Der Kirchenraum – ein Mitspieler

Die Liturgie beeinflusst das Raumkonzept, aber der Raum prägt auch die Liturgie. Aus diesem Grund ist es bedeutsam, den Kirchenraum und seine Logik bei der Gestaltung liturgischer Feiern miteinzubeziehen.

Vor einigen Jahren befasste sich der alljährlich im piemontesischen Kloster Bose abgehaltene Liturgische Kongress mit der Kirchenausstattung unter dem Gesichtspunkt von Identität und Wandel. Zwei komplementäre Vorträge lauteten: «Die Liturgie formt den Raum» und «Der Raum formt die Liturgie». Die erste These wird wohl kaum auf Gegenrede stossen. Die Älteren haben erlebt, wie gravierend die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils und schon in deren Vorfeld die Liturgische Bewegung in die vorhandenen Kirchenräume eingegriffen haben. Der Kirchenbau des 20. Jahrhunderts wurde insgesamt von liturgischen Leitgedanken geprägt, vor allem dem der tätigen Teilnahme der Gemeinde. Diese Impulse hatten völlig neue Raumkonzepte hervorgebracht. Infolge der Liturgiereform verloren manche Ausstattungsstücke in den Kirchenräumen ihre Funktion, z. B. die Kommunionbänke und die Kanzel, dafür kamen andere hinzu, z. B. der Ambo und der Priester- bzw. Leitungssitz.

Ein Gegenüber statt ein Miteinander

Bei der Euphorie der Reformen in den 60er- und 70er-Jahren ging zeitbedingt vieles verloren. Auch kümmerte man sich damals oft wenig um die symbolische Aussage der Räume, selbst die hochwertigen Raumkonzepte aus dem Geist der Liturgischen Bewegung wurden mitunter missachtet. Räume wurden lediglich als Container wahrgenommen und genutzt, der «topic turn», die philosophische und soziologische (Rück-)Wende zum Raum seit den 80er-Jahren, war noch in weiter Ferne. Im Lauf der Zeit stellte sich aber an vielen Orten heraus, dass die Rechnung ohne den Wirt gemacht wurde: Wollte man mit den vorgerückten «Volksaltären» eine grössere Nähe von Priester und Gemeinde und dadurch ein Gefühl des Miteinander erreichen, so hatte man ein Gegenüber geschaffen, das die in den Kirchenbänken fixierten Gläubigen in eine passive Rolle des blossen Zuhörens versetzt, während sich der Priester am Altar wie an einem Vorstandstisch oder Lehrerpult verhält. Durch das ständige Gegenüber, auch am meist frontal aufgestellten Priestersitz und am Ambo, nivellieren sich die Sprachspiele leicht zu einem durchgehenden Modus der Belehrung, so dass die Vielgestaltigkeit der worthaften Vollzüge wie Lobpreis und Bitte, Verkündigung und Auslegung, Gesang und Stille verloren geht. Dies gilt umso mehr, als am Ambo oft neben der Verkündigung des Wortes Gottes alle möglichen anderen Wortbeiträge stattfinden.

Der Raum spielt mit

Aus diesem zugegebenermassen etwas düster gezeichneten Szenario erschliesst sich aber unschwer die zweite, komplementäre These: Der Raum formt die Liturgie. In diesem Fall aber wirkt sich die prägende Kraft eher negativ aus. Der Raum spielt in jedem Fall mit: Entweder fördert er das liturgische Geschehen oder er behindert es. Die «alte» Liturgie wird in einem solchen Raum gut funktioniert haben, mit der «neuen» aber hapert es. Dies kann mit einer unsachgemässen, weil nicht raumgerechten liturgischen Neuordnung zusammenhängen. Manche Räume lassen sich aber nicht zu «Communio-Räumen» umgestalten, die allen Gemeindemitgliedern eine Nähe zum Altar ermöglichen. So blieb man bei der Neugestaltung von St. Moritz in Augsburg bei der klassischen gerichteten Bankanordnung in Zweierreihen, während die Augustinerkirche in Würzburg als «Communio-Raum» eingerichtet wurde, in dessen Schiff die Gemeinde Altar und Ambo umschliesst. Dennoch wird in beiden Räumen eine lebendige, dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils entsprechende Liturgie gefeiert.

Entscheidend ist die Wahrnehmung des Raums und seiner Logik. Jede Neugestaltung hat darauf Rücksicht zu nehmen. Wenn der Raum als Mitspieler, als «Liturgen» anerkannt wird, dann bieten sich u. U. ungeahnte Chancen. Diese liegen oft gerade in der Widerständigkeit des Raums, der im wörtlichen Sinn «Gegen-stand» der Liturgie ist. Neue Liturgie kann sich auch in alten Räumen entfalten, wenn diese als Mitspieler ernst genommen werden. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Gestaltung der Liturgie. So wurde schon bald nach der Liturgiereform die Wortlastigkeit unserer Gottesdienste beklagt. Die traditionelle Stärke des Katholischen: Symbolik, Sinnenfreude, Bewegung, war für einige Jahrzehnte stark in den Hintergrund getreten. Dies hat sich inzwischen aber geändert. Aufgrund von Verlust- erfahrungen wächst die Sorge um die Wahrung unseres kulturellen Erbes, viele sind darum bemüht, in der Wahrnehmung der Zeugnisse der Vergangenheit die eigene Identität neu zu entdecken. Im Lauf der vergangenen Jahrzehnte wurde manches, was in aufklärerischer Attitüde ad acta gelegt worden war, wiederentdeckt und wiederbelebt: Wallfahrten, Prozessionen mit ihren Requisiten (Baldachin, Fahnen), Andachtsbilder, Reliquiare usw. So wird auch die Topografie des eigenen Kirchenraums neu wahrgenommen. Dies betrifft z. B. die Wiederentdeckung der Kanzel (wo sie noch vorhanden ist) für herausragende Gelegenheiten im Kirchenjahr oder bei geistlichen Konzerten. Nebenaltäre werden wiederentdeckt als Gedächtnisorte. Vergessene Altäre oder Figuren werden durch temporäre Verhüllung neu ins Bewusstsein gebracht und durch Raumwege (Prozessionen) erschlossen.

Ein besonderes Thema stellt das Taufbecken dar, das für jede Pfarrkirche vorgeschrieben ist. Sein traditioneller Ort ist in der Nähe des Eingangs, also genau entgegengesetzt zu der Platzierung, die die jetzigen Bestimmungen favorisieren: im Angesicht der Gemeinde. Die Folge: In den meisten Pfarreien wird mit einer Schale am Altar getauft. Da das Taufwasser ausserhalb der Osterzeit heute in jeder Feier neu gesegnet wird und nicht mehr nur in der Osternacht, hat der Taufstein seine alte Funktion als Taufwasseraufbewahrungsbehälter verloren. Ist er deshalb funktionslos? Gegenüber der gängigen Praxis gibt es neue Überlegungen für eine Taufliturgie, die sich wieder mehr an der der Alten Kirche orientiert. Hier ist der eigentliche Taufakt nie im Angesicht der Gemeinde vollzogen worden. Vielmehr wurden die Neugetauften in festlicher Prozession vom Baptisterium in die Gemeinde geleitet. Dies lässt sich in vielen Kirchen ohne Änderung der bestehenden Raumordnung ähnlich gestalten. Ausserdem gewinnt der Taufort an exponierter Stelle für das gemeinschaftliche wie private Taufgedächtnis zunehmend an Bedeutung, da die Taufe immer mehr zu einer Ausnahmeerscheinung in unseren Gesellschaften wird. Taufgedächtnisgottesdienste stärken die ökumenische Gemeinschaft aller Christen im Bekenntnis der einen Taufe.

Sich auf den Raum einlassen

Beim Thema Liturgie und Kirchenraum geht es nicht nur um Bewahren, Vergewisserung und Identitätssuche im Vergangenen, sondern nicht weniger auch um Erneuern, Sondieren und Identitätssuche im Zukünftigen. Das Fundament dafür legt die Liturgie selbst als Raum-Zeit-Stelle, in der Erinnerung und Erwartung, Vergangenheit und Zukunft des Gott-mit-uns im Hier und Jetzt eine Gegenwartsgestalt bekommen und dadurch unser Leben prägen. Dies gilt in besonderem Mass für die Feier der Eucharistie als Hochform, gilt aber auch für alle anderen Formen des Zusammenkommens von Gläubigen im Namen Jesu (Mt 18,20).

Die Stärkung des Bewusstseins, dass all dies wirklicher Gottesdienst ist, wird aller Voraussicht nach in den kommenden Jahrzehnten bei anhaltendem Priestermangel eine zunehmende Herausforderung sein. Aber nicht nur das: Die Monopolisierung der Eucharistiefeier auf Kosten anderer Feierformen in der Zeit nach dem Konzil war immer schon ein grosser Fehler und erweist sich heute als fatal. Initiativen wie das Ökumenische Stundengebet wollen hier ein Gegengewicht setzen. Dafür braucht es aber geeignete Räume. Als eine neue Gottesdienstform wollte das Konzil die Wortgottesfeier einführen (Liturgiekonstitution Art. 35,4). Faktisch wurde sie meist aber nur als Ersatzform verstanden. Dennoch haben die Wortgottesfeiern an vielen Orten ihren festen Platz im gottesdienstlichen Leben der Gemeinden. Oft aber fehlt in den Kirchen eine dieser Feierform angemessene Raumgestalt. Doch auch hier gilt: Mancher Raum kann zu einer lebendigen Feier inspirieren, wenn man sich auf ihn einlässt.

Wenn es darum geht, Zukunftspotenziale zu bedenken, dann ist schliesslich die Frage der Öffnung der Kirchenräume für Versammlungs- und Feierformen zu stellen, die im Vorfeld der Liturgie liegen und weitere Kreise ansprechen als nur die klassischen Kirchenbesucher. Geistliche Konzerte sind die bekannte Variante, vielfältige Veranstaltungsformen im spirituellen, kulturellen und sozialen Bereich sind denkbar. Das wiederum wird Auswirkungen auf die dort gefeierte Liturgie haben. In einer pluralistischen Gesellschaft stehen die kleinen christlichen Gemeinden vor einem Scheideweg: Ziehen sie sich in ein Ghetto zurück oder öffnen sie sich gegenüber der Gesellschaft im Dialog und in Gastfreundschaft, wozu sie mit ihren Kirchenräumen ein Alleinstellungsmerkmal besitzen?

Albert Gerhards

 

 

 

Literaturhinweise

  • Gerhards, Albert, Wo Gott und Welt sich begegnen. Kirchenräume verstehen, Kevelaer 2011.
  • Gerhards, Albert/de Wildt, Kim (Hg.), Wandel und Wertschätzung. Synergien für die Zukunft von Kirchenräumen (Bild – Raum – Feier. Studien zu Kirche und Kunst 17), Regensburg 2017.

Albert Gerhards

Prof. em. Dr. Albert Gerhards (Jg. 1951) studierte Theologie und Philosophie in Innsbruck, Rom und Trier. Von 1989 bis 2017 war er Professor für Liturgiewissenschaft und Direktor des Seminars für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.