Der Untergang der «William Nelson» und seine Folgen

Zur Geschichte der katholischen Migrantenfürsorge

Vor 150 Jahren sank im Atlantik der Dreimaster "William Nelson", 438 deutsche und Schweizer Auswanderer verloren ihr Leben. Auf dem anschliessenden Katholikentag in Trier im September 1865 legte der Kaufmann Peter Paul Cahensly (1838–1923), das Fundament des Raphaelsvereins, der sich seitdem um das leibliche und seelische Wohl von Auswanderern kümmert.

Die Dramen auf den Flüchtlingsbooten, die sich seit einigen Jahren auf dem Mittelmeer und im Indischen Ozean häufen, erinnern in Vielem an die Tragödie, die hier näher beschrieben wird, und an weitere Unglücksfälle, die sich während der Massenauswanderung im 19. Jahrhundert von Europa nach Amerika auf dem Atlantik zugetragen haben. Der Untergang der "William Nelson", das bisher schlimmste Unglück eines Auswandererschiffs, war der Beginn eines Umdenkens in Bezug auf die Auswandererfürsorge in der Kirche und in der Gesellschaft.

Der Dreimaster "William Nelson"

Am 2. Juni 1865 war in Antwerpen der amerikanische Dreimaster "William Nelson" in See gestochen, an Bord hatte das Schiff 600 Tonnen Eisenbahnschienen, Wein und verschiedene andere Handelsgüter und weit über 500 zumeist deutschsprachige Auswanderer und eine Mannschaft von 30 Seeleuten. John Levi Smith hiess der amerikanische Kapitän. Das Schiff, das im Jahre 1850 gebaut worden war, war 173 Meter lang und 36 Meter breit und hatte in drei Decks 20 Meter Tiefgang. Das Ziel der Reise war New York, die grösste Stadt der Neuen Welt. Die Reise mit einem Segelschiff, die bis zu acht Wochen dauerte, war wesentlich günstiger als mit dem Dampfschiff, das in einer Woche die Passage über den Atlantik schaffte. Deshalb befanden sich auf der "William Nelson" vorwiegend arme und mittellose Auswanderer, zumeist aus Süddeutschland und der Schweiz. Mit gut 550 Passagieren war das Schiff, das nur 450 Menschen transportieren durfte, auch deutlich überladen. Nach einer vierwöchigen Reise, die bei schwachem Seegang ohne Zwischenfälle verlief, kam es zu neun Todesfällen von Kindern und zu vermehrten Fieberanfällen von Passagieren. Ursache waren die schlechten hygienischen Bedingungen und die schlechte und nicht ausreichende Ernährung in den Unterdecks. Der Kapitän, der fürchtete, dass es zu einer Epidemie kommen könnte, gab am 26. Juni die Order, die Passagierdecks mit Teerschwaden auszuräuchern, eine damals übliche Hygienemassnahme. Infolge einer Unvorsichtigkeit bei dieser Massnahme fing das Segelschiff Feuer, das sehr schnell um sich griff. Zunächst versuchten alle, Passagiere und Mannschaft, das Feuer noch mit Eimern und Menschenketten zu löschen. Als dies nichts nützte, wurden die vier Rettungsboote ins Meer gelassen. In den Rettungsbooten war nicht einmal Platz für 100 Personen. 438 Menschen kamen in den Fluten des Wassers oder im Feuer ums Leben. Von der Besatzung starben nur sechs Matrosen, auch der Kapitän überlebte in einem Rettungsboot.

Spektakuläre Rettung eines Neugeborenen

Nach einem Tag kam das französische Postdampfboot "Lafayette", welches von New York nach Le Havre fuhr, zur Unglücksstelle und rettete 44 Überlebende aus zwei Rettungsbooten, das russische Schiff "Ilmori" weitere 17 Überlebende aus einem dritten Rettungsboot. Das amerikanische Schiff "Mercury" konnte später noch 43 Überlebende aus dem Wasser fischen, die sich an Wrackteile geklammert und so überlebt hatten. Unter den Geretteten war auch ein Baby der Familie Margraf aus Zell an der Mosel, das erst auf dem Schiff geboren worden war. Der zwei Wochen alte Junge hatte mit seiner sechsjährigen Schwester als Einziger von seiner Familie das Unglück in einem Rettungsboot überlebt, weil er von einer hochschwangeren Frau, Anna Meyer aus Solothurn, die das Baby mit ihrem Speichel eine Nacht lang ernährt hatte, gerettet worden war. In Le Havre wurden die beiden Kinder von dem preussischen Konsul in Empfang genommen.

Die wenigen Geretteten wurden nach Le Havre in Frankreich gebracht. Nach der Amkunft in Le Havre klagten die Geretteten über schlechte Behandlung und Schläge seitens der der deutschen Sprache unkundigen Besatzung, über schlechte und unzureichende Ernährung sowie über schwere Verletzungen des sittlichen Gefühls. Die Schlafstätten waren ohne jede Berücksichtigung von Alter und Geschlecht angewiesen worden.

Peter Paul Cahensly (1838–1923) und der Raphaelsverein

In Le Havre wirkte damals auch ein junger Kaufmann aus Limburg an der Lahn, Peter Paul Ca hensly, dessen Vater aus Graubünden stammte. Er lebte in Le Havre in der Gemeinschaft der Vinzenzbrüder, die sich im Geiste des heiligen Vinzenz um Hilfe- und Ratsuchende kümmerten. Cahensly hörte sich die Schilderungen der 62 in Le Havre angekommenen Überlebenden der "William Nelson" an und machte sich zum Anwalt der Auswanderer. Er forderte nicht nur bessere materielle Bedingungen auf den Auswanderungsschiffen, die ja eigentlich Frachtschiffe für den Transport von Tabak und Baumwolle von Amerika nach Europa waren und von Europa aus Auswanderer als Fracht mitnahmen. Peter Paul Cahensly schockierten vor allem auch die psychischen und seelischen Bedingungen der Auswanderer auf den Schiffen, die auf den Unterdecks nicht nur auf Hygiene, Lebensmittel und Wasser, sondern auch auf Privatsphäre, familiären Zusammenhalt und oft auch auf ihre menschliche Würde verzichten mussten. "Muss man nicht gegen diese, aller Moral Hohn sprechende Menschenverpackung, ohne Unterschied der Geschlechter, mit allem Nachdruck die Stimme erheben? Wie lange soll es noch dauern, dass unsere armen Landsleute, welche von den geistigen und körperlichen Gefahren dieser neuen Verhältnisse wohl selten eine Ahnung haben, dass sie zu Tausenden jährlich um ihre höchsten sittlichen Güter betrogen werden?" Diese Worte richtete Peter Paul Cahensly, kaum sechs Wochen nach den dramatischen Ereignissen auf der "William Nelson", an die Teilnehmer der Generalversammlung des Katholikentages in Trier, einer Stadt, die Cahensly von seiner Gymnasialzeit her kannte. Begleitet wurde er von Mutter Franziska Schervier aus Aachen und Pater Lambert Rethmann, einem in Le Havre wirkenden deutschen Priester. Die zündende Rede von Cahensly gehörte zu den Glanzlichtern dieser Katholikenversammlung, sie mündete in die "Trierer Beschlüsse", eine erste katholische Stellungnahme zu Auswandererfragen.

Cahensly gründete mit Gleichgesinnten 1868 auf dem Katholikentreffen in Bamberg das "Comité zum Schutze deutscher Auswanderer" und 1871 den St.-Raphaels-Verein. Der Erzengel Raphael war der "biblische Beschützer der Reisenden und Fremden". Cahensly gewann in Italien, einem Land, das ebenfalls Millionen Menschen durch Auswanderung verloren hatte, den Bischof von Piacenza, Giovanni Battista Scalabrini, für seine Ideen und sicherte sich auch die Unterstützung durch die Päpste Leo XIII. und Pius X. Das war die Grundlage für die kanonische Gründung von Raphaelsvereinen auch in anderen europäischen Ländern, unter anderem auch in der Schweiz. Auch in den Vereinigten Staaten, Nordafrika und in Australien wurden Raphaelsvereine gegründet. So entstand binnen weniger Jahrzehnte ein internationales und eng geknüpftes Netzwerk zur Förderung und Integration von Migranten. Dennoch hatte Cahensly auch mit Widerständen zu kämpfen, nicht nur weil die Auswanderer als Verräter an der Nation galten, die eines rechtlichen Schutzes nicht wert waren.

Vom Cahenslysmus zur Flüchtlingspastoral

Wichtig war Cahensly auch die seelsorgliche Betreuung, das "Seelenheil" der Auswanderer nach ihrer Ankunft in der neuen Heimat. 1887 reiste Cahensly selbst erstmals nach Amerika und gründete dort das Leohaus, benannt nach Papst Leo, als Zentrum der dort ankommenden deutschsprachigen Einwanderer. Immer mehr kam jetzt die muttersprachliche Einwandererseelsorge ins Zentrum der Bemühungen des internationalen Raphaelswerkes, das in dieser Frage den Erhalt der Muttersprache auch als Grundlage für die seelsorgliche Betreuung der Auswanderer ansah. Beim Treffen des Internationalen Raphaelswerkes am 9. und 10. November 1890 in Luzern wurde ein Memorandum zum Erhalt der Muttersprachen in Amerika verfasst, das Cahensly im April 1891 persönlich Papst Leo XIII. übergab. Als der Inhalt des Memorandums bekannt wurde, gab es einen Aufschrei in der US-amerikanischen Presse, dem sich einige Bischöfe aus der um ihren Platz in der Gesellschaft ringenden US-katholischen Kirche anschlossen, denn ausser muttersprachlichen Pfarreien, die es in den USA schon gab, verlangte das Memorandum auch nach den Muttersprachen der Einwanderer getrennte Episkopate. Verstärkt wurde der Konflikt, als Cahensly behauptete, dass bereits 16 Millionen Katholiken in den USA ihren Glauben mit ihrer Muttersprache verloren hätten. Der Konflikt, der gemeinhin als "Cahenslysmus" bezeichnet wurde, wurde in den USA bis hinein in den Senat getragen und auch in Deutschland von kirchenkritischen Kreisen ergiebig ausgeschlachtet. Er wurde erst 1899 durch die Enzyklika "Testem Benevolentiae " von Leo XIII. beendet. Das Schreiben ebnete den Weg zu einer grundsätzlichen Flüchtlingspastoral, wie sie Papst Pius XII. in seinem Schreiben "Exsul Familia" 1952 weiterentwickelt hat.

Dem St.-Raphaels-Verein zum Schutze deutscher Auswanderer mit Sitz in Limburg an der Lahn stand Cahensly bis 1918 selbst vor, dann gab er die Leitung krankheitsbedingt an Prälat Lorenz Werthmann ab, der das Werk nach Freiburg im Breisgau überführte und in die von ihm gegründete Caritas integrierte. Bis heute kümmert sich das Raphaelswerk mit einem Netz von Beratungsstellen in Europa und Übersee um das materielle und sittliche Wohl der Auswanderer. Als langjähriger Abgeordneter des preussischen Landtages und des deutschen Reichstages war Cahensly 1897 auch an der Ausarbeitung des "Reichsgesetzes zum Schutz der deutschen Auswanderer" federführend beteiligt. Er starb am zweiten Weihnachtstag 1923 in Koblenz. 

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Literaturhinweise

Peter Paul Cahensly: Die deutschen Auswanderer und der St.-Raphael-Verein. Frankfurt a. M. 1887.

Heinrich Schenk / Viktor Mohr: Das Erbe Cahenslys. Festvortrag zum 150. Geburtstag Peter Paul Cahenslys (Mainz, 28. Oktober 1988). Hildesheim 1989.

Manfred Hermanns: Weltweiter Dienst am Menschen unterwegs. Auswandererberatung und Auswandererfürsorge durch das Raphaels-Werk, 1871–2011. Friedberg 2011.

 

 

 


Bodo Bost

Bodo Bost studierte Theologie in Strassburg und Islamkunde in Saarbrücken. Seit 1999 ist er Pastoralreferent im Erzbistum Luxemburg und seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Public Responsibility an der kircheneigenen Hochschule «Luxembourg School of Religion & Society».