Der 17. Oktober - ein weltweiter Solidaritätstag mit den Armen

Der internationale Tag zur Überwindung der Armut geht auf die Initiative des katholischen Priesters Joseph Wresinski (1917–1988) und der von ihm gegründeten Bewegung ATD Vierte Welt zurück. Seit 1992 ist er ein offizieller Tag der UNO. Eine Steinplatte auf dem Platz der Menschenrechte in Paris erinnert an seinen Ursprung. Ihre Inschrift wurde zur Charta eines Zivilisationsprojekts, das mit der unveräusserlichen Würde eines jeden Menschen Ernst macht. Für Joseph Wresinksi verbindet sich dieses Projekt mit einem Kirchenprojekt, das die Armen befähigen will, so zu lieben, dass sich die Liebe auf alle Menschen ausbreitet, ganz im Sinne von Papst Franziskus: «Die Freude aus dem Evangelium ist für das ganze Volk, sie darf niemanden ausschliessen.»1

Wer war Joseph Wresinski?

Père2 Joseph wusste aus eigener Erfahrung, was Armut und Ausschliessung bedeuten. Er war während des Ersten Weltkriegs in der Stadt Angers, in Frankreich, in einem Internierungslager zur Welt gekommen. Seine Mutter war Spanierin, der Vater stammte aus Polen und trug einen deutschen Pass. Nach Kriegsende blieb die Familie in Angers, aber die Arbeitssuche entfernte den Vater immer mehr von den Seinen: «Meine Familie war ständig von Auflösung bedroht, man wollte uns Kinder im Waisenhaus versorgen. Meine Mutter war von Almosen abhängig und daher in ihren Handlungen niemals frei. Wir wohnten an der Schwelle zwischen einem für sein Elend verrufenen Viertel und einem Arbeiterquartier. Hier nahm die Volksmenge in Jesu Umgebung für mich Konturen an.»3

Als Konditorlehrling in der Hafenstadt Nantes engagiert sich Joseph Wresinski in der Christlichen Arbeiterjugend. Er wird Priester, um den Armen das Evangelium zu bringen. Im Sommer 1956 besucht er ein Lager aus Wellblechhütten im Pariser Vorort Noisy-le-Grand. Mehr als 250 Familien werden hier aufgrund ihrer Armut in einem Dauerprovisorium festgehalten. In dieser Begegnung erschliesst sich ihm, im Alter von 39 Jahren, der Kern seiner Berufung: «Ich hatte als Beschäftigter in den Kellern der Farbenfabrik Valentine subproletarische Arbeiter angetroffen. In meinen Landpfarreien hatte ich mit unendlich armen Familien Kontakt gehabt. Ich bekam langsam den Ruf, ‹der Priester des Abschaums› zu sein. In Noisy-le-Grand bekam all dies einen Sinn. Ich sagte mir: Dies ist ein Volk, das Volk des Elends. Sie sind nicht für ein bestimmtes Ziel zusammen oder weil es sie glücklich macht, sondern einzig aufgrund ihres Leidens. Es hält sie zusammen, hält sie gefangen und demütigt sie.»4

Ein Volk mit einer Botschaft

Von da an wird er seine ganze Energie dafür einsetzen, die Ehre dieses Volkes wiederherzustellen und den Ausgeschlossenen zu einem anerkannten Platz in der Gesellschaft zu verhelfen. Der Bischof von Soissons stellt ihn für die Seelsorge im Notunterkunftslager frei. Am 11. November 1956 zieht er dort in eine Baracke ein. Er kommt mit leeren Händen, um mit den Familien zu leben, ihr Leiden und ihren täglichen Kampf ums Lebensnotwendige zu teilen. Mit ihnen sucht er die Isolation zu durchbrechen. Nach und nach gewinnt er Verbündete in der Gesellschaft und baut einen Kreis von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf. Im gemeinsamen Widerstand gegen das Unerträgliche machen sie die Erfahrung, dass die vom Elend gezeichneten Familien eine Botschaft tragen, welche die ganze Menschheit angeht.

«Wenn die Ärmsten, trotz des Elends, das sie von überall her einkreiste, in ihrem Zusammenleben eine gewisse Solidarität entwickeln konnten, wenn die Subproletarier zu bestätigen imstande waren, dass es für das Leben und die Gesellschaft noch andere Triebkräfte geben kann als Konsum und Profit, dann war dies das Angebot einer neuen Welt, das sich an jeden Menschen richtete.»5

Für Père Joseph ist es die Botschaft Jesu vom Reich Gottes, die so unter den Bedingungen der Gegenwart Gestalt annimmt. Als «Volk der Vierten Welt»6 rufen Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, die in den kirchlichen Institutionen allzu oft auf Verachtung und Gleichgültigkeit stossen und denen die Fähigkeit zur Spiritualität abgesprochen wird, alle Menschen zur Umkehr. Die Botschaft dieses Volkes betrifft den Kern des christlichen Glaubens. Sie hat aber, genau wie die Bergpredigt, auch politische Sprengkraft: «Die geforderte Veränderung besteht darin, die Würde der Armen ganz ernst zu nehmen, ihr Denken als Richtschnur zu nehmen für unsere Politik und ihre Hoffnung als Richtschnur für jegliches Handeln.»7

Père Joseph wird in den französischen Wirtschafts-und Sozialrat berufen und gewinnt dessen Mitglieder dafür, sich diesem Anspruch zu stellen. Im Februar 1987 verabschiedet der Rat Vorschläge zur Bekämpfung von «Starker Armut und wirtschaftlicher und sozialer Prekarität»,8 an denen armutsbetroffene Menschen mitgearbeitet haben. Berichterstatter ist Joseph Wresinski. Er beschreibt den Prozess der wirtschaftlichen und sozialen Ausschliessung als eine Verkettung von Menschenrechtsverletzungen, die bis zur völligen Rechtlosigkeit führen kann. Weil die Betroffenen die Mittel nicht haben, um ihren Verantwortungen nachzukommen, wird ihnen auch die Fähigkeit dazu abgesprochen.

«Wirtschaftliche und soziale Unsicherheit (…) führt dann zu starker Armut, wenn sie mehrere Existenzbereiche berührt, wenn sie über einen längeren Zeitraum anhält, wenn sie die Möglichkeiten beeinträchtigt, aus eigener Kraft in einer absehbaren Zeit seinen Verantwortungen wieder nachzukommen und seine Rechte zurückzuerwerben.»9

Ein Vierteljahrhundert später verabschiedet die UNO «Leitprinzipien über extreme Armut und Menschenrechte», die sich an dieser Definition orientieren.

Die Armen – Verteidiger der Menschenrechte

17. Oktober 1987, Paris, Trocadéro: Männer, Frauen und Kinder, die von anhaltender bitterer Armut gezeichnet sind, stehen Seite an Seite mit Menschen aus allen Bevölkerungsschichten aus verschiedenen politischen und religiösen Lagern. Gemeinsam verstehen sie sich als Verteidiger der Menschenrechte. Da, wo 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet worden ist, verpflichten sie sich, mit vereinten Kräften für eine Welt einzutreten, «in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not geniessen», wie es in der Präambel dieser Erklärung heisst.

In seiner Ansprache wendet sich Père Joseph an die «Millionen und Abermillionen Männer, Frauen und Kinder, die an Hunger und Elend gestorben sind». Er reduziert diese nicht auf ihren Opferstatus, sondern legt Zeugnis ab von ihrem Leben. Die Realitäten, die er dabei anspricht, sind nicht nur ein dunkles Kapitel der Vergangenheit. Für einen grossen Teil der Versammelten ist es das eigene Leben.

«Ich lege Zeugnis ab von euch Armen aller Zeiten!
Auch heute noch seid ihr den Strassen ausgeliefert und flüchtet von Ort zu Ort, verachtet, geächtet.
Arbeiter ohne Beruf,
seit eh und je von Mühsal erdrückt,
Arbeiter, deren Hände nutzlos geworden sind.
Millionen Männer, Frauen und Kinder,
deren Herzen kraftvoll schlagen, um weiterzukämpfen,
deren Geist sich auflehnt gegen das ungerechte Los,
das ihnen aufgezwungen wurde,
deren Mut die Anerkennung ihrer
unschätzbaren Würde verlangt.»10

Schweizer ohne Namen

Zwei Jahre vor der Versammlung in Paris hatte die Bewegung ATD Vierte Welt das Buch «Schweizer ohne Namen. Die Heimatlosen von heute»11 veröffentlicht und damit den Erniedrigten im Land eine Stimme gegeben: den «Menschen ohne Ausbildung und ohne Beruf, ohne Zuhause und ohne anerkannte Familie». Sie meldeten ihren Anspruch an, als vollwertige und gleichberechtigte Menschen anerkannt zu werden und die Gesellschaft mitzugestalten. Das Buch hat dazu beigetragen, das Schweigen zu brechen über die Gewalt, die Menschen in unserem Land im Namen der Für- sorge widerfuhr und immer noch widerfährt. Es hat auch Vorschläge gemacht, um die wirtschaftliche und soziale Ausschliessung zusammen mit den Betroffenen zu überwinden. Gegen 500 direkt betroffene und solidarische Menschen aus der Schweiz waren am 17. Oktober 1987 bei der Ansprache von Père Joseph auf dem Trocadéro-Platz zugegen. Danach brauchte es nochmals gut zwanzig Jahre, bis ihre Forderung nach einer gesamtschweizerischen Strategie zur Armutsbekämpfung, unter Mitwirkung der Betroffenen, vom Bundesrat aufgenommen wurde. Am 17. Oktober 2007, im Rahmen einer Veranstaltung auf dem Bundesplatz in Bern, präsentierte eine Delegation ihre Vorschläge der damaligen Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey. Vier Jahre später wurde die Strategie im Rahmen einer gesamtschweizerischen Armutskonferenz vorgestellt. Das nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut 2012–2017 beruht auf ihr.

Niemanden aussen vor lassen

Ende September 2015 haben die Vereinten Nationen neue Ziele für eine nachhaltige Entwicklung beschlossen, die nun die Milleniumsziele aus dem Jahr 2000 ablösen. Das neue Ziel heisst: «Der Armut überall und in all ihren Formen ein Ende setzen». Von einem politischen Willen, Armut und Ausschliessung an ihren Wurzeln zu überwinden, ist in der Schweiz allerdings wenig zu spüren. Im Gegenteil: Das Misstrauen und die Kontrolle gegenüber den Betroffenen nehmen zu. So hat die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren im September die SKOS-Richtlinien verschärft und den Grundbedarf für Haushalte ab sechs Personen sowie für junge Erwachsene mit eigenem Haushalt reduziert sowie die Bandbreite für Sanktionen bis auf 30 Prozent des Grundbedarfs erweitert. Die Realität der Armut wirft die Frage auf: Sind, wenn wir «alle» sagen, wirklich alle gemeint? Oder gibt es Menschen, die nicht wirklich Menschen sind?

Am 11. April 2013 hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen zu einer Gedenkfeier in Bern eingeladen. Sie hat sich im Namen des Bundesrats bei ihnen entschuldigt und einen Runden Tisch eingesetzt, um die Fragen im Zusammenhang mit der Aufarbeitung dieser Geschichte und der Wiedergutmachung im Dialog unter allen Beteiligten, inklusive der direkt Betroffenen, zu klären. Tatsächlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Aufarbeitung der Gewalt, die den Armen im Laufe der Geschichte zugefügt wurde, und dem Willen, die Armut bis hin zu ihren extremsten Formen zu überwinden.

Der Welttag zur Überwindung von Armut und Ausgrenzung ist jedes Jahre eine Gelegenheit, diesen Zusammenhang zu vertiefen. Er ermöglicht Begegnungen, die normalerweise nicht stattfinden würden: Begegnungen zwischen Menschen mit und ohne Armutserfahrung, die ein gemeinsamer Wille verbindet, Elend und Ausschliessung zu überwinden, damit niemand auf der Strecke bleibt. Menschen, die in Armut leben, sind die ersten Opfer von Gewalt in ihren verschiedenen Formen. An diesem Tag stehen sie im Mittelpunkt und sollen in erster Linie zu Wort kommen. Sie geben den Anstoss, sich gemeinsam für die Achtung der Menschenrechte einzusetzen.

Für den 17. Oktober 2015 hat die UNO das folgende Motto gewählt: «Für eine nachhaltige Zukunft. Gemeinsam gegen Armut und Diskriminierung.» Sie ruft damit alle Menschen auf, sich mit vereinten Kräften dafür einzusetzen, die Versorgung der heutigen Generation zu sichern, ohne die Versorgung der künftigen Generationen zu gefährden. In der Schweiz finden Veranstaltungen in Basel, Genf, Lausanne, Wädenswil, Pruntrut und Freiburg statt.12

Der Welttag zur Überwindung von Armut und Ausgrenzung hat zum Ziel, Verständnis, Solidarität und Unterstützung zwischen unterschiedlichen Menschen und Gruppen entstehen zu lassen. Dafür hat es sich bewährt, mit den Vorbereitungen frühzeitig zu beginnen und sie über das ganze Jahr zu verteilen. In diesem Sinne ist dieser Artikel, der unmittelbar vor dem 17. Oktober 2015 erscheint, eine Einladung an alle Leser und Leserinnen der «Schweizerischen Kirchenzeitung», sich heute schon zu überlegen, mit wem sie den 17. Oktober 2016 gestalten wollen. 

 

 

1 Papst Franziskus: Die Freude des Evangeliums, Nr. 23.

2 Die Anrede «père» ist in Frankreich auch für Weltpriester üblich.

3 Joseph Wresinski: Selig ihr Armen. Münster 2005, 15.

4 Père Joseph: Die Armen sind die Kirche. Gespräche mit Joseph Wresinski über die Vierte Welt. Zürich 1999, 155.

5 Ebd., 24.

6 Père Joseph prägte diesen Namen 1968 in Anlehnung an den «Vierten Stand», für dessen politische Vertretung sich Pierre Louis Dufourny zur Zeit der Französischen Revolution stark gemacht hatte.

7 Père Joseph, Die Armen sind die Kirche (wie Anm. 4), 216.

8 Conseil Economique et Social: Grande pauvreté et précarité économique et sociale. Rapport présenté par M. J. Wrésinski, in: Journal Officiel de la République Française, 28 février 1987.

9 Ebd., 5.

10 Zu Ehren der Vierten Welt aller Zeiten. Der vollständige Text der Ansprache von Père Joseph findet sich auf http://refuserlamisere.org/node/2111

11 Hélène Beyeler-Von Burg: Schweizer ohne Namen. Die Heimatlosen von heute. Paris-Treyvaux 1985

12 Informationen dazu auf http://www.vierte-welt.ch/projekte/17-oktober/; zu Veranstaltungen in andern Ländern: http://refuserlamisere.org/

Marie-Rose Blunschi Ackermann

Dr. theol. Marie-Rose Blunschi Ackermann ist Mitarbeiterin der Bewegung ATD Vierte Welt in deren Schweizer Zentrum in Treyvaux.