Der Widerhall in den Herzen

Plädoyer für eine vielfältige, anwaltschaftliche Kirche

Es ist einige Jahrzehnte her, da klopften Katholikinnen in der reformierten Stadt Zürich am Karfreitag Teppiche. «Z’leid», denn der Karfreitag war der Gedenktag der Reformierten, nicht der eigene Feiertag. Der Karfreitag wurde durch diese Störung hörbar zum Feiertag der «Anderen», und Menschen wurden zu «Anderen».

Nun hat Bischof Huonder – am Gedenktag der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte – ein weiteres Bischofswort herausgegeben. Er macht den Gedenktag der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte zu einem Tag der «Anderen»: Bischof Huonder gedenkt nicht. Er ehrt die Anstrengungen nicht. Die «Anderen» sehen sich gemüssigt zu erklären, wie sehr ihr Glaube mit den Menschenrechten verbunden und gerade deswegen katholischer Glaube ist.

Vielfalt und Anwaltschaftlichkeit

Das Grundbuch der Kirche ist eine ganze Bibliothek; kanonisiert wurden vier Evangelien; die Pfingstbotschaft verstehen alle in ihrer eigenenSprache; was Katholisches ausmacht, ist mit Bibel und Tradition stets neu zu finden; Verschiedene, wie Lehramt und «sensus fidelium», haben die Zeichen der Zeit zu deuten. Kirche ist anwaltschaftlich, seit den Anfängen nicht für sich selber da, sondern für das Heil der Menschen. Kirche hat eine Berufung, die über sie selbst hinausweist, die sie leben muss, um nicht krank zu werden, nämlich, sich «Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, vor allem der Armen und Bedrängten aller Art» zu eigen zu machen.

Auf diese berühmte Einleitung in die Pastoralkonstitution «Gaudium et spes» folgt ein Kriterium für dieses Zueigenmachen: «Alles wahrhaft Menschliche hat einen Widerhall in den Herzen der Jüngerinnen und Jünger Christi zu finden.» Widerhall ist nicht Verschmelzung, Besserwisserei oder Übergriff. Damit etwas einen Widerhall in den Herzen bekommt, braucht es Raum, Beziehung und ein offenes Herz, das bereit ist, Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, vor allem der Armen und Bedrängten aller Art, in sich hineinzulassen. Es braucht Zeit, damit sich der freudige und der klagende Hall in den Herzen ausbreiten und eine Resonanz entstehen kann. Und es braucht den Mut zum Widerhall, zur solidarischen Antwort, zum anwaltschaftlichen Sprechen und Handeln für die Menschen, vor allem der Armen und Bedrängten aller Art.

Widerhall schmerzlich vermisst

Zurzeit besetzt ein Kirchenverständnis die Agenda, das zum Schmerz und zur Empörung vieler engagierter Kirchenmenschen «einen Widerhall in den Herzen» vermissen lässt: Die Äusserungen der Bistumsleitung in Chur zum Gedenktag der Menschenrechte; im Namen des Kirchenrechts, aber sogar kirchenrechtlich mehr als zweifelhafte Vorschläge zur verletzenden Ausgrenzung und (Selbst-)Stigmatisierung von «Irregulären» in der Eucharistie; mehr als zweifelhafte Behauptungen zur Wirkweise von Sakramenten; öffentliche Untergrabung der Bemühungen der Bischofskonferenz um einen Dialog mit den Menschen zu Ehe und Familie.

Seit zwei Monaten beginnt der Geduldsfaden zu reissen, der durch das permanente Sägen an staatskirchenrechtlichen Strukturen und Druck auf Engagierte, durch die desolate pastorale Situation im Kanton Graubünden, aber nicht nur dort, schon lange sehr strapaziert ist. Die Lage ist schlimm für alle Betroffenen und gefährdet als Ausgrenzungspolitik darüber hinaus die katholische Kirche und den Religionsfrieden in der Schweiz. Dies zeigte sich besonders deutlich am Churer Bischofswort zum Gedenktag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 2013 und am Umgang des Bistums mit den Ergebnissen der Umfrage zur Ehe und Familienpastoral.

Das Gedenken am Tag der Menschenrechte

Am 10. Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Dies war ein bewusst gesetzter und visionärer Akt im Ringen um Humanität, drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in dem Menschen wegen bestimmter Merkmale, auch wegen ihrer sexuellen Ausrichtung, ermordet worden waren. Die Menschenrechte sind nicht abschliessend formuliert und kein bindendes Völkerrecht, sondern eine Perspektive, die sich konkretisiert, wenn man sie pflegt. So sind aus der Menschenrechts-Charta verbindliche internationale Abkommen (Zivil- und Sozialpakt) hervorgegangen; sie prägt das Völkergewohnheitsrecht; sie ist ein zentrales Element im Ringen um interkulturelle Verständigung über Humanität; sie ist ein Bezugspunkt im Persönlichen und im Kollektiven, um gerechtes und friedliches Zusammenleben zu gestalten. Am jährlichen Gedenktag sind sich viele – auch römisch-katholische – Menschen schmerzlich bewusst, dass Brüder und Schwestern der Menschheitsfamilie aufgrund ihrerHautfarbe und Nationalität, ihrer Religion, ihres ökonomischen Status, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung auch 2013 Gewalt, Verfolgung und Ermordung erleiden.

Der 10. Dezember ist ein wichtiger Gedenktag, als Tag der Solidarität mit Menschen, deren Menschenrechte mit Füssen getreten werden, als Erinnerung an einen mutigen Akt der Völkergemeinschaft und als Anstoss, die Vision globaler Menschlichkeit weiter zu konkretisieren und umzusetzen. In jüdisch-christlicher Tradition bedeutet Gedenken: Eingedenken, eine Erinnerung, die Vergangenes nicht als etwas Abgeschlossenes versteht und von aussen darauf schaut, sondern auf seiner Gegenwärtigkeit besteht: «Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte» (Walter Benjamin: Geschichtsphilosophische Thesen. Anhang B., in: Gesammelte Schriften. Frankfurt a. M. 1980, 676). Übersetzt in die grossen Gedenktage: Der Exodus, die Migration in die Freiheit, findet heute statt; Christus ist heute auferstanden.

«Menschen zu Anderen machen»

Ein Gedenktag wird Gedenktag der «Anderen», wenn er nicht respektiert wird, und die Menschen werden zu «Anderen»: also Leuten, zu denen man nicht gehört, deren Werten man nicht respektvoll begegnet und die man plagen darf. In Zürich klopften die Bischöfe die Teppiche nicht selber, aber manche von ihnen regten dazu an und beklatschten die Klopferinnen. Wahrscheinlich gab es entsprechende reformierte Retourkutschen, die ebenso wohl dosiert den Religionsfrieden störten. Inzwischen hat es sich hüben und drüben herumgesprochen: Mutwillig Gedenktage zu stören, ist respektlos und schadet. Man kann es einfach sein lassen.

Nun benutzt und missbraucht Bischof Huonder den Gedenktag der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte für seine (kirchen-)politischen Zwecke und weist als einzigen Bezug zum Menschenrechtstag auf sein eigenes vorjähriges Bischofswort hin. Seine Rede ist neuscholastische Argumentation, die sich in keiner Weise um Gedenken und Erinnerung, um jenes Eingedenken bemüht, das den Funken der Veränderung und Heilung in sich trägt. Vielen Menschen erscheint dies egoistisch und wunderlich. Es ist aber mehr als das, es ist eine bewusst gesetzte Spaltung. Bischof Huonder inszeniert den Gedenktag der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte als Feiertag der «Anderen», zu denen man nicht gehört, deren Gedenktage einem nichts bedeuten, die man plagen kann.

Ein ultrarechtes Programm

Auf den Protest hin erklärt der Bischof mit breitem Lächeln, dass er die Meinung des Papstes und die Auffassung der römisch-katholischen Kirche vertrete. Dafür bekommt er vom höchsten Reformierten, Gottfried Locher, eine öffentliche Bestätigung.

Der Schweizerische Katholische Frauenbund SKF hat sich hingegen mit dem Inhalt beschäftigt und aufgezeigt, wie viel Ungenaues, Abwertendes, Phantasiertes dieses Bischofswort inhaltlich prägt (http://www.frauenbund.ch/publikationen/medienmitteilungen/details/article/skf-stellungnahme-gegen-wort-zum-tag-der-menschenrechte-von-bischof-huonder.html ). Bischof Huonders Schreiben ist keine katholische, sondern eine politische Lehre.

Die Haltung, der Themenmix und beispielsweise der pejorative Begriff «Genderismus» sind gängig bei Rechtspopulisten, Rechtskatholischen und manchen Evangelikalen sowie manchen Vertretern anderer Religionen, die in verwandter Sprache die anstehenden Auseinandersetzungen um Verschiedenheit flachklopfen. Zurzeit zu studieren an der ultrarechten interkulturellen und interreligiösen Bewegung in Frankreich, die sich auf der Grundlage eines blossen Gerüchtes über das Gleichstellungsprogramm zu einem Schulboykott zusammengefunden hat. Bischof Huonder vertritt in seinem Bischofswort einen ideologisch homogenen, politischen Flügel. Mit römisch-katholischem Glauben hat dies erst einmal nichts zu tun.

Ideologie statt Brückenbau

In der Vielfalt der katholischen Kirche kann eine ultrarechte Fraktion durchaus ihren Platz haben. Das Problem ist nur, dass die Männer in der Churer Bistumsleitung nicht als Privatpersonen Teppiche klopfen, sondern aus ihrer Machtposition dem ganzen Bistum und der Kirche in der Schweiz mit ihrer ausgrenzenden Ideologie Schaden zufügen. Wenn für viele Menschen im Bistum Chur die Situation nicht so schlimm wäre, wenn viele sorgfältig und wunderbar liebende Lesben und Schwule nicht so verletzt wären, wenn die Katholikinnen und Katholiken und die Kirche in der Schweiz durch solches Gehabe nicht so beschämt würden, dann könnte man darüber schmunzeln und sagen: Jetzt klopft er wieder, jetzt führt Bischof Huonder oder sein Leitungsteam wieder das gewohnte ausgrenzende Theater auf!

Aber es muss aufhören, wegen der Katholiken, die unter der seelsorgerlichen Situation und Druckversuchen seitens der Bistumsleitung leiden, wegen der Selbstgerechtigkeit gegenüber Menschen aller Art und ihren Werten, wegen der Störung der Kollegialität in der Kirche in der Schweiz, wegen der systematischen Infragestellung staatskirchenrechtlicher Strukturen, wegen instrumentalisierter und falscher Behauptungen, vor allem in der Sakramententheologie und im Kirchenrecht, wegen der Reduktion sozialethischer Verantwortung auf eine ultrarechte Sexualpolitik.

«Il carnevale è finito»

Es ist höchste Zeit, dass es aufhört. Die aktuelle Empörung macht deutlich, wie einsam und eng die Bistumsleitung in Chur ihre Politik der Spaltung verfolgt – einsam und eng nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. «Wir können nicht einfach mit verschränkten Armen herumstehen. Wir müssen die frohe Botschaft Jesu mit allen teilen. Und es gibt keine bessere Möglichkeit, dies zu tun, als durch Taten der Liebe, der Hingabe, der guten Werke und des Gebens», sagte der Erzbischof von Rio de Janeiro am Weltjugendtag 2013 in seiner Stadt.

Vielleicht ist eine gute Zwischenlösung für einen Neuanfang schneller möglich als gedacht, auch in Verbindung mit dem einfach beschuhten Papst, der mit den Worten «Il carnevale è finito» die roten Schuhe und den feinen Mantel verweigerte, bevor er am 13. März 2013 den Menschen einen guten Abend wünschte. Ein Papst, dem die Menschenrechte wichtig zu sein scheinen und der homophobe schwule Seilschaften in der Hierarchie zu kritisieren wagt. Und vielleicht ist nun auch die Zeit gekommen, dass die Bischofskonferenz für sich selber Standards setzt, um ihrem deklarierten Selbstverständnis nachzuleben: in der heutigen Gesellschaft präsent und engagiert zu sein.

Der Widerhall in den Herzen

Religiöse Institutionen sind wichtig, aber auch potentiell gefährlich, denn sie wirken auf der Schwelle zwischen Kontingentem und Unverfügbarem. Religiöse Autoritäten, welche der Unsicherheit auf dieser Schwelle nicht gewachsen sind, lösen das Religiöse entweder in «warme Luft» auf oder beschränken sich – versehen mit einem heiligen Machtanspruch – auf die Seite des Kontingenten. Und das Zweite kann wirklich gefährlich sein: Spaltungen, Diskriminierung und Gewalt im Namen des «richtigen» Glaubens. Der «Widerhall der Herzen» kann und muss manchmal auch ein Protest sein.

 

Regula Grünenfelder

Regula Grünenfelder

Die promovierte Theologin Regula Grünenfelder ist Bildungsbeauftragte des Schweizerischen Katholischen Frauenbunds SKF, Familienfrau, geistliche Begleiterin und Mitglied des FrauenImpuls Greppen