Die Achtsamkeit einüben

Beobachtungen an seinen Mitmenschen und an sich selbst haben St. Gallens Generalvikar Guido Scherrer zu Beginn des neuen Jahres veranlasst, einen hehren Vorsatz zu fassen.

Eine Person läuft blindlings auf mich zu. Ich kann gerade noch ausweichen. Sie war so damit beschäftigt, auf ihrem Handy herumzutippen, dass sie nicht bemerkte, wohin sie eigentlich läuft. Eine andere Beobachtung mache ich vom Laufband im Fitness-Studio aus. Nebenan macht sich ein weiterer Läufer bereit, das Training zu beginnen. Zuerst aber sucht er wohl auf seinem Handy die passende Unterhaltung. Das dauert richtig lang. Mir scheint, es vergehen Minuten bis er endlich fündig wird und sein Training beginnen kann. Dazu passt auch die Wahrnehmung, wie oft entgegenkommende Autofahrer am Handy herummanipulieren. Das Handy mit all seinen Apps und Nachrichten bestimmt ganz schön und kann auch ablenken. Die News und die Mails zu lesen, das WhatsApp anzuschauen, den Kalender zu gebrauchen, den Fahrplan zu studieren: All dies lässt sich fast mit einer Hand erledigen. Manchmal eben nebenher, wo auch immer und wann auch immer. All diese Beobachtungen zeigen: Viele tun mehrere Dinge gleichzeitig und nebenbei.

So nebenbei … Wenn ich zu Fuss unterwegs bin, im Zug sitze und etwas lese, mir in einer Sitzung noch etwas in den Sinn kommt, was ich vergessen könnte oder jetzt einfach wissen müsste, ertappe ich mich auch dabei, dass ich zum Handy greife und damit eine Sache gleichzeitig mit einer anderen tue. Ich will ja nur schnell nachschauen. Und dann bemerke ich noch, dass eine wichtige, dringliche Meldung geschickt wurde. Und da wird noch ein nicht angenommener Anruf angezeigt. Das passiert halt, weil ich meistens mein Handy auf lautlos gestellt habe.

Aber es sind da noch andere Situationen: Ich hänge einem Gedanken nach und sage nebenher noch «Hallo». Nicht alle getrauen sich, kritisch nachzufragen, wo ich mit meinen Gedanken bin. Aber dieses Wachgerütteltwerden tut gut. Es ist wie eine Mahnung: Halt! Es geht auch anders.  Beschränke dich, konzentriere dich, tue nur eines, nicht mehreres gleichzeitig. Für mich ist das auch eine Einladung: Jetzt einfach hier zu sein, dem Gegenüber ganz konzentriert zuzuhören, seine Fragen zu hören, deutlich zu machen, dass ich da bin und Zeit habe.

Manchmal fällt es mir schwer, bei einer Tätigkeit zu bleiben. Wenn's nicht läuft, nehme ich gerne etwas Anderes zur Hand. Die Gefahr ist, dass es plötzlich chaotisch wird – nicht nur auf dem Pult. Dann liegen zu viele Sachen nebeneinander, untereinander, übereinander – ich verliere den Überblick. Eine andere Herausforderung ist es, am Altar zu stehen, aus dem Messbuch heraus vorzubeten und mit den Gedanken nicht abzuschweifen. Plötzlich muss ich mich fragen, wo und wie weit bin ich eigentlich?

Meine Beobachtungen während der vergangenen Tage bei anderen und bei mir selber machen deutlich, dass das Einüben von Achtsamkeit für mich eine dringliche Aufgabe ist, die ich jetzt Anfang Jahr konsequent angehen will. Sie kann gelingen, wenn ich Aufgaben nicht nebeneinander, sondern hintereinander erledige; wenn ich bewusst etwas beende und an seinen Ort versorge, bevor ich mich von etwas Anderem in Beschlag nehmen lasse. Auch bin ich aufmerksamer, wenn ich während des Lesens der Zeitung die Musik ausmache und mich auf das Lesen konzentriere. Im Gegenzug wird die Musik zu einem Hörerlebnis, das sich nachhaltig einprägt, wenn ich mich ihr allein widme. Und dann gibt es ja auch neben dem Handy und seinen Apps noch Papier und Bleistift, dort kann ich während Sitzungen schnell etwas aufschreiben, was ich nicht vergessen darf. Mein Vorsatz: Nur eines tun, nicht Verschiedenes gleichzeitig − ich bin gespannt, ob ich lernfähig bin.

Guido Scherrer


Guido Scherrer

Guido Scherrer (Jg. 1960) wurde nach verschiedenen Tätigkeiten in der Pfarreiseelsorge im Bistum St. Gallen 2003 Regens. Anfang 2016 erfolgte die Ernennung zum Generalvikar. Weiter gehört Scherrer der Herausgeberkommission der SKZ an.