Der Wunsch nach sozialer Anerkennung

Kaum eine Minderheit in der Schweiz bewegt die Gemüter mehr als die hierzulande lebenden Musliminnen und Muslime. Wie ist ihnen aber in den verschiedenen Auseinandersetzungen zumute?

 

Gemein scheint allen Musliminnen und Muslimen ihre Freude über die relative materielle Sicherheit, die sie in der Schweiz geniessen dürfen. Dies schliesst gute Arbeitsmöglichkeiten, eine beachtliche Infrastruktur, gesundheitliche Versorgung, kostenlose Bildung, stabile politische Verhältnisse, Sicherheit vor Willkürherrschaft und vieles mehr ein. Zudem freuen sich manche Subgruppen der muslimischen Einwanderer darüber, dass sie in der Schweiz eine Glaubensfreiheit vorfinden, die ihnen in ihren Herkunftsländern kaum gewährleistet war. Beispiele dafür sind die afghanischen Schiiten, die Anhänger der Ahmadiyya-Gemeinschaft, die Aleviten und die Sufi-Orden.

 

Wie öffentliche Debatten wirken

Umso unverständlicher ist für die Musliminnen und Muslime, wenn dieser hochgeschätzte Frieden durch Streitigkeiten über ihre Religion getrübt wird. Während viele von ihnen kulturelle Praktiken wie Zwangsehe oder Gewalt gegen Frauen ebenfalls verabscheuen, sind manche anderen Streitpunkte, etwa über Kopftuch oder Minarette, für sie kaum verständlich. Zudem kommen ihnen Debatten über höchst seltene Phänomene wie das Tragen der Burka schlicht als absurd vor. Öffentliche Debatten und Massnahmen, die den Charakter eines Islam-Bashing aufweisen, werden von vielen Musliminnen und Muslimen als Affront sowie als Zeichen dafür gedeutet, dass sie in der Schweiz nicht willkommen sind. Während die Einwanderer der ersten Generation in der Regel die Gewohnheit pflegen, sich den Anforderungen des Staates zu fügen, sind die Musliminnen und Muslime der Zweit- und Drittgeneration, die in der Schweiz und mit Werten wie Freiheit des Glaubens, der Weltanschauung und des Lebensstils sozialisiert sind, weniger geduldig. Schlägt so eine Ungeduld in Ressentiment um, könnten sich die betroffenen Jugendlichen von der hiesigen Gesellschaft entfremden und sich womöglich sogar radikalisieren. Ähnlich reagieren die Konvertiten, die sich häufig über Nacht als Fremde im eigenen Land fühlen. Sie verstehen nicht, weshalb ihnen das «Schweizersein» angezweifelt wird, weil sie einen neuen oder anderen Bezug zur Metaphysik entwickelt haben.

Drehten sich die Vorwürfe gegenüber Musliminnen und Muslimen früher hauptsächlich um die vermeintliche Unvereinbarkeit ihres Benehmens mit den hiesigen Normen, so kam im neuen Jahrtausend auch die jihadistische Gefahr hinzu. Dies führt zu einer doppelten Belastung dieses Teils der Bevölkerung. Einerseits stehen sie im Generalverdacht, mit den Jihadisten im gleichen Boot zu sitzen. Andererseits aber sind sie äusserst beunruhigt, dass sie ihre Kinder an radikale oder gar jihadistische Gruppierungen verlieren könnten. Gekränkt werden die Musliminnen und Muslime aber auch, weil sie sich häufig nicht als Individuen, sondern als Mitglieder eines monolithischen Kollektivs wahrgenommen fühlen. Egal, wie man zur Religion und Religiosität steht, man wird immer als gläubiger und praktizierender Muslim angesehen. Diese als «Islamisierung der Muslime»1 bezeichnete Umgangsform schreibt den aus islamischen Kontexten stammenden Menschen eine Zugehörigkeit zu, welche sämtliche Unterschiede in Bezug auf die Glaubensrichtung, Ethnizität, soziale Schichtzugehörigkeit, Lebensformen und den individuellen Grad der Religiosität wegwischt. Dieser Haltung entspringt in extremen Fällen die Vorstellung vom sogenannten homo islamicus2, nämlich die Auffassung, wonach das Denken und Handeln sämtlicher Musliminnen und Muslime durch und durch nach einem essenzialistischen Verständnis des Islam ausgerichtet ist.

Was für die Majorität nicht sofort ersichtlich ist, ist, dass viele Musliminnen und Muslime allem voran davor Angst haben, dass ihre Kinder und Enkelkinder ihre kulturelle Identität verlieren.3 Deshalb wenden sie sich gerne den Moscheevereinen zu, denn diese sind für sie wie ein Stück Heimat und tragen dazu bei, dass sie sich in der Schweiz heimisch fühlen. Die Moscheen werden auch als Gemeinschaftszentren benützt, in denen Sitzungen und Vorträge abgehalten, Religions- und Sprachunterricht erteilt und Feierlichkeiten organisiert werden. Insbesondere während des Monats Ramadan herrscht in den Moscheen Hochbetrieb. In den Genuss des abendlichen Iftar-Essens kommt jeder, der die Moschee besucht. Von dieser Möglichkeit machen gelegentlich auch die Sans-Papiers Gebrauch. Gebete vor und nach dem Essen verleihen den Zusammenkünften eine spirituelle Aura.

 

Wie Teilhabe gestaltet wird

Fernab den erhitzten und teils unsachlichen medialen Islamdebatten schreiten die Aushandlungen zwischen den muslimischen Gemeinschaften und den Behörden auf lokaler, kantonaler und Bundesebene ruhig, aber kontinuierlich voran. Diese Erfolge sind nicht zuletzt der folgenden Entwicklung geschuldet. Obwohl muslimische Gemeinschaften hinsichtlich der Ethnizität und der Glaubensrichtung ein stark fragmentiertes Gesamtbild abgeben, haben die Bemühungen mancher visionärer Aktivisten dazu geführt, dass muslimische Gemeinschaften langsam in Form von Dachverbänden zusammenrücken. Dabei gelten die Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich (VIOZ) sowie die Union Vaudoise des Associations Musulmanes (UVAM) als Vorreiter. Zwar ist durch Entstehung solcher Vertretungsstrukturen eine wichtige Voraussetzung der öffentlich-rechtlichen Anerkennung der muslimischen Gemeinschaften in einigen Schweizer Kantonen erfüllt worden. Dennoch bleibt eine solche Anerkennung in absehbarer Zeit politisch kaum durchsetzbar. Denn die Hürden für eine solche Anerkennung sind sowohl formal als auch politisch sehr hoch. Zudem wären die Erfolgsaussichten solcher Bemühungen ungewiss.4

Auf der Suche nach Lösungen zur Regelung des Verhältnisses des Staates zu nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften hat die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich 2018 ein Forschungsteam der Universitäten Luzern und Freiburg i. Ü. damit beauftragt, über die Befindlichkeit sowie Binnenperspektive dieser Gemeinschaften eine Studie durchzuführen. Die Studie kommt in Bezug auf muslimische Gemeinschaften u. a. zum Schluss, dass eine Anerkennung des Islams zwar ein wichtiges Anliegen der Befragten sei. Dabei stünde aber eher die soziale Anerkennung im Vordergrund als die öffentlich-rechtliche. Die Studie verweist aber auch auf die prekäre finanzielle Lage der Vereine. Die knappen Ressourcen führten zu einer mangelhaften Professionalität und verunmöglichten zudem in unabhängigen Vereinen die Festanstellung eines gut ausgebildeten Imams. Das entstehende Vakuum werde nicht selten von fragwürdigen Wanderpredigern gefüllt. Selbst bei den Vereinen, bei denen Imame von einer muslimischen Metropole zugesandt und finanziert werden, sei die Wirkung der Imame aufgrund ihrer fehlenden oder mangelhaften Kenntnisse der hiesigen Verhältnisse wie der jeweiligen Landessprache unbefriedigend. Wie eine Studie der Universität Zürich 2009 aufzeigte, bejaht die Mehrheit der befragten Musliminnen und Muslime und schweizerischen Institutionen eine Ausbildung von Imamen und islamischen Religionslehrern in der Schweiz.5 Aus organisatorischen Gründen scheint die Institutionalisierung eines solchen Vorhabens kurzfristig allerdings als nicht sehr realistisch.
Der grösste Fortschritt in der Kooperation zwischen den Behörden und den muslimischen Gemeinschaften ist im Bereich der Seelsorge erzielt worden. Im Kanton Zürich wurde 2017 der Verein «Qualitätssicherung der Muslimischen Seelsorge in öffentlichen Institutionen» (QuaMS) gegründet, um die Seelsorge etwas systematischer und nachhaltiger zu gestalten. Des Weiteren lancierte der Bund 2016 im Testbetrieb in Zürich-Altstetten ein Pilotprojekt, in dem drei muslimische Seelsorgende ein Jahr lang die neu eingetroffenen Asylbewerber betreuten. Es wurde vom Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg i. Ü. begleitend evaluiert.
Die Zusammenarbeit der muslimischen Gemeinschaften mit den Behörden wird in der Zukunft u. a. auch davon abhängen, wie stark die in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen Musliminnen und Muslime sich für ihre Religion einsetzen. Denn solche Individuen werden a) gut integrierte Bürger sein, b) die jeweilige Landessprache beherrschen und sich mit den Schweizer Verhältnissen auskennen, c) sich über die ethnischen Grenzen hinwegsetzen, d) als politische Subjekte sich für eine Anerkennung ihrer Eigenart einsetzen und e) global denken und handeln.

Amir Sheikhzadegan

 

 

1 Amirpur, Katajun, Muslime erwünscht – Europa und der Islam. Aus der Reihe «Die Zukunft Europas» (6), Redaktion: Ralf Caspary. Sendung: Sonntag, 29. April 2012, 8.30 Uhr, SWR 2.

2 Behloul, Samuel M., Homo Islamicus als Prototyp des Fremden, Swissfuture-Magazin 11 (2011), 8–11.

3 Schiffauer, Werner, Vom Exil- zum Diaspora-Islam. Muslimische Identitäten in Europa. Soziale Welt, 55/4 (2004), 347–368.

4 Baumann, Martin / Schmid, Hansjörg u. a., Schlussbericht Regelung des Verhältnisses zu nicht-anerkannten Religionsgemeinschaften Untersuchung im Auftrag der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Luzern/Freiburg i. Ü. 2019, 10.

5 Rudolph, Ulrich u. a., Imam-Ausbildung und islamische Religionspädagogik in der Schweiz. Schlussbericht. Eine Untersuchung im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» (NFP 58), 2009. Unter: www.nfp58.ch

 


Amir Sheikhzadegan

Dr. Amir Sheikhzadegan (Jg. 1956) studierte Soziologie, Ethnologie und Informatik an den Universitäten Teheran und Zürich. Nach der Promotion in Soziologie an der Universität Zürich folgten Tätigkeiten als Dozent und Sozialforscher an den Universitäten Zürich und Freiburg i. Ü. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen politischen Islam, spirituelle Transformation, muslimische Seelsorge und Identität.

 

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