Der Tisch steht schief

Die Coronakrise schüttelt die Kirche durch. Was bedeutet es, wenn sich die Gemeinschaft nicht mehr zum Gottesdienst versammeln kann, und das über Wochen? Ist Kirche auch mit eingeschränkter Sakramentenspendung lebendig?

Es ist schwer zu ertragen. Keine öffentlichen Gottesdienste, keine gemeinsamen Feiern in der Fastenzeit und Karwoche, an Ostern und Christi Himmelfahrt. Liturgie auf ein Minimum heruntergefahren.

Die gelebte Gemeinschaft ist konstitutiv für die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Denn wie Gott die Menschen «nicht zu einem Leben in Vereinzelung, sondern zum Zusammenschluss in gesellschaftlicher Einheit» erschuf, so erwählte er sie «nicht nur als Einzelwesen, sondern als Glieder einer bestimmten Gemeinschaft» (Gaudium et Spes 32). Am deutlichsten zeigt sich diese Gemeinschaft in der miteinander gefeierten Liturgia. Sie ist entscheidend. Und ebenso entscheidend sind das Glaubenszeugnis (Martyria) und der Dienst am Nächsten (Diakonia). Gottesdienst, Glaubenszeugnis und tätige Nächstenliebe kann man zwar unterscheiden, aber man darf sie nicht trennen. Denn Gottesdienst ist auch Glaubenszeugnis und Nächstenliebe, Glaubenszeugnis ist immer auch Dienst für Gott und die Mitmenschen, tätige Nächstenliebe ist auch Dienst von und für Gott und Zeugnis des Glaubens. Die Apostelgeschichte schildert eindrücklich, wie sich diese Grundvollzüge der Kirche organisch durchdringen und so gemeinschaftsbildend wirken. Sie konstituieren die Kirche in einer wechselseitigen, lebendigen Dynamik.

Diese Dynamik gerät durcheinander, wenn einer der drei Glaubensvollzüge über die anderen gestellt wird. Dann treten latent vorhandene Spannungen heftig ans Tageslicht. Wird die öffentlich gefeierte Liturgie zur exklusiven Form des Glaubensvollzuges erhoben und die Diakonie, die sich vermeintlich lediglich daraus ableitet, ihr untergeordnet, ist das Fehlen öffentlicher Gottesdienste umso dramatischer. Ein Ausspielen der Liturgie gegenüber der Diakonie kann dazu führen, dass Gottesdienste als angeblich alleinige Heilsquellen unbedingt eingefordert werden und die Caritas abgewertet oder ausgeblendet wird. Umgekehrt geht fehl, wer die Diakonie der Liturgie überordnet und den Dienst am Nächsten als die schlechthinnige Erfüllung christlichen Lebens sieht und Gottesdienste zum Nice-to-have-Event werden lässt, Gemeinschaft im Gebet zu einer wählbaren Option.

Beide Tendenzen laufen dem christlichen Verständnis von gelebter Gemeinschaft zuwider. Sie verbindet die falsche Prämisse, dass die verschiedenen Grundvollzüge in Konkurrenz zueinander stehen. Auch in der Krise tut ein ausgewogener Blick auf das Verhältnis der Grundvollzüge und das Potenzial ihrer Wechselwirkung gut. So erschöpft sich die Liturgie nicht in der Feier öffentlicher Gottesdienste. Gemeinsames Beten in einfachen Formen und im kleinen Rahmen ist auch in der Krise möglich. Hauskirchen schaffen Gemeinschaft und sind Orte der Begegnung mit Gott. Sie stehen nicht in Konkurrenz zum öffentlichen Gottesdienst. Vielmehr vermitteln und fördern sie den Glauben von innen her und helfen dabei, die Sehnsucht nach der Quelle des christlichen Glaubens durchzuhalten.

Der Tisch steht nur gerade, wenn alle Beine gleich lang sind. In der Krise steht der Tisch schief. Die Akzente haben sich temporär verlagert, was ungewohnt und schwer zu ertragen ist. Schief ist aber nicht kaputt. Freuen wir uns auf das ge- sunde Gleichgewicht, wenn wir wieder gemeinsam öffentliche Gottesdienste feiern!

+Felix Gmür, Bischof von Basel


Felix Gmür

Dr. theol. Dr. phil. Felix Gmür (Jg. 1966) studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Freiburg (CH), München, Paris und Rom. Die Studien schloss er 1994 mit einem Lizentiat in Theologie, 1997 mit einem Doktorat in Philosophie und 2011 mit einem Doktorat in Theologie ab. Seit 2011 ist er Bischof von Basel und seit 2019 Präsident der Schweizer Bischofskonferenz (SBK).