«Denn er hat seinen Engeln befohlen» (Ps 91,11)

Ein Vertrauenspsalm als Grundmotiv der Österlichen Busszeit

Die Psalmen als Ort der Einübung christlicher Grundhaltungen

Athanasius von Alexandrien (295–373) schrieb dem Nachvollzug der Psalmen eine die Seele formende und heilende, ja therapeutische Funktion zu. Indem der Beter (oder die Beterin) die Worte des Psalters nachvollziehe – so führte er in einem Brief an Marcellinus aus –, eigne sich die Seele die Haltungen und Stimmungen der jeweiligen Psalmen an. Er (und sie) übe sich ein in die christlichen Grundhaltungen wie Glaube, Hoffnung oder Gottvertrauen. Die Psalmen wirkten auf den, der sie singe wie ein Spiegel: "Er kann sich selber und die inneren Regungen seiner Seele in sich wahrnehmen und sie aufgrund dieser Wahrnehmung auch aussprechen", schrieb Athanasius. Verschiedenen Lebenssituationen ordnete er passende Psalmen zu. So solle der (oder die) sich vom Bösen verfolgt sehe und wolle, dass sein (oder ihr) Gebet erhört werde, schon früh am Morgen Psalm 5 anstimmen. Oder: "Kommen Feinde über dich, dann erhebe deine Seele zu Gott und sprich den Psalm 24" (nach Zählung der hebräischen Bibel: Psalm 25). Und so weiter, und so fort.

Psalm 91 als Grundton der Österlichen Busszeit

Der Österlichen Busszeit ist in der Tradition der römischen Liturgie der Psalm 91 (90) zugeordnet. Nun ist die Zuordnung bestimmter Psalmen zu bestimmten liturgischen Zeiten nichts Ungewöhnliches, doch selten ist sie so ausgeprägt wie in der "Quadragesima", der Zeit der Vierzig Tage. Am ersten Fastensonntag, dem ursprünglichen "Caput Quadragesimae", waren bis zur Liturgiereform im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils sämtliche Propriumsgesänge der Messliturgie dem Psalm 91 entnommen. "Ein im Missale einzig dastehender Fall", schreibt der Altmeister der Liturgiewissenschaft Balthasar Fischer. Auch im Stundengebet der "Quadragesima" erklang immer wieder: "Denn er hat seinen Engel befohlen, dich zu behüten auf all deinen Wegen" (Ps 91,11).

Diese Zuordnung von Psalm 91 zu der Busszeit des Kirchenjahres überrascht. Hätte man nicht eher einen der grossen Busspsalmen, allen voran Psalm 51 erwartet? Würden nicht die folgenden Worte viel besser passen: "Wasche die Schuld ganz von mir ab, und reinige mich von meiner Sünde. Denn meine Frevel erkenne ich, und meine Sünde steht mir immer vor Augen" (Ps 51,2–3).

In der Tradition der römischen Liturgie ist die Österliche Busszeit jedoch durch einen Vertrauenspsalm geprägt. Kein Vers dieses Psalms spricht von Busse, Umkehr, Schuld, Fasten, Versöhnung. Kernbegriffe des Psalms sind hingegen Schutz, Begleitung, Leben, Heil, Vertrauen, die sich bündeln in dem Motiv des Engels, der sich gegen alle feindlichen, zerstörerischen Mächte stellt. Auch Athanasius sah diesen Psalm gerade in solchen Situationen angezeigt, in denen die Hoffnung und das Vertrauen auf Gott gestärkt werden müsse: "Willst du aber dich selbst und andere zur Gottesfurcht ermuntern und zeigen, dass die Hoffnung auf Gott nicht zuschanden kommen lässt, sondern die Seele furchtlos macht, dann lobpreise Gott, indem du den Psalm 90 singst."

Eine Botschaft des Vertrauens

Nimmt man den Pfad von Athanasius auf, dann stellt sich die Frage, was mit dem Mitfeiernden, der Mitfeiernden passiert, der und die in der Österlichen Busszeit immer wieder diesem Psalms begegnet. Wie wirkt dieser Psalm auf seine und ihre inneren Regungen der Seele? Den Weg weist ein weiterer liturgischer Ort von Psalm 91. Er ist mindestens seit der Niederschrift der Regel des hl. Benedikt bis zur Stundengebetsreform Pius X. ein täglich unveränderlicher Bestandteil der Komplet, des kirchlichen Nachgebets. Auch heute kann Psalm 91 als Kompletpsalm gewählt werden, vorgeschrieben ist er nur noch für den Sonntag. Der Psalm führt den Beter und die Beterin mit einer Botschaft des Vertrauens in die Nacht. Eine Strömung in der frühen Deutungsgeschichte wendet die Aussagen des Psalms auf den vertrauenden Gerechten, auf Christus also, an. Besonders Vers 13 "Du wirst über Löwen und Schlangen gehen, wirst Leu und Drachen zertreten" wurde als deutliche Aussage für den Sieg Christi über den Satan gedeutet. So bringt die Rezitation des Psalms am Abend auch eine christologische Interpretation mit: Christus ist der erste, der aus dem Tod ins Leben gegangen ist. Und so wie Christus den Tod überwunden hat, so kann sich auch der und die Betende mit den Worten des Psalms darin einüben, den in der Taufe begonnenen Weg im eigenen Sterben zu Ende zu gehen und mit Christus den Tod zu überwinden. Wer auf Gott vertraut, braucht das Dunkel der Nacht nicht zu fürchten, denn er wird gerettet werden (Vers 14), weil Gott bei ihm ist in der Not (Vers 15).

Vertrauen als Wegweiser zur Umkehr

Die Verortung von Psalm 91 in der "Quadragesima" weist damit den Weg in ein Verständnis dieser Zeit im Kirchenjahr. Die Österliche Busszeit ist weniger eine dürre Pflichtübung, in der Verzicht und Kasteiung im Vordergrund steht, als vielmehr eine Heilszeit, die den Christen und die Christin wieder neu auf Christus und das mit ihm begonnene Heil ausrichtet. Die Liturgie unterstreicht mit der Platzierung von Psalm 91 gerade in diese Zeit, das Umkehr zu Gottvertrauen führt und gleichzeitig erst in diesem Vertrauen möglich ist. Nicht die Bussübung ist entscheidend, sondern die Zeit der Vierzig Tage lädt ein, auf Gottes Schutz zu setzen und Gott das eigene Leben anzuvertrauen. Denn: "Ja, du, o Herr, bist meine Zuflucht!" (Vers 9). 

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Zum Nachlesen

Athanasius von Alexandrien: Brief an Marcellinus, nach: Hermann Josef Sieben: Ausgestreckt nach dem, was vor mir ist. Geistliche Texte von Origenes bis Johannes Climacus. Trier 1998, 143–179.

Balthasar Fischer: Conculcabis leonem et draconem. Eine deutungsgeschichtliche Studie zur Verwendung von Psalm 91 (90) in der Quadragesima, in: Ders.: Die Psalmen als Stimme der Kirche. Gesammelte Studien zur christlichen Psalmenfrömmigkeit. Trier 1982, 73–83.

 

Birgit Jeggle-Merz (Bild: unilu.ch)

Birgit Jeggle-Merz

Dr. theol. Birgit Jeggle-Merz ist Ordentliche Professorin für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Hochschule Chur und a. o. Professorin in derselben Disziplin an der Universität Luzern.