Demokratie und Wahrheit

Entscheidungsprozesse in der Kirche aus kanonistischer Perspektive*

Einleitung/Problemaufriss

Demokratie und Wahrheit – scheinbar klare Begriffe, und doch werden bei näherem Hinsehen aus römisch-katholischer Perspektive Fragwürdigkeiten offenkundig.

So wenig, wie man die katholische Kirche aus ihrem ekklesiologisch motivierten Selbstverständnis mit einer Staatsform, auch nicht der Demokratie, gleichsetzen kann, so wenig lässt sich übersehen, dass katholische Christen als demokratisch sozialisierte Staatsbürger auch in ihrer Kirche Partizipation und Mitsprache bei anstehenden Entscheidungen erwarten, die sie alle angehen.1 Die Internationale Theologenkommission verweist in ihrem aktuellen Papier zum "sensus fidei" aller Gläubigen auf das kirchenrechtliche Axiom "Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet".2 Mit Hermann-Josef Pottmeyer geht es bei diesen kirchlichen Prozessen der Beteiligung nicht einfach darum, den Willen der Mehrheit durchzusetzen, sondern um das gemeinsame Bemühen, "dem Willen Gottes Raum zu geben, dessen Geist nicht nur den Hirten gegeben ist".3

Von dieser offenkundigen Spannung zeugt eine Antwort des Kölner Erzbischofs Rainer Maria Woelki auf die Frage zum Umgang mit und der Einbeziehung von Gläubigen bei wichtigen Entscheidungen in der Kirche. Er sagt: "Indem man zunächst einmal offen aufeinander zugeht, den jeweils anderen respektvoll anhört und ihn in seinen Überzeugungen wahrnimmt. Jeder soll sagen dürfen, was ihn bewegt und welche Sorgen er sich um den Glauben macht. Wenn wir dann um unsere Positionen ringen, muss um der Wahrhaftigkeit willen gesagt werden, dass die Kirche keine parlamentarische Demokratie ist, wo Abstimmungsmehrheiten den Kurs festlegen. Es gibt Dinge, die nicht verhandelbar sind. Der Kirche sind ihre Voraussetzungen vorgegeben, sodass ein Dialog auch Grenzen hat."4

Prägnant gefasst, wird der Dialog mit den Gläubigen über diese Fragen bejaht, aber demokratisch ermittelte Mehrheitsscheidungen in Wahrheitsfragen durch Gläubige werden ausgeschlossen. Jene Öffnung gegenüber dem Dialog unter gleichzeitiger Ablehnung demokratischer Strukturen wird in einem Artikel der "Zeit" anlässlich der Einrichtung des "K9-Gremiums" durch Papst Franziskus analysiert. Der Autor kommt zu folgendem Schluss: "Das Demokratiedefizit lebt in den Genen der katholischen Kirche."5 Die öffentliche Wahrnehmung vom Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur Demokratie hat ihr Urteil gefällt: Die "Kirche" ist unfähig, demokratische Grundwerte in demokratisch legitimierten Entscheidungsprozessen umzusetzen.

Doch ist diesen Kritikern der katholischen Kirche selber klar, was demokratische Grundwerte und demokratische Entscheidungsprozesse sind? Fragt man die säkulare Öffentlichkeit wie auch Wissenschaftler nach einer Definition "demokratischer Grundwerte", gibt es keine eindeutige Antwort. Die Optionen sind vielfältig wie die Gleichheit aller vor und im Gesetz, die Wahl der Regierung durch die Masse (den demos), eine begrenzte und periodisch wechselnde Ämterstruktur, die Umsetzung und Verteidigung der Menschenrechte und an vorderster Stelle das Postulat, das Volk sei der Souverän.

Im Folgenden sollen nicht diese einzelnen Elemente bezüglich ihrer Kompatibilität mit der römisch-katholischen Kirche untersucht, sondern die Auswirkungen dieser Prinzipien auf das Verhältnis von Demokratie und Wahrheit in den Fokus gerückt werden. Kardinal Woelki zufolge gibt es Dinge in der Kirche, die nicht verhandelbar sind, die geoffenbarten Wahrheiten. Es ist die Frage zu stellen, ob dieses Faktum Demokratie in der Kirche apriorisch ausschliesst. Johannes Neumann stellt bezüglich der staatlichen Ordnung folgende These auf: "Freiheitliche Demokratie benötigt unter den bei uns gegebenen Umständen keine allgemeine Wahrheit als Zielvorstellung ihres politischen Handelns (…)."6 Ähnlich postuliert Jürgen Habermas: "In der Demokratie geht es nicht darum, die ‹objektive Wahrheit› politischer Zielsetzungen zu ermitteln. Es kommt vielmehr darauf an, Bedingungen für die demokratische Akzeptanz derjenigen Zwecke herzustellen, die die Parteien verfolgen."7

Die demokratische Akzeptanz für die Zwecke der Parteien ist nichts anderes, als die Mehrheit der Beherrschten zu überzeugen. Jedoch gilt die Mehrheitsmeinung nur so lange, wie die Minderheit die Mehrheit nicht von ihrer Meinung überzeugen konnte.8 Neben diesem "Relativismus" der Mehrheitsmeinung tritt ein allgemeiner Skeptizismus gegenüber den Fähigkeiten der Mehrheit bezüglich transzendenter Aspekte: "Die Mehrheit kann ebenso wenig bestimmen, was gut und werthaft ist, wie sie Schlechtes nicht für gut und umgekehrt Gutes nicht für schlecht erklären kann."9

Dem bisherigen Befund zufolge scheinen Demokratie und Wahrheit unvereinbar und daraus resultierend die römisch-katholische Kirche als alleinige Bewahrerin des ihr geoffenbarten und rechtlich (ius divinum) anvertrauten Glaubens (depositum fidei) als dem Fundament ihrer Identität aus ihrem Wesen heraus demokratieinkompatibel.10

Herrschaft und Entscheidungsprozesse

Die Debatte über eine notwendige Demokratisierung der Kirche hat ihren Kern in der Frage nach einer geeigneten Herrschaftsform für eine Glaubensgemeinschaft, für die der Grundsatz "christianus idem est cives" gilt. Ein weiterer Grundsatz muss als Prämisse für jedwede Debatte über eine "Demokratisierung der Kirche" gelten, dass man sich niemals damit begnügen kann, "gesellschaftliche Demokratievorstellungen, verfassungsmässige Demokratieforderungen und politische Demokratiemodelle (deren es zahlreiche gibt) einfach zu übernehmen".11 Vielmehr müssen eigene "demokratische" Modelle anhand der zugrundeliegenden Ausgangslage entwickelt werden. Als Basis eines solchen Versuchs werden im Folgenden die Kategorien der Herrschaft und der durch diese beeinflussten Entscheidungsfindung gewählt. Diese Begriffe ermöglichen eine soziologische und kommunikative Analyse der Strukturen der römisch-katholischen Kirche und vermeiden die unreflektierte Übertragung konstruierter "demokratischer Grundwerte", die spezifische empirisch auffindbare Ausformungen theoretischer Demokratiemodelle sind.

Herrschaft definiert Max Weber folgendermassen: "Herrschaft soll heissen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden."12 Weber denkt Herrschaft als soziologischen Begriff und grenzt ihn damit von seiner Definition des Begriffs "Macht"13 ab. Teilweise wird Webers Machtbegriff als die Grundlage für seine Auffassung von Herrschaft angesehen.14 Dieser These ist zu widersprechen, da eine zwanghafte Oktroyierung von nicht eigenen Interessen und der Gehorsam gegenüber "Befehlen" aufgrund eines Legitimitätsglaubens streng voneinander zu trennen und keineswegs zwei Seiten einer Medaille sind.

a) Die Herrschaftssoziologie Max Webers

Die Herrschaftssoziologie Webers leistet einen u. E. neuen und damit weiterführenden Beitrag in der allgemeinen Diskussion um Demokratie als Wert und damit auch für die Debatte über eine "Demokratisierung der Kirche", da nicht nach der klassischen Methode Platons der Zahl der Herrschenden,15 sondern dem Grund der Legitimität der Herrschaft nach differenziert wird. Infolgedessen entfällt die Frage nach dem Souverän, und es rückt die Funktionsweise der Herrschaft in den Fokus. Eine Demokratie ist nicht allein aufgrund der Tatsache, dass das Volk der Souverän ist, auch legitim. Dies wäre ein Zirkelschluss.

Nach Weber begnügt sich keine Herrschaft freiwillig damit, nur in materiellen oder affektuellen oder wertrationalen Motiven eine Chance ihres Fortbestandes zu sehen. Vielmehr suche jede, den Glauben an ihre Legitimität zu erwecken.16 Es werden nach diesem Merkmal drei reine Typen17 legitimer Herrschaft unterschieden: die rationale (legale) Herrschaft, die traditionale Herrschaft und die charismatische Herrschaft.18

Für den Kontext der Frage vom Verhältnis von Demokratie und Wahrheit und Demokratie und Kirche ist der dritte Typ der charismatischen Herrschaft von besonderem Interesse. Auch wenn es unverrückbare, im "ius divinum" verankerte Strukturelemente in der Verfassung der Kirche gibt (legaler Typ) und die Tradition der Kirche auch Offenbarungsquelle ist (traditionaler Typ), ist u. E. die charismatische Herrschaft das Grundprinzip in der römisch-katholischen Kirche. Webers Definition des Charismas lautet: "Charisma soll eine ausseralltäglich (…) geltende Qualität einer Person heissen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch ausseralltäglichen, nicht jedem anderen zugänglichen Kräften oder Eigenschaften [begabt; T. S; T. N.] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als ‹Führer› gewertet wird."19

Bezüglich des Charismas gilt nicht eine objektive Wertung der Legitimität, sondern die Wertung bzw. Bewährung des Charismas in der Gruppe der beherrschten Anhänger. Jedoch gilt deshalb nicht, dass der Herrscher nur so lange als legitim gilt, wie seine Anhänger ihm "glauben", sondern der Legitimitätsgrund ist die Pflicht der zur Anerkennung des Charismas Aufgerufenen.20 Der charismatische Herrscher – im Fall der Christenheit Jesus Christus – erfreut sich eines genuinen Charismas, welches jedoch meist nach einer bis drei Generationen "veralltäglicht " wird. Die Herrschaft geht über den "status nascendi" hinaus und wird legalisiert oder traditionalisiert.21 Motive für diesen Prozess können zum einen das Interesse der Anhängerschaft auf Fortbestand sein, zum anderen aber auch das Interesse des "Verwaltungsstabs", die eigene Existenz auf eine ideelle und materielle Alltagsgrundlage zu stellen.22 Weber postuliert jedoch, dass eine zunehmende Rationalisierung (Legalisierung) der Beziehungen im Herrschaftsverband eine herrschaftsfremde Umdeutung des Legitimitätsgedankens zu bewirken vermag, so dass der Herrscher nurmehr Herrscher von des Beherrschten Gnade sei.23 Diese Entwicklung wird von ihm weder als notwendig angesehen noch einer Wertung unterzogen. Nimmt man jedoch das Ausseralltägliche als entscheidendes Wesensmerkmal der charismatischen Herrschaft an, so kann eine Rationalisierung eine Gefährdung des Charismas bedeuten. Die Rationalisierung kann in die Richtung der Interessen der Anhängerschaft wie der des Verwaltungsstabs zu stark ausschlagen, sodass das Ziel der Herrschaft droht, verzerrt zu werden. Bemerkenswerterweise trifft Weber keine Aussage über ein Ziel der Herrschaft, sondern nur über den durch Legitimitätsglauben erzielten Gehorsam gegenüber den "Befehlen" des oder der Herrschenden. Die Motivation der Befehle wird nicht benannt, und es wäre eine unterkomplexe Schlussfolgerung, diese in der Weberschen Machtdefinition finden zu wollen, denn es ist nicht zwingend, den Anhänger innerhalb einer charismatischen Herrschaft als Untertanen zu begreifen. Vielmehr dürfte er als Genosse des oder der Herrschenden verstanden werden. Kurzum dient der Herrschende den Beherrschten. Dieser Typ charismatischer Herrschaft ermöglicht die Verortung der Wahrheit als transzendente und damit unverfügbare Grösse innerhalb einer sozialen Gruppe wie der römisch-katholischen Kirche. Eine Aussage bezüglich der Entscheidungsfindungsprozesse ist damit jedoch noch nicht getroffen worden.

b) Wahrheit in Entscheidungsfindungsprozessen

Die mögliche Trennung von Entscheidungsfindungsprozessen und der Frage nach dem Souverän in einem Herrschaftsverband soll hier als Axiom gelten. Die Grundlage dieser Annahme ist Webers These, Kollegialität sei nicht etwas spezifisch Demokratisches.24 Die "Temperierung" einer monokratischen Herrschaft durch kollegiale Organe muss nicht zwingend im Interesse des Volkes sein, sondern kann auch Vorteile für die Interessen einer Aristokratie haben.25 Im Zentrum dieser Überlegungen steht die Bindung des Herrschers an einen Entscheidungsfindungsprozess, womit jedoch nicht demokratische Parlamente gemeint sind, da diese selbst die Entscheidung treffen. Vielmehr ist eine quantitativ höhere Partizipation der Mitglieder des Verbandes am Entscheidungsfindungsprozess beabsichtigt. Hinzu tritt eine qualitative Steigerung des Prozesses, was auf die Theorie der deliberativen Demokratie Habermas’ hinausläuft. Deliberativ meint eine argumentativ abwägende, verständigungsorientierte Beratschlagung,26 die nach Habermas eine höhere Legitimität als "blosse" Wahlen oder Plebiszite hat, da eine höhere Bildung und damit Erziehung des Bürgers wegen des argumentativen Austausches geschieht.27

Seine "Demokratietheorie" ist von einer kollektiv handlungsfähigen Gruppe unabhängig. Entscheidend für die Funktion der deliberativen Demokratie ist die "Institutionalisierung entsprechender Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen, sowie (vom) [das; T. S; T. N.] Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen mit informell gebildeten öffentlichen Meinungen".28

Unter diesen Voraussetzungen ist es möglich, die Subjekte "Staat" und "Volk" aufzuheben, da durch den Diskurs eine anonyme Kommunikationsmacht erzeugt wird, die dazu in der Lage ist, die administrative Macht zu lenken.29 Folglich ist die Frage nach dem Souverän wieder irrelevant und die Frage nach der Legitimität der Herrschaft, hier konkreter die durch den Entscheidungsfindungsprozess erzeugte Legitimität, in den Fokus gerückt, die auf den Legitimitätsglauben der "Beherrschten" einwirkt. Für ein solches institutionalisiertes Verfahren werden fünf Merkmale vorgeschlagen:

  1. die Inklusion aller Betroffenen
  2. gleich verteilte und wirksame Chancen der Teilnahme am (politischen) Prozess
  3. gleiches Stimmrecht bei Entscheidungen
  4. das Recht aller zur Wahl der Themen und überhaupt zur Kontrolle der Tagesordnung
  5. eine Situation von der Art, dass alle Beteiligten im Lichte hinreichender Informationen und guter Gründe ein artikulierteres Verständnis der regelungsbedürftigen Materien und der strittigen Interessen ausbilden können, prägnant formuliert "herrschaftsfreie Kommunikation".30

 

Die allgemeine Kritik an der deliberativen Demokratie richtet sich gegen den zu hohen Anspruch an die angestrebten Verfahren und die fehlende Zeitökonomie.31 Mag diese Kritik vielleicht den Pragmatiker im Staat überzeugen, verliert diese Kritik im Kontext einer Religionsgemeinschaft doch eindeutig an Schärfe. Geht es doch in der römisch-katholischen Kirche nicht um Pragmatismus, sondern um das Heil der Seelen32 und die Fruchtbarmachung der Wahrheit für die Anwendung durch u. a. die "administrative Macht". Demzufolge wäre die Einführung parlamentarischer Elemente in der Kirche nicht notwendig, sondern die Umsetzung deliberativer Verfahren, die weder die Bischöfe als charismatische Herrscher noch den Klerus als Verwaltungsstab in ihrer Funktion in Frage stellen würden, noch einen Relativismus der Wahrheiten zu Folge hätten, sondern die quantitative und qualitative Steigerung der Partizipation aller Gläubigen an den Entscheidungsfindungsprozessen vorrangig auf der Ebene der "administrativen Macht".

Demokratie konkret

Deliberativ gestaltetes Kirchenrecht hat die Aufgabe, eine geordnete Mitwirkung zu ermöglichen, die substanziell den "sensus fidei" der Gläubigen auch wirklich rechtzeitig in die kirchlichen Beratungs- und Entscheidungsprozesse einbindet. Der "sensus fidei" ist nicht nur auf theologische Wahrheiten anzuwenden. Partizipation darf kirchenrechtlich kein Gnadenerweis der zuständigen kirchlichen Hierarchie (Autorität) sein, wenn es ihr passend und für die Aussendarstellung opportun erscheinen mag. Nein, es geht um einen Rechtsanspruch gemäss der deliberativen Demokratie auf Beteiligung in Formen der Beratung, der Anhörung, aber auch der Entscheidung. Das geltende Kirchenrecht bietet eine Reihe von Ansatzpunkten, um diese Beteiligung aller Gläubigen zu realisieren. Dabei ist ein Blick auf ein Wiederaufblühen synodaler Prozesse in der Kirche lohnend. Vor allem die Aufwertung der Bischofssynode ist Papst Franziskus ein Anliegen.33 Aber auch die Tatsache, dass mit Bischof Stephan Ackermann von Trier nach langer Zeit in Deutschland ein Diözesanbischof aktuell eine Diözesansynode34 durchführt, kann als Zeichen gedeutet werden, dass nach langer Stagnation der rechtlich verbindlichen Einbindung von Gläubigen wieder ein höherer Stellenwert zugewiesen wird. Für Deutschland mehren sich im laufenden Dialogprozess der Deutschen Bischofskonferenz, der nach dem Missbrauchsskandal 2010 pilotiert bis 2015 ins Leben gerufen wurde, die Stimmen, ein Partikularkonzil nach dem Vorbild der sog. Würzburger Synode35 durchzuführen. Gründe genug, synodale Prozesse exemplarisch anhand der Bischofssynode aus kirchenrechtlicher Perspektive unter Anwendung der Kriteriologie Webers und Habermas’ zu analysieren.

Zunächst zur Rechtslage: Bischofssynoden36 sind zentrale Elemente auf universalkirchlicher Ebene, mit denen der Papst mit seinen Mitbrüdern im Bischofsamt in unterschiedlichen Zusammensetzungen die Universalkirche betreff ende Sachverhalte berät. Doch was bedeutet das für die kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen der Bischofssynode? Gemäss c. 344 CIC/1983 untersteht die Bischofssynode direkt der Autorität des Papstes. Ihm allein kommt zu, sie gemäss Opportunität einzuberufen (1°), die Bestätigung der gewählten und die Ernennung weiterer Mitglieder (2°), die Festlegung des Themas (3°), die Festlegung der Tagesordnung (4°), der Vorsitz (5°), und die Synode zu schliessen, zu verlegen, zu unterbrechen oder aufzulösen (6°).

Vor dem Hintergrund der Vergleichsfolie der Forderungen Habermas’ an ein institutionalisiertes deliberatives Verfahren fällt die Analyse der Bischofssynode deutlich negativ aus. Bezüglich der Inklusion aller Betroffenen sprechen das Bestätigungsrecht des Papstes37 sowie sein Ernennungsrecht38 und die geborene Mitgliedschaft der Vorsteher der Dikasterien39 gegen ein deliberatives Modell. Die gleich verteilte und wirksame Chance der Teilnahme am Prozess wird durch die Festlegung der Verhandlungssprache Latein40 beeinträchtigt. Ein gleiches Stimmrecht ist zwar vorgesehen, aber nur in beratender Form. Weder die Themen noch die Tagesordnung kann von allen Betroffenen beeinflusst werden.

Heilsame Irritationen löste die auf freie Aussprache ohne Denkverbote ausgerichtete Aufforderung von Papst Franziskus bei der ersten von zwei Bischofssynoden zu Ehe und Familie unter den miteinander zum Teil kontrovers diskutierenden Bischöfen aus. Jene freie Aussprache auf einer Bischofssynode und die Diskussion in Sprachgruppen sind jedoch keine Neuerungen Papst Franziskus’, sondern wurden bereits durch seinen Vorgänger Papst Benedikt XVI. in der Revision des "Ordo Synodi Episcoporum" von 2006 in Art. 34 § 441 eingeführt und auf der Bischofssynode zur Neuevangelisierung unter Papst Benedikt XVI. praktiziert. Letztendlich ist die Öffnung der Gesprächskultur ein Schritt zur herrschaftsfreien Kommunikation, jedoch ist dabei die Wirkung des Jurisdiktionsprimats als Damoklesschwert über den Synodenvätern nicht zu unterschätzen.

Die höchste Gewalt in der Kirche hat neben dem Papst auch das Bischofskollegium im Verbund mit seinem Haupt. Die feierliche Form der Ausübung dieser Höchstgewalt ist das Ökumenische Konzil.42 Im Hinblick auf das Konzil ist auf Zukunft angesichts einer Zahl von über 6000 Bischöfen weltweit ein Ökumenisches Konzil als mit Entscheidungsgewalt ausgestattetes bischöfliches Kollegialorgan wohl kaum arbeitsfähig und kirchenpolitisch nicht wahrscheinlich. Unter Anwendung der Parameter der charismatischen Herrschaft nach Weber könnte eine Aufwertung der Bischofssynode eine echte Alternative zum Konzil sein. Momentan liegt es allein im Ermessen des Papstes, ob er gemäss c. 343 CIC in bestimmten Fällen der Bischofssynode Entscheidungsgewalt überträgt. Wenn es Papst Franziskus tatsächlich ernst meint mit seiner Aussage, er wolle mit dem Instrument der Bischofssynode die mitbrüderliche Kollegialität und Kompetenz bei Themen, die die ganze Weltkirche betreff en, stärken, müsste er der Bischofssynode nicht nur eine offenere Diskussionskultur, sondern grundsätzliche Entscheidungskompetenz zuweisen. Noch mehr: Er müsste die Natur der Bischofssynode als Organ des Papstes verändern und sie als Organ des Bischofskollegiums in Verbund mit dem Papst einrichten, um die angestrebte kanonisch sakramental-theologische Kollegialität43 wirken lassen zu können. Dies hätte ein Initiativrecht der Vertreter der Bischofssynode zur Folge, eigene Themen in die Bischofssynode einzuspeisen und zu beraten. Weiterhin wäre es sinnvoll, die Bischofssynode alle drei Jahre regelmässig abzuhalten und nicht dem Papst und seiner Kurie es zu überlassen, ob und wann und zu welchem Thema eine Bischofssynode einzuberufen ist. Was die Zusammensetzung der Bischofssynode angeht, wären die bisher vorgesehenen Vertreter der klerikalen Ordensinstitute (c. 346 §§ 1–2 CIC) als Gäste, nicht mehr aber als stimmberechtigte Mitglieder einzuladen, da sie den bischöflich-kollegialen Charakter – mit Weber gesprochen nicht dem Kreis der Charismaträger angehörend – der Bischofssynode durchbrechen. Zudem sollte die Zahl der vom Papst berufenen Mitglieder,44 vor allem aus der Römischen Kurie, signifikant begrenzt, dafür aber die Zahl der von den Bischofskonferenzen gewählten Vertreter deutlich erhöht werden, um mehr den die gesamte Weltkirche repräsentierenden Charakter der Bischofssynode zu unterstreichen. Sollte der Papst eine mit entsprechender Zweidrittel-Mehrheit beschlossene Entscheidung der Bischofssynode kraft seines Amtes nicht in Kraft setzen wollen, so wäre er zu verpflichten, seine Entscheidung nachvollziehbar zu begründen, damit diese Entscheidung weiterhin den kollegialen Charakter beibehält und nicht zu einem primatialen Akt wird. Mit diesen Eingriffen in den derzeitigen kirchenrechtlichen Normbestand zur Bischofssynode im CIC bekäme die Bischofssynode verfassungsrechtlich das Gewicht nicht nur eines administrativen Herrschaftsorgans, sondern eines charismatischen Kollegiums mit der Befugnis, die Wahrheit zu erkennen. Diese Charakterisierung würde den im letzten Jahr vor Augen geführten Themen der Lehre der Kirche über Ehe und Familie auf der Bischofssynode entsprechen. Es wäre näher noch ekklesiologisch und davon abgeleitet verfassungsrechtlich zu bedenken, welche Auswirkungen dies realpolitisch auf die bisher starke Stellung des Kardinalskollegiums und der Römischen Kurie haben würde. Im Konzert der den Papst bei seinem Dienstamt für die Universalkirche stützenden Organe träte mit der Aufwertung der Bischofssynode sicherlich eine markante Verschiebung der Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung des päpstlichen Dienstes für die Kirche ein. Die Kurie würde ihrer Natur als Verwaltungsstab vergewissert, und ein vom Bischofskollegium unterschiedenes kanonisch-sakramentaltheologisches Kollegium der Kardinäle wäre als Widerspruch zur Aufwertung des Bischofskollegiums enttarnt.

Am Beispiel der Bischofssynode ist klar geworden, dass erstens eine deliberative Gestaltung der Entscheidungsprozesse nach Habermas bezüglich der Lehre bzw. Wahrheitserkenntnis wie auch der administrativen Ebene den Legitimitätsglauben innerhalb der sozialen Gruppe der römisch-katholischen Kirche stärken und dem "Herrschaftsziel" der "salus animarum" zuträglich sein kann. Zweitens ergab die Analyse des Normbestands die Vergewisserung bezüglich der Identität der Charismaträger und ihren Betätigungsformen nach Weber. Die Charismaträger bzw. der Verwaltungsstab sind die Bischöfe, denen dieser Stellung entsprechend angemessene Ausdrucksformen zuzuschreiben sind. Die Merkmale einer charismatischen Herrschaft würden verkehrt, wenn den durch Charisma Befähigten nur administrative oder beratende Kompetenzen zugesprochen würden. Letztendlich ist in einem Ausblick auf die Gläubigen zu verweisen, die entsprechend der Lehre vom "sensus fidei" ebenfalls in einer gewissen Form Charismaträger, aber gewiss nicht Verwaltungsstab sind und dementsprechend an den Entscheidungsprozessen, beginnend von der Pfarrei über das Bistum bis hin zur Universalkirche, in deliberativer Form beteiligt werden müssten.

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* Dieser Beitrag ist eine stark gekürzte Fassung eines Vortrags auf dem interdisziplinären Engelberger Seminar 2014 der katholisch-theologischen Fakultäten der Universitäten Luzern und Münster, der juristischen Fakultät und der reformiert-theologischen Fakultät der Universität Basel, welches dem Thema "Demokratie und Wahrheit" gewidmet war. Die vollständige Fassung wird in der Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Heft 3, 2015, abgedruckt.

1 Vgl. Judith Hahn: "Gesetz der Wahrheit". Rechtstheoretische Überlegungen im Anschluss an aktuelle päpstliche Äusserungen zur Rechtsbegründung, in: AkathKR 181 (2012), 106–128, hier 122: "Weil staatliches Recht – gesellschaftliche Rechtskultur, demokratische Gesetzgebungsverfahren, rechtsstaatliche Rechtsprechung – die primären Referenzgrössen unseres Rechtserlebens darstellen, ist unser juristischer Denkhorizont und Argumentationshaushalt staatlichrechtlich bestückt."

2 Vgl. Internationale Theologenkommission: "Sensus fidei im Leben der Kirche" (http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/cti_documents/rc_cti_20140610_sensusfidei_en.html   [eingesehen am: 15.10.2014]), Nr. 122.

3 Hermann-Josef Pottmeyer: Die Mitsprache der Gläubigen in Glaubenssachen, in: IKZ Communio 25 (1996), 134–147, hier 139.

4 Die katholische Kirche ist keine Demokratie, Welt online vom 20. August 2011 (http://www.welt.de/politik/deutschland/article13554783/Die-katholische-Kirche-ist-keine-Demokratie.html [eingesehen am: 4.09.2014]).

5 Demokratiedefizit wurzelt tief in der katholischen Kirche, in: "Zeit" vom 15. April 2013 (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-04/demokratiedefizit-papstfranziskusvatikan [eingesehen am: 4.09.2014]).

6 Johannes Neumann: Demokratie und Normativität. Gegen die Tyrannei der Werte, in: Klaus Hartmann (Hrsg.): Die Demokratie im Spektrum der Wissenschaften. Freiburg i. Br.-München 1980, 43–107, hier 70.

7 Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a. M. 1992, 357.

8 Vgl. ebd., 371.

9 Neumann, Demokratie und Normativität (wie Anm. 6), 68.

10 Vgl. Internationale Theologenkommission, Sensus fidei (wie Anm. 2), Nr. 114: "The Church appreciates the high human and moral values espoused by democracy, but she herself is not structured according to the principles of a secular political society."

11 Johannes Neumann: Thesen zur "Demokratisierung der Kirche", in: ThpQ 120 (1972), 34–38, hier 34.

12 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 52002, 28.

13 Die Webersche Definition von Macht lautet: "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht" (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft [wie Anm. 12], 28); ähnlich definiert Habermas Macht "als die Fähigkeit, andere Individuen oder Gruppen daran zu hindern, ihre Interessen wahrzunehmen (…) eine Seite kann der anderen Seite ihr Interesse aufzwingen" (Peter Hünermann: Macht und Wahrheit. Vorbemerkungen zu einer Theologieder Macht, in: Wilhelm Weber [Hrsg.]: Macht – Dienst – Herrschaft in Kirche und Gesellschaft, Freiburg i. Br.-Basel-Wien 1974, 9–20, hier 10).

14 Vgl. ebd.

15 Vgl. Platon, Politeia VIII, 555a–557e.

16 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 12), 122.

17 "Reine Typen" bedeutet: ein Weberscher Idealtyp, also eine theoretische Abstraktion, die nicht "rein" empirisch vorzufinden ist.

18 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 12), 124.

19 Ebd., 140.

20 Vgl. ebd.

21 Vgl. ebd., 143.

22 Vgl. ebd.

23 Vgl. Manfred G. Schmid: Demokratietheorien. Eine Einführung. Wiesbaden 52010, 174.

24 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 12), 162.

25 Vgl. ebd.

26 Vgl. Schmid, Demokratietheorien (wie Anm. 23), 237.

27 Vgl. ebd., 242.

28 Habermas, Faktizität und Geltung (wie Anm. 7), 362.

29 Vgl. ebd., 365.

30 Vgl. ebd., 383.

31 Vgl. Schmid, Demokratietheorien (wie Anm. 23), 252 f.

32 Vgl. c. 1752 CIC; dazu: Thomas Schüller: Die Barmherzigkeit als Prinzip der Rechtsapplikation in der Kirche im Dienste der salus animarum. Würzburg 1993.

33 Vgl. Thomas Schüller: Stärkung der Bischofssynode – Wiederentdeckung einer Konzilshoffnung unter Papst Franziskus?, in: Thomas Schüller / Martin Zumbült (Hrsg.): Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Festschrift für Klaus Lüdicke zum 70. Geburtstag. Essen 2014, 331–349.

34 Vgl. Bischof von Trier: Statut der Diözesansynode im Bistum Trier, in: KABl TR 157 (2013), 171–179.

35 Kritisch gegenüber der Zukunftsfähigkeit des "Würzburger Modells" äussert sich: Heribert Hallermann: Eine neue "Gemeinsame Synode"? Rechtliche Möglichkeiten und Grenzen, in: KuR 20 (2014), 127–144, ebenso kritisch: Thomas Schüller: Grenzen und Möglichkeiten einer "Gemeinsamen Synode" nach dem CIC von 1983, in: Hirschberg 68 (2015), 109–115.

36 Vgl. cc. 342–348 CIC.

37 Vgl. c. 344, 2°.

38 Vgl. Ordo Synodi Episcoporum vom 29. September 2006, in: AAS 98 (2006), 755–779, Art 5 § 4

39 Vgl. ebd., Art 5 § 1 Nr. 2.

40 Vgl. ebd., Art. 21.

41 Vgl. ebd.

42 c. 337 § 1 CIC.

43 Das Begriffspaar der kanonisch-sakramentaltheologischen (LG 22, NEP 1 und 4) und der kanonischjuridischen Kollegialität (c. 115 § 2 CIC) prägte Heribert Schmitz im Rahmen der Debatte, ob den Bischofskonferenzen Kollegialität zukomme. Vgl. Heribert Schmitz: Bischofskonferenz und Partikularkonzil. Rechtsinstitutionen unterschiedlicher Natur, Struktur und Funktion, in: Hubert Müller / Hermann- Josef Pottmeyer (Hrsg.): Die Bischofskonferenz. Theologischer und juridischer Status. Düsseldorf 1989, 178–195; hier 192.

44 Gemäss Art. 5 § 4 Ordo Synodi Episcoporum (wie Anm. 38) maximal 15 Prozent der Gesamtzahl der Mitglieder.

 

Thomas Schüller / Thomas Neumann

Prof. Dr. Thomas Schüller ist Direktor und Lic. iur. can. Thomas Neumann wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kanonistischen Instituts der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.