«Am Tag, als die Kirche zuging...»

Wie eine aktuelle Stimme zum Geschehen eines Gottesdienstes liest sich die Schilderung einer paraliturgischen Szenerie.1 Geschrieben hat sie Romana Ganzoni. Die Szene führt ins Fitnesscenter, in dessen Welt geübt, körpergestylt und gelitten wird. Mit seinen Reflexionen tritt Stephan Schmid mit Romana Ganzoni in einen Dialog.

Es sei vorausgenommen: Der Schriftstellerin Romana Ganzoni aus Celerina im Engadin ist ein schillernder Text gelungen, in dem sie die Welt katholischer Riten mit der Welt der Suche des modernen Individuums nach dem perfekten Körper verwebt und wohl damit ihre Art Körper-Kult- und Religionskritik beschreibt; hier in Auszügen zitiert.

«Vor der Hantel sind wir alle gleich»

«Am Tag, als die Kirche zuging, ging das Fitnesscenter auf. Die Metaphysik wechselte die Seite. ‹Exerzitien für Götter ohne Gott. Flagellanten angenehm.› Man ist hier traditionsbewusst. Bewährt sadomasochistisch zelebrieren die Fitness-Puritaner Anbetung und Vernichtung des mageren Fleisches. Wer richtig trinkt und isst, acht Stunden schläft, die Turnschuhsohlen sauber hält, drei bis fünf Mal wöchentlich den Gottesdienst besucht, gerne auch die Frühmesse als Akt der Reinigung für den Werktag, wer den Katechismus und die allgemeine Lehre befolgt, die Gewichtsscheiben verräumt wie einst die Gesangsbücher nach der Predigt, der wird Teil des Olymps und der Prozession dahin, für 980 Franken im Jahr (…).

Die Trinkflaschen tragen sie vor sich her wie eine Monstranz. Das Wasser darin ist geweiht mit der Ampulle L-Carnitin für purifizierendes Schwitzen … Den Perlen des Rosenkranzes nach: eins, zwei, drei. Rhythmus freut den Körper, Disziplin stärkt ihn. Ora et labora … Eins, zwei, drei, ich schau hinauf zu dir, Deckenleuchte, du ewiges Licht für diese Übung (…). Er beichtet, wenn er nur zwei Serien geschafft hat. Er ruft die Heilige Dreifaltigkeit an – Smartphone, Waage, Badge –, ihm zu vergeben. Die sagt nichts.

Die Community vergibt. Schon im ‹Hey› und ‹Hallo› beim Eintritt steckt das Ego te absolvo, nach dem der Sünder sucht. Hier weiss jeder, manchmal versagt auch ein Gott. Im Fitnesscenter steht man zusammen. Ich an Ich, Fetisch Fleisch an Fetisch Fleisch, verschworen wie die Urchristen (…). Die Guten und die Bösen, geistig Arme, verlorene Söhne, Martas, Marias, die Blinden und die Lahmen (mit Physiotherapeut), Huren, Zöllner, Philister, Frömmler, die Liga der Anorektischen mit Hoffnung auf Vision (…). Lasst uns als Gemeinschaft der Gläubigen den Dämon überwinden. Der Exorzismus beginnt zum höllischen Sound von Radio Energy. Lasst uns opfern auf dem ambulanten Bankaltar, nach der Langhantel greifen, dem neuen Joch. Wir beugen das Knie beim Squatten. Wir feiern die Kreuzheben, mit Deadlifts sind wir dem Tode nah (…) Nicht nur Maca wird täglich auf die Zunge gelegt wie eine Hostie, gespült mit dem veganen Smoothie, es darf auch Kreatin sein oder eine rote Pille. Nach dem Gottesdienst legen die Götter einen Franken in die Kasse bei der Kanzel, sie zücken den Messlöffel mit dem Proteinpulver ihres Vertrauens, lassen es im Kelch verrühren. Das Geräusch des Mixers wird zum transformierenden Glockenklang, der Personal Trainer an der Theke ministriert. Die Transsubstantiation, die die magische Suppe aus dem Knochenmehl Jesu und Quellwasser in neue Masse übersetzt, knistert im Fleisch dort, wo Belastung und Schmerz wirken. Dort, wo der Bluttransport sichtbar ist, wo die Adern hervortreten, verwandelt sich das lebendige Fleisch (…).

Der Blick des Olympiers ist jetzt rein, er schlendert mit lauterem Herzen zum Ausgang. Er hat im Training Vergänglichkeit und Vanitas anerkannt (…). Er ist connected mit sich, er spürt sich, er kann jeden Muskel ansteuern. Das nimmt ihm keiner. Gepanzert wie ein Ritter, trotzt er aller Unbill. Gegen das Erdbeben in Amatrice kann er nichts tun, nichts gegen das Elend in Aleppo. Das Drehkreuz beim Ausgang segnet ihn. Komm gut heim, komm bald wieder!»

Hingebungsvoll den Körper stählen und feiern

In meinen Augen bleibt der Subtext bei Romana Ganzoni schillernd. Ist es das, was sie sagen will: Hier schreibe ich nieder, was ich selber an Faszination erfuhr, als ich mich noch in alten Zeiten im katholischen Milieu befand? Ihre Beobachtung trifft sich mit jener des Philosophen Peter Sloterdijk, der von den Kirchen als «mentalen Fitnesscentern» sprach.2 Kirchen also, eingetaucht in die Vielfarbigkeit göttlicher Atmosphäre, unterwegs mit sonntäglichem Trainingsprogramm? So wie es der Passauer Pastoralplan aufnimmt: «Wer in Gott eintaucht, taucht neben dem Menschen auf.»

Dass sich gegenwärtig viele Menschen wie in einer Zitterpartie befinden und kaum zur Ruhe kommen können, reflektiert der Text von Ganzoni. Kritisch zu sehen ist dabei ihre Kategorisierung von Personen im Fitnesscenter als Pseudo-Ritualisten, wie eben die Kategorisierung der katholischen Lebenswelt, der sie sich karikierend und satirisch nochmals annähert. Kann solcher Zugang für die Wahrung religiöser Toleranz auf die Dauer vorteilhaft sein? Anderseits nimmt die Schriftstellerin ihre eigene Erfahrung und vertiefte Kenntnis der katholischen Ritual-Welt – von Anbetung, Monstranz, Rosenkranz bis zu Hostie, Transsubstantiation – in ihre kritische Anschauung des Geschehens im Fitnesscenter und entlässt am Ende die Leute und Lesenden mit einem Wink hinaus zu den Katastrophen und Kriegen. Dann erst fällt nach der Drehtür der Vorhang bis zum nächsten Mal … so und ähnlich durchaus vergleichbar mit Erfahrungen in kirchlichen Lebenswelten. In dieser einfallsreichen Darstellung meine ich einen Vorgang zu erkennen, der das Lebensgefühl des ehemals katholischen Milieus aufnimmt und karikierend-satirisch weiterführt. Gleichzeitig musste ich vorerst klären, inwieweit sich im Text Ritual-Nennungen (inkl. der Brotgestalt Hostie) rechtfertigen lassen, ohne das seit Jahren gewandelte Eucharistieverständnis ebenso zur Kenntnis zu nehmen. Der Text von Romana Ganzoni atmet darum m. E. «alte Schule». In diesem Sinne ist eine «faire» Zugangsweise zum Text eher schwierig.

Kargheit erfahren beim Brotbrechen

Wie es scheint, ist das Feiern der Eucharistie nicht von dieser Welt – der Welt dieser Fitnesscenter. Die Kargheit erfahren beim Brotbrechen und beim Trinken des Weins ist im Gegensatz zur gestylten Fitnesswelt mit Glaubenssinn aufgeladen, denn die Feiern des Glaubens – ihre Zeichenhaftigkeit, ihre sakramentale Grundstimmung – verbinden mit Jesu Leben, Tod und Auferstehung – und lassen sich anrühren vom Elend der Menschheit, sei es in Amatrice, Aleppo oder anderswo! So wenigstens versuchen es jene, die Gottesdienste vorbereiten, ihnen vorstehen und die Menschen zum Mitfeiern einladen. Liegt der Unterschied letztlich nicht darin, dass in Gottesdiensten Menschen sich versammeln zum Mitfeiern und in Fitnesscentern Menschen ein und aus gehen, um allein sich selbst zu feiern? Im Fitnesscenter erhält sich ein Mensch selbst fit, erkennt zwar, dass auch er vom Brot lebt, ein Bedürfnis hat, seinen Hunger zu stillen. Und erkennt womöglich auch, dass ihn über das Bedürfnis (besoin) hinaus eine Sehnsucht (désir) erfüllt, weil kein Mensch vom Brot allein zu leben vermag.

Eucharistie als Austausch

Die Spannweite zwischen Selbstverwirklichung und Bejahung eines Austauschs untereinander über das «Hey» und «Hallo» und «Ego te absolvo» hinaus umschrieb – in theologischer Sprache zwar – der französische Jesuit André Fossion3 und meinte: «Das Stückchen Brot der Eucharistie ist ‹nichts›; es hat keinen Handels- oder Nutzwert. Es kann nicht zu Geld gemacht werden und reicht nicht aus, um zu sättigen. Das kleine Stück Brot führt uns daher heraus aus einer Logik des Kalküls, des Nutzens oder des Profits.» Und der Benediktinermönch und christliche Mystiker Bede Griffiths machte gegen alle Missverständnisse klar: «Wir müssen klarstellen, was in der Eucharistie mit dem Leib Christi gemeint ist. Es geht nicht um den Körper am Kreuz, sondern um den Leib der Auferstehung. Er ist gegenwärtig im spirituellen Leib, dem Leib der Auferstehung, der nicht Zeit und Raum unterworfen, nicht in irgendeiner Weise bedingt, sondern völlig eins mit Gott ist.»4 Ob reales oder mentales Fitnesscenter: Menschen dieser Zeit suchen nach mehr als dem, was sie körperlich sind. Dafür die grosse Danksagung feiern zu können, ermöglicht ihnen die Eucharistie.

 

1 Romana Ganzoni: Vor der Hantel sind wir alle gleich. Früher wuchsen Menschen mit Blick auf Gott, heute lassen sie mit Blick auf sich die Muskeln wachsen. NZZ, 20. September 2016, 43

2 Vgl. Gespräch von Guido Kalberer mit Peter Sloterdijk: «Der Feigling will nicht beim Namen genannt werden», in: «Tages-Anzeiger» Mo, 6. April 2009, S. 45.

3 André Fossion: Eucharistie als Austausch, in: Theologie der Gegenwart 24 (1981) 173–178, 176.

4 Bede Griffiths: Eucharistie – Gemeinschaft der Liebe, in: Christ in der Gegenwart 44 (1992) 141 f.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)