Die Arbeiterfrage als Herausforderung

Charlie Chaplin in «Modern Times», 1936. (Bild: Wikimedia)

 

«Was machst du?», fragte ein Bekannter, als ich an meiner Dissertation schrieb. «Ich lese.» − «Und was arbeitest du?», meinte er. Für ihn ist Arbeit etwas Körperliches und da zum Geldverdienen. Ähnliches erfahren Hausfrauen und -männer oder Pensionierte, die oft als «Nichtarbeitende» gelten. Hier sind wir geprägt vom Arbeitsverständnis der ersten und zweiten industriellen Revolution. Angesichts von Industrie 4.01 ist es wertvoll, unser Verständnis von Arbeit und ihre Gestaltung zu prüfen. Dies heisst zu fragen, wie wir den Menschen und sein Verhältnis zur Arbeit sehen.

Die erste und zweite industrielle Revolution führt im 19. Jahrhundert zu einem Wandel des Arbeitsverständnisses. Weg von der bisher bäuerlichen und kleingewerblichen Kultur, wo die ganze Familie miteinander für den Lebensunterhalt arbeitet, wird Arbeit individualisiert, nur auf Männer bezogen und von Fabrikalltag, Arbeitszeiten, Anstellungsverträgen mit ihren neuen Abhängigkeiten und Geldlohn geprägt. Die Fremdbestimmung durch Arbeit nimmt zu. Der Mensch wird – wie «Modern Times» von Charlie Chaplin zeigt – zu einer Ressource im industriellen Prozess.

Dies verändert das Leben. Die Menschen bewegen sich vom Land in die Stadt, verlieren häufig ihre Heimat und so die Unterstützung und den Zusammenhalt. Lange Arbeitstage, miserable Arbeitsbedingungen und Krankheiten schaffen neue Formen von Armut. Darauf reagiert auch die Kirche. Doch sie merkt, dass eine individuelle Hilfeleistung vor Ort nicht ausreicht gegen die industrielle Denkhaltung. Darum betont «Rerum novarum», die erste Sozialenzyklika und Geburtsurkunde der katholischen Soziallehre 1891, dass Wirtschaften für den Menschen da sein muss und nicht umgekehrt. Dies ist auch politisch zu regeln. Denn Arbeit und Arbeitnehmende sind mehr als nur ein Gut oder Produktionsmittel. In der Arbeit verwirklicht sich der Mensch und entdeckt seine Würde – auch als Ebenbild Gottes, wie 1981 Papst Johannes Paul II. in «Laborem exercens» zusammenfassend hervorhebt. Die Katholische Arbeiterbewegung (KAB), gegründet 1899, verkörpert dieses Menschenbild in der Praxis. Im Kern ist sie eine Bildungsbewegung, die diesen umfassenden Sinn der Arbeit im Alltag umsetzt. So thematisierte die Soziale Arbeiterschule in den 1950er-Jahren nicht nur Ethik, sondern auch Volkswirtschaftslehre, Recht und staatspolitische Abläufe. Auch «Arbeiterspiele», Kerngruppen, soziale Seminare und das Sozialinstitut (seit 2017 «ethik22») zeigen, wie aktuelle Fragen mit gesellschaftlicher Analyse, christlichen Wertvorstellungen und gelebter Spiritualität verbunden werden.

Die Arbeitswelt verändert sich. Wichtig ist, dass wir Menschen diese gestalten und regeln. KAB und Soziallehre zeigen, dass wir die Nöte und Ungerechtigkeiten zuerst sehen, dann analysieren und mit unserem, dem christlichen Menschenbild, verbinden müssen, um verantwortungsvoll handeln zu können. Denn nur wer sich auf die Welt einlässt und um Zusammenhänge und Fakten weiss, kann sich auch für Gerechtigkeit einsetzen und die Zukunft gestalten.

Thomas Wallimann-Sasaki*

 

1 Industrie 4.0 bezeichnet die umfassende Digitalisierung der industriellen Produktion in Zukunft. Sie soll mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik verzahnt werden.

* Dr. Thomas Wallimann-Sasaki (Jg. 1965) studierte Theologie in Chur, Paris, Berkeley (USA) und Luzern, wo er bei Hans Halter promovierte. Seit 1999 leitet er ethik22: Institut für Sozialethik (vormals Sozialinstitut der KAB). Er ist Präsident ad interim von Justitia et Pax.