Der Zauber der Erinnerung

«Schon war der grosse Saal geheimnisvoll verschlossen, schon waren Marzipan und braune Kuchen auf den Tisch gekommen ...» – Weihnachten im Hause Buddenbrook weckt Kindheitserinnerungen.

Thomas Mann (1875–1955), von seinen Kindern in einer Mischung aus Bewunderung und seltsamer Distanz «der Zauberer» genannt, ist einer der Autoren, die in eigentlich allen Werken nichts anderes machen, als biografisch Erlebtes zu verarbeiten und zu bewerten und es dann in neuer Gestalt zu einem Leben erblühen zu lassen, dem man die Herkunft kaum mehr anmerkt. Sei es der lange Aufenthalt seiner Frau im Sanatorium im Bündnerland («Der Zauberberg»), sei es ein Kurzurlaub in Venedig («Der Tod in Venedig»), sei es die Kinderzeit in Lübeck («Buddenbrooks»). Die Familie nahm es ihm manchmal übel, wie er Verwandte und Angestellte zu neuem, oft auch boshaft erdachtem Leben «wiederauferstehen» liess, wir als Leser aber verdanken ihm so Einblicke ins grossbürgerliche Leben einer nun längst vergangenen, durch die beiden grossen Kriege für immer verlorenen Welt.

In «Buddenbrooks» (1901)1 gibt es neben der mit grossem Atem erzählten Hauptthematik des Verlustes an Schaffenswille und Lebenskraft in einer Unternehmerfamilie unzählige, wie kleine Miniaturen hingeworfene «Geschichten am Rande». Für fünf bis zwanzig Seiten erblüht eine Person oder eine Situation detailliert zum Leben, um nachher abzutauchen und dem Fluss der Erzählung zu weichen. So etwa die Erzählung, wie im Hause Buddenbrook Weihnachten gefeiert wurde. Anlässlich einer Aktion der Katechetinnen im pastoralen Grossraum St. Gallen habe ich sie vor etwa acht Jahren vor der Abtwiler Krippe im Kerzenlicht einer Gruppe vorgetragen, die bereit war, sich auf die Mann'schen Monstersätze einzulassen.

Von Ritualen an Heiligabend

Das Erzählte muss etwa die Zeit um 1885 wiedergeben. Und es wird ausschliesslich aus der Optik des unglücklichen Stammhalters Hanno erzählt. Kaum ein Leser kann sich der Faszina- tion verschliessen, ging und geht es uns doch ganz ähnlich mit unseren Erinnerungen, wie bei uns der Heilige Abend im Rahmen der Familie gefeiert wurde. Da ist zum einen das gleichbleibende Ritual: Wenn es eine familiäre Liturgie gibt, von der man nur ungern – und dies auch noch, wenn man den Kinderschuhen längst entwachsen ist – abweichen will, dann dieser Abend. Es ist auch die eigentümliche Mischung, dass etwas Geheimes vorbereitet und aufgeführt wird, von dem aber alle, auch die Kinder, genau wissen, wie und wann es geschehen wird.

Das Wunder wird sich wiederholen

Tauchen wir darum in die Erzählung ein. «Die Vorzeichen mehren sich …» (S. 528) – so ahnungsvoll beginnt das Kapitel. Hanno beobachtet aus Kindersicht, durch Türspalten und von den oberen Stöcken her, wie die Dienerschaft die Räume richtet und verpackte Geschenke herumgetragen werden. Und er atmet Düfte ein, sowohl auf den Gassen Lübecks wie im eigenen Haus, die die Sicherheit geben, dass sich das Wunder wiederholen wird. Wenn Hanno Buddenbrook, der «Letzte seiner Art», zum Überleben nicht mehr geschaffen, einmal als glückliches Kind gezeichnet wird, dann hier im Eintauchen ins Ritual. Und gleichzeitig ist dieses ein erstarrtes, denn Hanno ist das einzige Kind darin: «Übrigens war kaum Gefahr vorhanden, diese Stimmung möchte durch einen Laut jugendlichen Übermutes zerrissen werden. Ein Blick hätte genügt, zu bemerken, dass fast alle Glieder der hier versammelten Familie in einem Alter standen, in welchem die Lebensäusserungen längst gesetzte Formen angenommen haben» (S. 530).

Vom Glanz des Bescherungssaales

Es fällt auf, wie bürgerlich und patriarchal die Welt dieses Rituals ist. Die Dienerschaft arbeitet, die bestellen Chorknaben singen, die Erwachsenen betreten würdevoll die Räume und das Familienoberhaupt öffnet die Tür zum Saal der Bescherungen. Eine kleine Schuppe des Weihnachtskarpfens landet in seinem Portemonnaie, um den Wohlstand des nächsten Jahres sicherzustellen. Hanno aber landet völlig überfressen vom gewaltigen Mahle in seinem Bett, erhält von der Kinderfrau kohlensaures Natron eingeflösst und blickt zurück: «während er stillliegend sich der segensvollen Wirkung des Natrons überliess, entzündete sich vor seinen geschlossenen Augen der Glanz des Bescherungssaales aufs Neue» (S. 547).

Lassen auch wir uns bezaubern – von unseren Erinnerungen, unseren Familiengeschichten.

Heinz Angehrn

 

1 Alle Zitate aus: Mann, Thomas, Buddenbrooks. Frankfurt 1960.


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.