ist.

SC 48: So richtet die Kirche ihre ganze Sorge darauf, dass die Christen diesem Geheimnis des Glaubens nicht wie Aussenstehende und stumme Zuschauer beiwohnen; sie sollen vielmehr durch die Riten und Gebete dieses Mysterium wohl verstehen lernen und so die heilige Handlung bewusst, fromm und tätig mitfeiern, sich durch das Wort Gottes formen lassen, am Tisch des Herrenleibes Stärkung finden. – Sind unsere Gottesdienste so gestaltet, dass sie als Kraftquelle erfahren werden können?

F. Vom Ersten zum Zweiten Vatikanischen Konzil

Ein abschliessender Blick in das «Katholische Gesangbuch » kann uns zeigen, dass vom Ersten zum Zweiten Vatikanischen Konzil ein grosser Schritt getan wurde.

Er kann dabei zugleich zeigen, wie beide zusammengehalten werden können, auch wenn uns in der heutigen Situation das eine mehr anspricht als das andere:

1. Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land, aus ewgem Stein erbauet von Gottes Meisterhand.

5. Sein wandernd Volk will leiten der Herr in dieser Zeit; er hält am Ziel der Zeiten dort ihm sein Haus bereit.46

Aus Platzgründen werden im Folgenden mehrheitlich Textstellen aus den Konzilsdokumenten nicht wie im Ursprungsmanuskript zitiert, sondern nur auf entsprechende Abschnitte verwiesen.

41 Kurt Koch: Primat und Episkopat in der Sicht einer trinitätstheologischen Sicht, in: Libero Gerosa u. a. (Hrsg.): Patriarchale und synodale Strukturen in den katholischen Ostkirchen. Münster 2001, 12.

42 Guido Bausenhart, I. Die «communio hierarchica» in der Verantwortung für die Katholizität der Kirche, in: Bernd Jochen Hilberath, Peter Hünermann (Hrsg.): Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 5. Freiburg i. Br. 2006, 176.

43 Arthur Marwick: The sixties: cultural revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958– c.1974. Oxford 1998.

44 Hugh McLeod: The Religious Crisis of the 1960s. New York 2007.

45 Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a. M. 2009, 821. 46 Katholisches Gesangbuch, Nr. 506; 1. Strophe von Joseph Mohr 1874, 2. Strophe von Hans W. Marx 1972 (1975).

Rolf Weibel

Rolf Weibel

Dr. Rolf Weibel war bis April 2004 Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung» und arbeitet als Fachjournalist nachberuflich weiter